Stillstand aufführen
Formen des Stillstehens

Eine Frau erlebt ein Kunstwerk „One Minute Sculptures“ des österreichischen Künstlers Erwin Wurm. © picture alliance/AP Photo | Kin Cheung

Stillstand kann auch eine performative Kraft sein. Doch was genau lässt sich darunter eigentlich subsummieren? Barbara Gronau über aufgeführte Bewegungslosigkeit.

Barbara Gronau

Stillstand beschreibt einen Zustand der Ruhe, des Pausierens, der Bewegungs- oder auch Ereignislosigkeit, der eine passive Seite unseres Daseins markiert. Mit der modernen Ausprägung von Zeitregimen der Beschleunigung entwickelt sich das Konzept des Stillstands zu einer paradoxen Figur: Als Angstformel der „Stagnation“ steht es für Formen der Bewegungs- und Entwicklungslosigkeit und gilt als Bedrohung gesellschaftlichen Fortschritts. In seiner Bedeutung als „Muße“ ebenso wie als „Streik“ steht es jedoch für widerständige Praktiken, die kulturelle Normen infrage stellen und alternative Zeitdimensionen adressieren. In den Künsten sind Formen des Stillstellens seit dem 18. Jahrhundert eng mit Reflexionen auf die Wahrnehmung und Gestaltung von Zeit verknüpft. Insbesondere in den darstellenden Künsten, deren Grundprinzip ja das Handeln (acting) ist, führen Ästhetiken des Stillstands nicht selten zu Irritation und Empörung. Stillstand ist auch eine performative Kraft. Doch was genau lässt sich darunter eigentlich subsummieren?

Langsamkeit / Slowness

Zunächst einmal kann Stillstand im Theater das Verlangsamen, Ausbremsen oder Dehnen von Ereignissen, Bewegungen und Verläufen bedeuten. Von Anton Tschechows Drei Schwestern (Moskau 1901) über Samuel Becketts Warten auf Godot (Paris 1953) bis zu Christoph Marthalers Murx den Europäer (Berlin 1993) ziehen sich zahlreiche Beispiele, in denen die Zeitstruktur des klassischen Dramas konsequent unterlaufen wird und anstelle von Tempo, Handlungsdruck und finaler Lösung eine Dramaturgie der Langsamkeit, Redundanz und Handlungslosigkeit gesetzt wird.
Menschen auf der Bühne bei der Uraufführung von Christoph Marthalers „Murx den Europäer“ am 16. Januar 1993 Szenenfoto von der Uraufführung von Christoph Marthalers „Murx den Europäer“ am 16. Januar 1993 | © David Baltzer Die Figuren scheinen in einer Situation des Wartens gefangen und erschöpfen sich in der Wiederholung gemeinsamer Rituale. Die Aufführungen dieser Texte animierten das Publikum in steter Regelmäßigkeit zu emotionalen Reaktionen zwischen Tränen und Lachsalven, als deren Grund nicht nur die Spielweise der jeweiligen Darsteller*innen geltend gemacht werden kann, sondern auch das Auflösen von Zeitkonzepten selbst. Es geht dabei weniger darum, sich einfach zu langweilen, als vielmehr darum, die Wahrnehmung von Zeit, Raum und Situation zu intensivieren. Diese Inszenierungen können durchaus Grenzerfahrungen für unser modernes Zeitgefühl bereithalten.  

 
Aus der Aufführung von „Murx den Europäer“ von Christoph Marthaler in der Berliner Volksbühne 1993.

Posieren / Posing

Stillstand aufzuführen kann darüber hinaus das Anhalten körperlicher Bewegung oder das Aushalten bestimmter Positionen meinen. Von den Tableaux Vivants des 18. Jahrhunderts, in denen kostümierte Darsteller*innen Werke der bildenden Kunst in Posen vor Publikum nachstellten bis zu den living sculptures des heutigen Kunstbetriebs reihen sich zahlreiche Beispiele, in denen die bewusste Stillstellung menschlicher Körper als Überlagerung von Raum- und Zeitkunst in Szene gesetzt wird. (Bettina Brandl‑Risi/Brandstetter/Dieckmann, 2012).
Performance und Tableau vivant für die Altaroma 2020 Modewoche. Performance und Tableau vivant für die Altaroma 2020 Modewoche von Modedesignstudierenden der Accademia di Belle Arti in Rom am 26. Januar 2020. | © picture alliance / Photoshot
So inszenierte sich Timm Ullrichs 1965 in einem Glaskubus als Erstes lebendes Kunstwerk; das Künstlerduo Gilbert and George trat seit 1969 als kostümierte und puppenhaft starre Akteure singend in Galerien auf; Erwin Wurm arrangiert seit den 2000er‑Jahren sogenannte One Minute Sculptures, bei denen Museumsbesucher*innen nach konkreten Handlungsanweisungen eine Minute lang in bestimmten Posen aushalten; und die Künstlerin Vanessa Beecroft setzt entblößte, bewegungslose Frauenkörper in Arrangements zwischen anonymer Vermassung und Voyeurismus in Szene. Die scheinbare Transformation eines menschlichen Körpers in ein lebendiges skulpturales Objekt gehört nicht nur zu den physischen Herausforderungen der sogenannten Endurance Art, sie zielt auch auf die Irritation und Verschiebung traditioneller Gattungsgrenzen ab. Sketch mit Anweisung für eine One-Minute-Sculpture. „Be a Sculpture For a Minute“, Anweisung für eine One-Minute-Sculpture von Erwin Wurm. | © Funkyxian, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons

