Über die Stille – Quietude

Kids in Pullman City (near Deggendorf) Photo: Jonas Höschl

“Lately, it seems to me that the fear of dead air — the fear of silence — has made its way outside the radio studio. Everywhere is noise ... and noise is everywhere.”

What radio makers fear most of all is “dead air”: unwanted pauses, on-air silence, nothingness — this is the ultimate faux pas in radio. Even in Johann Wolfgang von Goethe’s time, society feared nothing more than a lull in conversation. This was grounds enough for journalist Bilal Qureshi to dedicate an entire episode of THE BIG PONDER to silence. “Silence” is by no means just about noiselessness or a lack of communication. It is also about American leaf blowers and quiet Sundays in German neighborhoods, about what Seneca described two thousand years ago as the “restlessness of our soul.” Bilal’s episode “Über die Stille – Quietude” is about the fear of and the longing for silence.

Bilal Qureshi

 

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Bilal Qureshi contributed this meditative episode on silence. Bilal is a radio journalist and culture writer. In 2011, he was a transatlantic fellow of the Robert Bosch Stiftung in Berlin. Peggy Bachmann, Thomas Fränzel, Isabelle Redfern, Volker Wackermann, and Timo Weisschnur lent the characters their German voices. Jonas Höschl took the photo for this episode at the Pullman City Western Town near Passau in Bavaria. Listen to the episode in English here

Transcript

Bilal Qureshi: Unter Radiomenschen gibt es eine gemeinsame, große Angst: Die Angst vor Stille.

Das erste Mal habe ich davon gehört, als ich vor zwölf Jahren beim Radio angefangen habe. Stille auf der Frequenz, das war das Zeichen für eine Krise im Sender.

Oliver Brod kennt die Gefahr. Er ist Radiomacher und lebt in Berlin.

Oliver Brod: Ich erinnere mich, wie ich einmal zwei Sekunden Stille in einem Radiostück als Effekt einsetzte. Der Sender rief mich daraufhin an und sagte: „Es gibt ein Problem bei ihrem Stück.“ Als ich ihnen erklärte, dass ich die Stille extra eingesetzt hatte sagten sie: „Okay, aber übertreib es nicht, sonst springt unser Alarmsystem an. Denn wenn das Radio still wird, stimmt irgendwas nicht.“ Und das wollten sie verhindern.

Bilal Qureshi: Es ist so, als ob das Radio Antikörper gegen Stille aufgebaut hätte.

Oliver Brod: Aber vertragen sich Radio und Stille wirklich nicht?

[PAUSE]

Bilal Qureshi: Warum Raum für Stille schaffen, wenn wir stattdessen Musik, Gespräche und die beruhigende Atmosphäre anderer Orte hören können? Es kommt mir so vor, als ob die Angst vor Stille nicht nur das Radio betrifft. Überall ist Lärm. Und Lärm ist überall.

[STRASSENLÄRM AUS NEU‑DELHI]

Bilal Qureshi: Im Zeitalter der Städte: Verkehrslärm. Im Zeitalter der globalen Krisen: politischer Lärm. Im Zeitalter von Smartphones: unaufhörlicher digitaler Lärm. Vielleicht sind es die anderen, vielleicht bin es auch nur ich. Aber ich habe das Gefühl, dass wir die Stille verloren haben. In der letzten Zeit habe ich angefangen, Apps zu nutzen, die meine Internetzeit limitieren. Ich bin auf der Suche nach mehr Zeit, mehr Fokus. Mir fallen immer mehr Bücher zum Thema Achtsamkeit auf. Vergangenes Jahr habe ich ein schmales, elegantes Buch gesehen, mit Bildern von wunderschönen Weiten. Bald darauf wurde es zu einem internationalen Bestseller. Es heißt: Stille. Ein Wegweiser.

Erling Kagge: Das Buch wurde in 37 Sprachen übersetzt. Das heißt, es handelt sich hier um ein globales Phänomen. Die Leute sind auf der Suche nach Stille.

Bilal Qureshi: Erling Kagge ist der Autor des Buches. Ein norwegischer Abenteurer, dem beim Wandern am Südpol klar wurde, dass er verlernt hatte zuzuhören. Oder vielmehr: Der Stille zuzuhören.

Erling Kagge: Menschen haben schon immer Angst vor der Stille gehabt. Wir begegnen uns in der Stille selbst, während wir Lärm durch andere Menschen erleben. Lärm ist immer der einfachere Weg.

