Kunst
Auf den Durchbruch wartend: sechs spannende, neue Namen in der estnischen Musik
Mit der Zeit wird unsere kleine estnische Musiklandschaft immer spannender und experimenteller. Dank des pulsierenden digitalen Zeitalters können viel mehr junge Menschen mit Kreativität experimentieren als zuvor.
Mit der Zeit wird unsere kleine estnische Musiklandschaft immer spannender und experimenteller. Dank des pulsierenden digitalen Zeitalters können viel mehr junge Menschen mit Kreativität experimentieren als zuvor.
Es ist eine Situation entstanden, in der Newcomer*innen über Nacht geboren werden und die Musikproduktion von außen betrachtet einfach und für jeden zugänglich scheint. An sich ist das keine schlechte Sache, denn so schaffen es immer mehr frische Namen in den Ring zu steigen. Manchmal aber gehen sie aufgrund von viel Druck übermäßig „auf Nummer sicher“ oder schöpfen mit einem Sieb Wasser. Dennoch findet man in diesem ganzen Durcheinander ambitionierte Klangkünstler*innen, die vom Wahnsinn der Gegenwart nicht getrübt werden und mit ruhigem Rhythmus und Herz ihr Ding machen. Ich stelle hier sechs frische und herausragende heimische Künstler*innen vor, die nicht auf Quantität abzielen und die man auf jeden Fall im Auge behalten sollte.
Neon-Fir
Neon Fir ist in der Otsa-Musikschule großgeworden. | © Anna Aurelia Minev Das aus den Sprösslingen der Otsa-Musikschule bestehende Ensemble Neon Fir nimmt die Zuhörer*innen mit auf die samtigen Pfade der auf den Wellen des Soul und Indie umherwandernden Progressiven Popmusik. Mit einer faszinierenden Verschmelzung von Genres hofft die Band, die Grenzen der Popmusik zu sprengen und in Zukunft auf kosmischen Radiowellen zu erklingen. Das Ensemble umfasst Eeva Trei als Sängerin, Miina Adermann als Backgroundsängerin und am Keyboard, Kaarel Raud an der Gitarre, Paul-Gunnar Loorand am Bass und Harald Soosalu am Schlagzeug. Zum Spaß begann die Band 2019 Popmusik zu machen und arbeitet derzeit hart an ihrem ersten Album. Die Band hat drei vielversprechende Singles veröffentlicht, darunter „Allure“, die im Mai dieses Jahres erschien. Jetzt gilt es nur noch Augen und Ohren offen zu halten und auf die LP der Band zu warten.
Kelly Vask
Kelly Vask ist eine mit einer honigsüßen Stimme versehene Sängerin und Songwriterin, die 2019 den Wettbewerb Noortebänd (dt. Band der Jugend) gewann. Ihre Musik macht sie allein mit Keyboard, Gitarre und Computer. Das Ergebnis sind verführerische, tiefe und nächtliche Klänge, die mit ihrer Leichtigkeit und Aufrichtigkeit an eine junge Jessie Ware oder Andreya Triana der Anfangszeit erinnern. Kelly, die im Rahmen des Weihnachtsjazz 2020 (estn. Jõulujazz) ihre aus fünf Liedern bestehende EP „she sin(g)s“ vorstellte, ist ein perfektes Beispiel für eine sogenannte „Schlafzimmer“-Künstlerin, deren Musik auf die Bühne gehört. Sowohl zart als auch kraftvoll und eindringlich weiblicher Gesang gepaart mit modernen Soundarrangements im Downtempo geben einem hundert Gründe, die neuen Kreationen und Auftritte der Musikerin zu erwarten.
Väike PD
Väike PD, geliebt oder gehasst | © Glänel Tirrand
Ob seine Kreationen nun ein großer Witz sind oder nicht, je weniger Fakten wir über Väike PD wissen, desto faszinierender ist er. Die Rede ist von einem aus technischer Sicht nicht ganz so talentierten Rapper, dessen Mut und Humor aber für ein Nachwuchstalent ein besonderes Phänomen im Kontext der heimischen Musik darstellt. Das im Frühjahr veröffentlichte Debütalbum „Matusebüroo“ (dt. „Bestattungsinstitut“, Plattenfirma Legendary) hat sowohl bei innovativen Musikkritiker*innen als auch bei Anhänger*innen traditionellerer Rapmusik zweifellos für Furore gesorgt. Einerseits wird der Rapper als brillanter Newcomer bezeichnet, andererseits ist man über das „Zunichtemachen einer Subkultur“ empört. Somit hat man es unbestreitbar mit einer interessanten Figur im estnischen Hip-Hop zutun, deren zukünftige Karriere völlig unvorhersehbar ist.
Yumi Motoma
Yumi Motoma jongliert mit spielender Leichtigkeit mit den Sphären der elektronischen Musik und widerspricht dem klassischen Produzent*innen-Dasein. Die auf Kontrasten aufgebaute Musik ist so reich, explosiv und verspielt, dass es auf den ersten Blick schwerfällt, alles zu erfassen. Yumi Motomas Instrumentalmusik ist mehr ein Kunstwerk als gewöhnliche Beatlines. Dabei ist der*die Interpret*in jedoch weder mit dem Surrealismus noch mit dem Experimentieren zu weit gegangen und hat sich angenehme Melodien in den Songs bewahrt. Als Hörer*in ist dies sehr willkommen, da das die Songs auf einer gewissen Ebene mit einer logischen Struktur belässt. Oft kann zu experimentelle Musik ermüdend sein, aber Yumi Motomas Album „motoma“ höre ich mir immer wieder gerne an.
Maris Pihlap
Maris Pihlap stehen alle Türen offen, wenn sie es nur will. | © Hannelore Karmel Juurikas Maris Pihlap, die gekonnt die Elemente von Weltmusik und Folk verdreht, hat ihr Kurzalbum „What Have You Become?“ im Frühjahr 2021 herausgebracht. Die für Produktion, Songtexte und Gesang verantwortliche Musikerin ist ein frischer Wind im Bereich der Folk-Pop-Indie- und elektronischen Musik. Die Künstlerin lässt im Vergleich zu Sudan Archives, einer Sängerin, mit der sie einst verglichen wurde, viel Spiritualität und persönliche Erfahrungen in ihre Arbeit einfließen, macht dies aber geschmackvoll, ohne schnulzig zu werden. Bei Maris Pihlap hat man es mit einer Perle zutun, für die alle Türen angelweit offenstehen, wenn sie es nur zulässt.
CSAAR
Ein ungeschliffener Diamant - Instrumentalistin und Sängerin CSAAR oder Caroly Saar ist kein sehr bekannter Name, aber der Ruhm nimmt langsam Fahrt auf. Die diesen Sommer auf dem Sõru-Saund-Festival 2021 aufgetretene Künstlerin hat digitale Musik studiert und plant daher auch, in diesem Bereich Fuß zu fassen. CSAAR experimentiert mit verschiedenen elektronischen Spuren, Atmosphären und Texturen, wodurch sie eine sehr gut erkennbare Handschrift entwickelt. Die Produzentin hat ein Kurzalbum „From Home“ mit vier Songs veröffentlicht. Außerdem erschien in diesem Jahr ihre erste Kollaboration „Terve maailm“ (dt. „Die ganze Welt“) mit Karl Erik Leik aka Elekter.