Der Freiheitskampf der sudanesischen Revolutionär*innen  4 min Fünf Jahre und noch kein Ende in Sicht

Amna Bihiry führt am 30. September 2021 einen Protest in Khartum an und zeigt das Foto ihres Sohnes Kisha Abdelsalam.
Amna Bihiry führt am 30. September 2021 einen Protest in Khartum an und zeigt das Foto ihres Sohnes Kisha Abdelsalam, der während des Massakers vom 3. Juni 2019 getötet wurde. Foto (Detail): © Wadah Omer

Die Menschen im Sudan setzen ihren Freiheitskampf nach der Revolution von 2018 im fünften Jahr in Folge fort. Wini Omer hat mit Revolutionär*innen in Khartum über deren Hoffnungen und Beweggründe gesprochen, weiter auf die Straße zu gehen.

„Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit – die Menschen haben sich für die Revolution entschieden.“ Dieser Slogan war und ist auch im fünften Jahr der sudanesischen Revolution noch immer zu hören. Die Revolution, die im Dezember 2018 als Reaktion auf die wirtschaftliche Not und die Unterdrückung durch das seit 30 Jahren herrschende islamistische Regime begann, hat ihre zweite Welle erreicht, in der die Aktivist*innen einen wirklichen und radikalen Wandel fordern. Selbst nach dem Militärputsch im Oktober 2021 und dem äußerst brutalen Vorgehen gegen die Protestierenden sind die mutigen Rufe der Demonstrierenden in den Straßen nicht verstummt. Welche Bedeutung hat Freiheit als politische Forderung? Wie lassen die Protestierenden dieses Konzept in ihren täglichen Kampf für Veränderungen einfließen? Diese Fragen möchte ich gemeinsamen mit Revolutionär*innen auf den Straßen von Khartoum in diesem Beitrag erörtern.

Ein neuer Freiheitsbegriff

Widerstandskomitees im gesamten Land haben die Proteste sowohl gegen das Al-Baschir-Regime als auch gegen den letzten Militärputsch angeführt. An vorderster Front engagieren sich gut organisierte Gruppen von Jugendlichen auf dezentraler Ebene dafür, Unterstützung für ihren Kampf zu gewinnen, Freiwilligendienste in ihren Wohnvierteln zu organisieren und alternative Zukunftsvisionen für ihr Land und dessen politische Landschaft zu entwickeln. Nach Meinung eines der Mitstreiter der Widerstandskomitees, Mohamed Abdelraheem, befindet sich die Freiheit als Konzept und als Praxis im täglichen Wandel und lässt sich ausgehend von den gesellschaftlichen und politischen Interessen der Menschen auf vielfältige Weise definieren.

Nach dem Sturz von Al-Baschir hätten sich die bisher eher grundsätzlichen Vorstellungen der revolutionären Kräfte von einem politischen Wandel und damit auch ihr Freiheitsbegriff konkretisiert. Trotz einer offenbar subjektiven Prägung des Begriffs seien unmittelbar nach Unterzeichnung der Einigung zwischen dem Militär und der zivilen Regierung am 17. August 2019 große Fragen in den Vordergrund gerückt und hätten an Dringlichkeit gewonnen. „Die wirtschaftspolitischen Strategien der Übergangsregierung und die Haltung gegenüber der Partnerschaft zwischen militärischen und zivilen Kräften und die Auswirkungen dieser Partnerschaft warfen neue Fragen auf. Was bedeutet Freiheit? Und wessen Freiheit wird eigentlich mit einer solchen Sparpolitik durchgesetzt? Wer wird durch die Einigung befreit und wer gerät in Sklaverei? Welche Gruppen werden zur Armut verdammt und welche Gruppen kommen in den Genuss von Wachstum und Wohlstand?“, fragt Mohamed.