Stand-in als Widerstand

Nicht zuletzt kann das stille Stehen, Sitzen oder Liegen im öffentlichen Raum eine symbolische Kraft entwickeln, die aus einer Performance eine Form des passiven Widerstands werden lässt.
Ein Mann steht auf einem Platz. Es handelt sich um Erdem Gündüz, der 2013 auf dem Istanbuler Taksim-Platz beim Auftakt der Gezi-Park-Protestbewegung stundenlang stehend ausharrte. Erdem Gündüz (links im weißen Hemd) 2013 auf dem Istanbuler Taksim-Platz beim Auftakt der Gezi-Park-Protestbewegung. | © Jwslubbock, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons Erinnert sei hier an den Tänzer Erdem Gündüz, der sich am 17. Juni 2013 auf dem Istanbuler Taksim‑Platz acht Stunden lang vor ein meterhohes Atatürk‑Plakat stellte und damit den Auftakt der international bekannten Gezi Park Protestbewegung setzte. Er selbst verstand diese Aktion als Performance und verwies damit implizit auf theatrale und tänzerische Formen des Stillstehens, wie sie etwa in der Choreografie The Show must go on von Jerome Bel (2001) vorkommt, in der Gündüz auftrat. Dort starren die Tänzer*innen im Stilltand für die Dauer eines Songs in provozierender Weise in das Publikum. Was im Theater als Verweis auf das Sehen-und-Gesehen-werden gelesen werden konnte, wurde im öffentlichen Raum zu einem stummen Protest. Die beiden simplen Handlungen stehen und schauen entfalteten darin eine eigene mediale Kraft: Das stille Stehen (stand‑in) – das schon in Gene Sharps berühmter Liste der 198 Methods of Nonviolent Actions als „physical intervention“ aufgeführt wird – markiert eine physische Beharrungskraft im Raum. (Sharp, 1973) Es ist der Streit darum, wem dieser Raum gehört, wer sich darin bewegen und ihn benutzen kann. (Leigh Foster, 2003) Dieses Stand‑in zielt darauf ab, herrschende Zeitregime zu unterbrechen und ästhetische und politische Zäsuren zu setzen.

Stillstand als Gegenzeit (Countertime)

Mit der zunehmenden Strukturierung und Kontrolle von Zeit in der Moderne und der Ausrichtung der Subjekte auf Beschleunigung und Effizienz erwachsen zugleich Formen von Gegenzeiten, die als Beharrungskräfte in Streiks, Stauungen, Verzögerungen, Handlungslosigkeiten, Erschöpfungen oder Langeweile zutage treten können. In den Darstellenden Künsten und der Performance Art gehören Pausen, lange Dauern oder Formen des Stillstands zu solchen ästhetischen Verfahren. In ihnen erfahren wir Grenzen und Krisen des Subjekts durch Zustände der Erschöpfung und Handlungslosigkeit. Sie ermöglichen eine Intensivierung der Wahrnehmung durch Dehnungen, Verzögerungen oder den Wechsel von Darstellungsformen. Und schließlich unterbrechen sie temporale Ordnungsmuster und schaffen so Bedingungen zu ihrer Reflexion, Erweiterung und Kritik.

 

Der vorliegende Text subsummiert sich aus Barbara Gronaus Publikationen: „Performing Stasis“, in Aesthetics of Standstill. Berlin/New York: Sternberg Press 2019, Reinhold Goerling, Barbara Gronau, Ludger Schwarte (Herausgeber*innen), Seiten 12–29; Anhalten, Stillstellen, Unterbrechen. Theatrale Verfahren der Zeitgestaltung Künste des Anhaltens. Ästhetische Verfahren des Stillstellens. Berlin, Neofelis Verlag 2019, Seiten 29–51.

Weiterführende Literatur

Bettina Brandl‑Risi / Gabriele Brandstetter / Stefanie Dieckmann (Herausgeberinnen): „Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance“, Berlin, Theater der Zeit 2012)

Gene Sharp The Politics of Nonviolent Action, Boston, Porter Sargent Publisher, 1973, Seite 371

Susan Leigh Foster „Choreographies of Protest“, in Theatre Journal, Jahrgang 55, Nummer 3, Oktober 2003, Seiten 395–412


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© picture alliance/AP Photo | Kin Cheung
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