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„Nach dieser Reise konnte es keine Zweifel geben - den Krieg darf man nicht rechtfertigen.“

Sonnenblumen kleben mit Hilfe eins Pflasters auf dem Hintergrund. © Аlisa Kišenja

Aleksandr Zhemzhurov, Journalist bei Raadio 4, sprach über seine Erfahrungen bei der Freiwilligenarbeit in Polen mit ukrainischen Flüchtlingen.

Viktorija Savitševa

„Wir sind in der zweiten Kriegswoche an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren, um uns die Grenzübergänge anzuschauen und als Freiwillige Hilfe anzubieten. Meine Kollegin, Raadio 4-Moderatorin Varvara Sergeeva, und ich kontaktierten offizielle Organisationen wie das Rote Kreuz, die Flüchtlingshilfe, und Freiwillige, die bereits vor Ort arbeiteten, um zu schauen, wo wir am besten hinfahren können. Zu dieser Zeit gab es noch kein einheitliches System und einige der Grenzübergänge begannen gerade erst, Lager und Versorgungsstationen einzurichten. Wir beschlossen, nach Przemyśl zu fahren, wo sich das Verteilungslager befindet, von dem aus Menschen auf der Flucht nach Estland gebracht werden.“

Zuerst machte sich Alexander auf nach Warszawa. „Wir sind hauptsächlich mit Müttern nach Polen gefahren, die Verwandte und Kinder von der Grenze abholen wollten. Am Hauptbahnhof in Warszawa gab es eine der Anlaufstelle für ukrainische Flüchtlinge. Es gab viele Kinder "auf Koffern". Das hat uns sehr geschockt.“

Alexander und seine Kollegin fuhren fünf Stunden nach Przemyśl. „Wenn uns Warszawa schockiert hat, dann haben wir in Przemyśl unsere ersten Tränen vergossen. Im Einkaufszentrum lagen Matratzen in leeren Abteilungen verstreut, Berge von Kleidung der humanitären Hilfe, zurückgelassene Kinderwagen und Massen an Kindern, für die eine Kinderecke direkt auf dem Boden mit den vorhandenen Gegenständen aufgebaut wurde. Dort gibt es viele Freiwillige. Ein Zelt mit Essen wurde aufgebaut; Autos kamen regelmäßig an, um Spenden der humanitären Hilfe auszuladen. Die estnische Delegation war überwältigt und brauchte unsere Hilfe nicht; sie hatten bereits Kontakt zu Freiwilligen aufgenommen und waren gut organisiert. Wir entschieden uns, weiter nach Süden zu fahren, zu dem kleinen Grenzübergang Krościenko – Smolnica. Dort gab es Sanitäter, die die estnische Flagge auf ihren Uniformen trugen. Wie sich später herausstellte, hatte ein Team unserer Ärzte eine Erste-Hilfe-Station aufgebaut. Das häufigste Symptom war Unterkühlung. Mütter mit Kindern reisten wochenlang zur Grenze und warteten dann stundenlang in der Schlange am Checkpoint. Einige überqueren die Grenze in 4 Stunden, andere stehen den ganzen Tag.“

Bei der Ankunft: „Wir fanden den Hauptkoordinator des Lagers und meldeten uns. Hilfe wurde auf verschiedene Weise benötigt. Manchmal müssen wir eine Tasche tragen, manchmal Informationen austauschen und weitere Aktionen koordinieren. Dort haben wir viele Horrorgeschichten erlebt: Eine blinde Großmutter wird in ein Auto gesetzt und zum nächsten Grenzpunkt gefahren; ein Junge mit Asperger-Syndrom sitzt in deinen Armen, damit seine Mutter sich ausruhen und essen kann; gegenüber ein dementer Rentner, der überhaupt nicht versteht, was vor sich geht, und mit Augen schaut, die alles wissen, aber es nicht schaffen, einen Zusammenhang herzustellen. Ich mietete ein Auto und transportierte manchmal Leute von einem Grenzpunkt zu einem größeren Lager, von wo aus mehr Busse in europäische Länder abfuhren. Auf einer solchen Reise traf ich eine Familie, die ihr Haus und ihren Vater nicht weit von Kyiv verlassen hatte. Die ersten Raketen flogen am 24. Februar über ihr Haus. Der kleine 6-jährige Artem saß auf dem Rücksitz und brauchte lange, um sich zu beruhigen. Als ich ihm ein Taschentuch anbot, um sich die Nase zu putzen, sagte seine Mutter, er habe keine laufende Nase, sondern Tics. Der Junge und sein Bruder Andrej verbrachten zwei Wochen lang im Keller, als der Luftalarm ertönte. Um die Kinder zu rehabilitieren, habe ich sie interviewt. Es stellte sich heraus, dass Andrej für sein Alter ein begabter Musiker ist und Lieder schreibt. Er sprach über Musik und gemeinsam lenkten wir uns vom Krieg ab. Heute bleiben wir in Kontakt. Das Interview mit Andrej ist an seinem Geburtstag auf Sendung gegangen.

Wie man aus Estland helfen kann: „Heute kann und soll man helfen. Das Sortieren von Kleidung, die von Freiwilligen gesammelt wurde, kann bei Uuskasutuskeskus geschehen. Man kann sich beim Zentrum für Flüchtlingshilfe anmelden, Kinderzirkel leiten. Dafür kann man sich unter den aufgeführten Nummern auf der Website www.ukraine.ee melden. Man kann Verwandten und Freunden helfen: Rufen Sie sie an und nehmen Sie sich Zeit für sie, teilen Sie ihre Sorgen und schicken Sie vielleicht morgens ein Katzenbild auf Instagram, wie es eine Freundin von mir getan hat, als sie erfuhr, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Jede Aufmerksamkeit ist fürsorglich. Das brauchen wir jetzt am meisten: Fürsorge und Unterstützung.“

Zu den Gefühlen nach der Reise: „Ich bin dankbar, dass wir an der Grenze waren und alles mit eigenen Augen gesehen haben. Es mag nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen sein, aber es hat uns gelehrt, das Leben zu schätzen. Nach dieser Reise konnte es keine Zweifel geben - den Krieg darf man nicht rechtfertigen. Es dauerte lange, bis ich zur Besinnung kam, und selbst am nächsten Tag, als ich in der Morgensendung des Fernsehens darüber sprach, was ich gesehen habe, konnte ich die Tränen kaum zurückhalten. Die Welt hat sich auf den Kopf gestellt, das Leben ist nicht mehr dasselbe. Das einzige, das mich in dieser Zeit „über Wasser“ hielt, war der Gedanke, dass wir unseren Kindern, auch denen aus der Ukraine, die Möglichkeit geben sollten, zu leben und Spaß zu haben. Kinder wollen nicht mit dem Gedanken an Krieg leben und diese Last mit sich herumtragen. Sie wollen ein Lächeln auf unseren Gesichtern sehen, Unterstützung und eine Welt, in der die Menschen glücklich sind. Nur dieses Glück aufzubauen ist sehr schwierig geworden.“
 

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