Diese Fragen zu sozialer Gerechtigkeit und Ungleichheiten hätten sich direkt im Anschluss an die Bekanntmachung der sozial- und wirtschaftspolitischen Pläne der Übergangsregierung gestellt. „Der Begriff der Freiheit ist sehr weit gefasst und kann daher in die Irre führen. Viele Menschen wurden durch den staatlichen Militär- und Propagandaapparat unterdrückt, weil sie keine Fachleute und keine Technokraten waren, die sich zu ihrer wirtschaftlichen Lebenssituation hätten äußern können“, sagt Mohammed in Übereinstimmung mit vielen anderen Aktivist*innen.

Die einfachen Menschen seien zum Schweigen gebracht worden, um die wirtschaftspolitischen Visionen der Technokraten und der gut ausgebildeten Staatsbediensteten durchzusetzen. Man habe die Bürger*innen mit zahlreichen sozialen und wirtschaftlichen Forderungen allein gelassen, auf die weder die Übergangsregierung noch später die Putschisten eingegangen seien. Und deshalb habe sich im Vergleich zum Al-Baschir-Regime nichts geändert. Die Menschen im Sudan hätten weder die Wahl gehabt, noch hätten sie als freie Bürger*innen agieren können.
  • Pro-demokratische Proteste gegen den Militärputsch in Khartum am 6. Januar 2022. Foto (Detail): © Wadah Omer
    Pro-demokratische Proteste gegen den Militärputsch in Khartum am 6. Januar 2022.
  • 13. Januar 2022: Proteste gegen den Militärputsch, Khartum. Foto (Detail): © Wadah Omer
    13. Januar 2022: Proteste gegen den Militärputsch, Khartum.
  • Barrikaden und brennende Reifen während des Protests gegen den Militärputsch am 13. Januar 2022 in Khartum. Foto (Detail): © Wadah Omer
    Barrikaden und brennende Reifen während des Protests gegen den Militärputsch am 13. Januar 2022 in Khartum.
  • Der dritte Jahrestag der Revolution am 19. Dezember 2021. Ein pro-demokratischer Protest gegen den Militärputsch in Khartum. Foto (Detail): © Wadah Omer
    Der dritte Jahrestag der Revolution am 19. Dezember 2021. Ein pro-demokratischer Protest gegen den Militärputsch in Khartum.
  • Frauen, die den Protest vom 19. Dezember 2021 gegen den Militärputsch in den Straßen Khartums unterstützen. Foto (Detail): © Wadah Omer
    Frauen, die den Protest vom 19. Dezember 2021 gegen den Militärputsch in den Straßen Khartums unterstützen.
  • 19. Dezember 2021: Ein pro-demokratischer Protest gegen den Militärputsch in Khartum. Foto (Detail): © Wadah Omer
    19. Dezember 2021: Ein pro-demokratischer Protest gegen den Militärputsch in Khartum.
  • Eröffnung des Hauptquartiers der Familien der Märtyrer in Khartum am 19. Dezember 2019. Foto (Detail): © Wadah Omer
    Eröffnung des Hauptquartiers der Familien der Märtyrer in Khartum am 19. Dezember 2019.
​​​​​​​Auf diesen Punkt geht Mohamed näher ein: „Heute wird Freiheit als Recht auf Leben betrachtet. Als Recht auf Bildung, Gesundheit und grundlegende Dienste, als Recht auf politische, gewerkschaftliche und gesellschaftliche Organisation. Als Recht darauf, unsere lokalen Ressourcen zu verwalten und ihre Verteilung zu kontrollieren und die organisierte Ausbeutung dieser Ressourcen durch die Milizen und das Militär zu unterbinden.“ Für Mohamed ist Freiheit gleichbedeutend mit dem Recht der Menschen im Sudan, über ihr eigenes Land zu herrschen. Diese Freiheit gehe auf einen politischen Slogan zurück und komme heute in den jüngsten Protestrufen der Revolutionär*innen zum Ausdruck: „Gesundheit und Bildung sind frei zugänglich und die Menschen leben in Sicherheit, die Revolution ist die Revolution der Bevölkerung und die Herrschaft ist die Herrschaft der Menschen.“

Rücksicht auf die weniger Privilegierten

Für die Frauenrechtsaktivistin Rayan Mamoun steht das Recht auf Leben und Freiheit im Mittelpunkt ihrer Freiheitsforderung als Feministin. „Wenn ich mir die Realität von Frauen im Sudan anschaue, dann haben Frauen ihr Leben verloren, weil sie nicht selbst über ihre Körper bestimmen können. Außerdem wird Vergewaltigung von den Sicherheitskräften der Regierung immer wieder als Kriegswaffe und als Bestrafung für Revolutionärinnen eingesetzt, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen“, so Rayan.

