Kunst
Rene Abramson: Wie Theater in der Kleinstadt funktioniert

Theatervorhang © Unsplash

Das Vaba Lava ist eines der lebendigsten und modernsten internationalen Theater in Estland. Wir haben mit Rene Abramson, Vertriebsmanager und aktiver Bürger aus Narva, gesprochen. Wie hat der Krieg in der Ukraine die Arbeit des Theaters verändert und wie wird das zeitgenössische Theater in der Kleinstadt nahe dem Aggressorstaat aufgenommen? Wurde das Theater während des Krieges zu einer Art Plattform für den Dialog zwischen den Menschen?

Sandra Merkulaeva

Wie kam die Kunst in dein Leben?

Wahrscheinlich schon in meiner Kindheit, als ich mit meinem Vater auf Kunstmessen und Museumsausstellungen ging, weil er das Zeichnen liebte und in die Kunst vertieft war. Wir waren oft auf Ausstellungen und verschiedenen Konzerten in St. Petersburg. Ich selbst ging als Kind zur Kunstschule, habe sie aber nicht ernst genommen. Als ich bereits älter war, bekam ich eine Stelle im Forum Cinema. Ich erinnere mich, dass ich dort einen Test über Filmkenntnisse bestehen musste und ich habe ihn mit 100 % bestanden. Mit der Theaterkunst kam ich in Berührung, als ich beim Vaba Lava anfing. Aufgrund meiner Arbeit musste ich regelmäßig ins Theater gehen. Nach und nach entwickelte ich ein Interesse an Inszenierungen. Früher bin ich als durchschnittlicher Bürger von Narva nicht häufig ins Theater gegangen, insbesondere nicht in experimentelle und zeitgenössische Aufführungen.
 

Was bedeutet das Vaba Lava für dich?

Das Vaba Lava ist ein einzigartiges Theater – besonders für Narva. Warum ich Narva so oft hervorhebe? Weil das Vaba Lava in dieser Stadt eine besondere Mission hat. Wir bringen Kultur in diese kleine Grenzstadt, die sonst nicht so einfach zugänglich wäre. In Tallinn würde man das Vaba Lava einfach nur als Theater wahrnehmen, das auf angemessenem Niveau irgendetwas Modernes macht, weil es in der Hauptstadt fast an jeder Ecke solche modernen Kulturobjekte gibt. In Narva gibt es so etwas nicht. Wenn das Vaba Lava nicht mehr da wäre, bliebe eine Stadt übrig, in der es zwei Kulturhäuser und ein Volkshaus gibt. Natürlich gibt es hier coole Orte wie den Art Club Ro Ro, der ein offener Bereich für verschiedene mutige Gruppen und Stile ist. Es ist wichtig, diese Stadt zu öffnen, um das Publikum von seiner Skepsis gegenüber der Kunst zu befreien und zu helfen, die Welt aus anderen Perspektiven zu sehen.
 

Wie beurteilst du die Kunst in Narva?

Wir sind beispielsweise ganz anders als Tallinn, denn Narva liegt gerade im Trend, wir sind der schmerzhafte und rote Punkt auf der estnischen Landkarte. Die Menschen, die hier wohnen, sind keine einheimischen Est:innen und Einwohner:innen von Narva, und sie sind dem Informationsfluss von jenseits des Flusses unterworfen. Die Kunst hier ist provinziell, der Konservatismus beginnt zu gedeihen, es entstehen Gedanken, dass dies nichts für uns ist, dass dies Propaganda ist und dass man uns gewisse Ansichten aufzwingt. Unser Theater bekämpft konservative Ansichten und verschiebt die Grenzen.
 

Welche Pläne hat das Vaba Lava für die nahe Zukunft?

Auf jeden Fall die Regelmäßigkeit der Theateraufführungen zu verbessern. Wir arbeiten daran, dass in der nächsten Saison mehr Theater kommen und mehr Aufführungen pro Monat gezeigt werden. Durch Regelmäßigkeit möchten wir bei den Einwohner:innen von Narva die Gewohnheit entwickeln, ins Theater zu gehen und sich organisch in Narva einzufügen. Die Einstellung einiger Menschen war von Anfang an ungünstig, wir mussten dem Publikum in Narva beweisen, dass wir mutige, provokative und wichtige Dinge tun. Die weitere Entwicklung wird durch die Jugend ermöglicht. Daher ist es wichtig, dass das junge Publikum, das in Narva lebt, auch hier bleibt. Bei der heranwachsenden, jüngeren Generation wächst das Interesse am Theater, wodurch sich unser Publikum vergrößert. Im Moment leistet Julia Aug einen enormen Beitrag zur Entwicklung von Vaba Lava: Unter den kommenden Veranstaltungen gibt es ein Projekt für Jugendliche und Schüler:innen. Namhafte Regisseur:innen, wie z. B. Durnev, der dieses Projekt leitet, werden dabei sein, um den Jugendlichen das Schreiben von Theaterstücken beizubringen. Dies ist eine großartige Gelegenheit, mit solch renommierten Menschen zu kommunizieren und von ihnen zu lernen. Natürlich verstehe ich, dass junge Menschen weggehen müssen, um die Welt zu sehen und zu arbeiten. Aber wenn Sie weggehen, besteht die Gefahr, dass Sie nicht zurückkehren.
 

