Poesie
Krusten

Krusten © Illustration: Lorena Mondragón

Gedicht der Mexikanerin María Fernanda García aus der Anthologie „Blickwinkel: marasmo“.

María Fernanda García

meine höchsttemperatur ist 36°
mein körper passt sich an
aber er verbleibt nicht in zwei zeitformen
in der vergangenheit stellte ich mir die gegenwart vor
und in der gegenwart wirkt sie harmlos

ich spanne den kiefer an, weil es mir das gefühl von kontrolle gibt
ich spüre, wie meine zähne sich abnutzen
was ist, wenn einer abbricht?
ein zeichen, dass ich nichts unter kontrolle habe

dramatische spannung
anhaltende spannung
geballte spannung
wiederholte spannung
gelöste spannung
muskelspannung 
[hier können alpträume vorkommen]
diese sekunden vorm einschlafen

ich träumte, dass ich an marasmus litt
dass ich meinen ganzen körper einritzen musste
um das gefühl der reglosigkeit loszuwerden
meine körpertemperatur stieg, dann sank sie wieder
auf meiner haut bildeten sich krusten
heilung trat erst ein, wenn sie wieder abfielen
ich dachte an die, die daran gestorben waren

auf den straβen ist es still
die städte sind verstummt
oder ihre stimme ist nicht mehr dieselbe
die stimme ist leise, unsicher
und kaum zu entschlüsseln

meine temperatur liegt jetzt schon bei 36,1°
die zähne sind noch nicht abgebrochen
der linke schneidezahn war schon so
normale temperatur, die erste schicht fällt ab
meine stimme wird hörbar.


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Dieses Gedicht erschien ursprünglich in dem Buch Blickwinkel: marasmo, veröffentlicht vom Goethe-Institut Mexiko und Pitzilein Books.