Während die Forderungen und Ansichten von Frauen sowohl von den politischen Parteien als auch von der Übergangsregierung ignoriert worden seien, gebe es in der Zivilgesellschaft zwei verschiedene politische Diskurse. Einerseits sei die politische Vertretung von Frauen eines der Hauptanliegen, andererseits rücke der intersektionale Diskurs die verschiedenen Bedürfnisse und Herausforderungen von Frauen in den Blickpunkt.

Rayan interessiert sich ganz besonders für Privilegien und Machtbeziehungen. Im Sudan hätten Faktoren wie Ethnizität, Klasse, sozialer Status und politische Zugehörigkeit einen entscheidenden Einfluss auf die Lebenswege von Frauen, ihren Zugang zur Justiz und vor allem auch ihre Lebensentscheidungen. Frauen und Mädchen seien für ihren Widerstand gegen den Militärputsch terrorisiert, vergewaltigt, eingesperrt oder sogar ermordet worden, weil sie sich gegen die Unterdrückung gewehrt hätten. „Kulturelle und patriarchalische Vorstellungen, nach denen Frauen nicht einmal das Recht haben, sich gegen eine frühe Eheschließung zu entscheiden, weil sie gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen unterliegen, gleichzeitig aber auch keine Kenntnis von ihren Rechten haben – dagegen will ich etwas unternehmen“, fügt Ryan hinzu.

Seit 2018 sind sudanesische Frauen in vielen Städten im gesamten Land wiederholt auf die Straße gegangen, um gegen die Vergewaltigungen zu protestieren und Schutz und Würde einzufordern. „Dazu gehört auch das Recht auf freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Entscheidungsfreiheit. Ich muss an all jene Frauen denken, die diese Privilegien nicht haben oder Minderheiten angehören, die aufstehen und die Freiheiten einfordern sollten, die ihnen verwehrt werden. Sie müssen alles zerstören, das ihr Leben oder ihre freie Entfaltung einschränkt, denn Freiheit ist nicht nur Männern, den Reichen und den Mächtigen vorbehalten“, führt Rayan weiter aus.

In ihrem Kampf um Freiheit und Grundrechte würden Frauen auf viele Hindernisse stoßen. Doch die Revolution sei noch in vollem Gange, und Frauen gingen auch weiterhin auf die Straße, um zu protestieren und ihre Freiheit und Würde und Gleichberechtigung einzufordern.

„Es darf nicht vergessen werden, dass alle gesellschaftlichen Gruppen (Anmerkung der Redaktion: unter anderem die Unterschichten, kulturelle und religiöse Minderheiten, die Landbevölkerung), die der ideologischen Dominanz durch das Al-Baschir-Regime unterlagen, dass all diese gesellschaftlichen Gruppen die Befreiung von seinem System als künftige Voraussetzung für erfolgreiche soziale und politische Veränderungen betrachten. Und dafür bietet die Freiheit selbst das Fundament und ein neues Format“, stellt Mohamed abschließend fest.

Mit der fortschreitenden Revolution entwickelten Graswurzel-Organisationen kontinuierlich ihre Visionen von einem Staat weiter, der allen seinen Bürger*innen Freiheit garantiert und alle Missstände der Vergangenheit ausräumt. Auf diesen strategischen Schritt folge der tägliche Kampf darum, den Menschen im Land die Macht zu geben und eine ausschließlich aus Zivilist*innen gebildete Regierung einzusetzen.