Wie wurde die Aufführung „Ch** Wojne“ in Narva aufgenommen?

Die Aufführung „Ch** Wojne“ (dt. „F**ck den Krieg“) hat gerade eine besondere Nominierung vom Estnischen Theaterverband erhalten. Viele Menschen, die die Plakate „Ch** Wojne“ gesehen haben, waren schockiert. Diese Kontroverse hat viele zum Nachdenken gebracht. Das Wort Krieg wurde nämlich in Russland zensiert, aber wir haben es dennoch verwendet. Ich denke, dass dies ein sehr wichtiges Projekt für Estland und vor allem für Narva ist. Die Reaktion darauf war in der Stadt sehr schmerzhaft. Das Drehbuch wurde von Julia Aug in nur wenigen Wochen geschrieben und sorgte für Furore. Wir tun, was wir für richtig halten und passen uns nicht an das Publikum an, denn sonst geht die Essenz unseres Theaters verloren. Wir sind sehr eigenwillig und wenn die Autorin des Stücks sagt, dass sie es genau so nennen möchte, hat sie das volle Recht dazu.
 

„100 % Narva“ von Rimini Protokoll – wie lief die interne Vorbereitung der Aufführung ab? Wie oft gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Teilnehmenden und Regisseur:innen?

„100 % Narva“ von Rimini Protokoll ist ein sehr cooles Doku-Projekt,
das schon vor dem Krieg konzipiert wurde, aber gerade in dieser Zeit durchgeführt wurde. Viele Leute, die an dieser Aufführung teilnahmen, kamen aus der russischen Informationssphäre, aber sie repräsentierten Narva so, wie es ist. Ohne sich zu verstellen. Es gab Geschichten, die in Erinnerung geblieben sind, eine davon von der Probe: Es war der Tag, an dem zum ersten Mal 100 Personen auf der Bühne versammelt waren und die Regisseur:innen von Rimini Protokoll begannen, Fragen zu stellen, auf die die Teilnehmenden der Aufführung antworten sollten. In einem Moment begannen die Fragen über den Krieg und die Leute reagierten sehr emotional darauf. Sie verstanden nicht, warum ihnen solche Fragen gestellt wurden. Es wurde ihnen gesagt, dass es in dieser Aufführung keine scharfen politischen Fragen geben würde. Darauf antworteten die Regisseur:innen, dass dies keine kontroversen Fragen seien und dass sie derzeit als selbstverständlich angesehen würden. Die Emotionen der Menschen kochten sehr hoch, viele verließen den Saal und sagten, dass sie nicht mehr an diesem Projekt arbeiten würden, aber wir konnten sie schließlich zurückholen. Die politischen Probleme wurden geglättet, die meisten von ihnen bewältigt. Es war so ein Moment, in dem ich sah, wie Narva auf solche Dinge reagiert, es ist ein interessantes Phänomen. Rimini Protokoll hat dieses Projekt in vielen Städten durchgeführt, wo es ebenfalls Konflikte gab. Sogar in Südafrika wurde ein Projekt durchgeführt, wo bekanntermaßen die Apartheid herrschte und die Rechte der schwarzen Bevölkerung stark eingeschränkt wurden. Als ihnen Fragen dazu gestellt wurden, waren sie bereit, sie zu beantworten, wovor wir etwas Angst hatten. Während der Aufführung konnten politische Themen nicht umgangen werden, da das Publikum auch Fragen stellen konnte. Es gab einen Moment, in dem ich die Einheit der Menschen spürte – man konnte sich umdrehen, was signalisierte, dass die Person nicht auf diese Frage antworten wollte. Als die Teilnehmenden an der Aufführung mit der Frage nach dem Krieg konfrontiert wurden, drehten sich 90 Prozent der Menschen um – auch diejenigen mit einer klaren politischen Position. Sie wollten nicht antworten, weil sie die Anwesenden nicht verletzen wollten – ein Gruppeneffekt trat ein. Das zeigte, dass die Menschen sich sehr nahestanden und bereit waren, füreinander einzustehen. Es gab Fragen zur Homosexualität. Ich erinnere mich daran, wie einige Leute während der Proben sagten, dass sie ihr Kind niemals unterstützen würden, später sagten sie jedoch: „Nun ja, warum nicht.“

Die Welt des Theaters ist so einzigartig. Um sie für sich zu entdecken, ist es wichtig, die Inszenierungen zu finden, die einem gefallen und einen berühren.
Genau das gibt mir Hoffnung und Vertrauen in unsere gegenwärtigen und zukünftigen Generationen.

 

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