Bilal Qureshi: Sein Buch hat mich dazu angeregt, über Stille und Raum nachzudenken. Meine Nachbarschaft hier in Washington, D.C. ist auf jeden Fall recht laut. Aber nichts im Vergleich zu Indien, Delhi, wo ich vor einiger Zeit gelebt habe. Wenn ich darüber nachdenke, wo ich das letzte Mal Stille erlebt und empfunden habe, dann denke ich an meine Zeit in Berlin zurück. Ich war dort 2011/2012 für einen Forschungsaufenthalt und ich weiß noch, wie ruhig es mir an vielen Tagen und Stunden vorkam.

[PAUSE]

Bilal Qureshi: Ich erinnere mich an die großen Fenster meiner Wohnung und wie sie allen Lärm ausschlossen. [GERÄUSCH VOM FENSTERÖFFNEN] An die singenden Vögel aus dem Wald, durch den ich morgens meine Spaziergänge machte. [WALDGERÄUSCH] An lange, ruhige Fahrten auf dem Fahrrad. [RADFAHRGERÄUSCHE] Und an Menschen, die in ihre Zeitungen vertieft waren, in irgendwelchen Cafés am Ufer eines Sees.

In Deutschland habe ich auch zum ersten Mal das englische Wort ‚Quietude‘ gehört. Nach dieser Mischung aus ‚quiet‘ and ‚solitude‘, aus ‚ruhig‘ und ‚einsam‘ sehne ich mich in letzter Zeit immer häufiger. Und so habe ich beschlossen, diesen Sommer nach Berlin zurückzukehren. [KIRCHENGLOCKEN] Es ist Sonntag. Der Tag der Stille. Lärm ist an diesem Tag nicht erlaubt und die Geschäfte haben geschlossen. Die Berliner Züge gleiten an mir vorbei ..., durchstreifen eine große Stadt, in der Familien ihren freien Tag genießen. Im Park oder zu Hause, weit entfernt von Shoppingmalls und To‑do‑Listen [GERÄUSCH EINES FAHRENDEN ZUGES] Nicht weit entfernt von den großen Straßen der Stadt, nur durch eine Häuserreihe getrennt, liegen die Hinterhöfe. Orte, die zwischen Straße und der eigenen Wohnung liegen. Hier beginnt die Stille. [HOFGERÄUSCH] Die Wohnung, die ich für diesen Sommer gemietet habe, hat einen großen Hinterhof. Und ich habe ganz hinten in der Ecke einen kleinen Platz für mich. Die Bäume wachsen bis in den 7. Stock hoch und schützen vor Sonne und Lärm. Sie lassen mich vergessen, dass nur wenige Meter von hier einer der größten Klubs der Stadt tobt. [SIGNALTÖNE VON SICH SCHLIESSENDEN ZUGTÜREN]

[U‑BAHN‑SOUND]

Bilal Qureshi: Ich fahre Richtung Kreuzberg. Ich bin unterwegs, um einen Amerikaner zu treffen, der seit vielen Jahren in Berlin lebt. [STRASSENMUSIK IN U‑BAHN‑ATMOSPHÄRE]. Alex ist passionierter Flaneur und hat sich angewöhnt, die Stadt auf seinen täglichen Spaziergängen zu erkunden.

Alex Marashian: Es war eigentlich gar nichts Besonderes. Es hat mir einfach Spaß gemacht, jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit ein wenig zu laufen. Ich habe immer neue Wege entdeckt, je nachdem, an welcher Station ich ausgestiegen bin. Beim Spazierengehen habe ich die Zeit, über Dinge nachzudenken. Die Bewegung tut meinem Körper gut und hat mir einen neuen, kreativen Raum eröffnet.

Bilal Qureshi: Ich treffe Alex am Rande des Grunewald, wo wir uns für einen Spaziergang verabredet haben.

Alex Marashian: Ich brauche ungefähr eine halbe Stunde, um hierhinzukommen. Wenn ich dann in den Wald eintauche, kann ich mich für Stunden auf den Pfaden verlieren.

Bilal Qureshi: Das Verrückte ist, dass wir trotzdem nur wenige Schritte von dicht befahrenen Straßen und der lebhaften Nachbarschaft entfernt sind, in der er lebt.

Alex Marashian: Ich gehe ohne Kopfhörer spazieren und genieße es, einfach meinem Umfeld zuzuhören. Das hat etwas Meditatives. Eigentlich ist es nie wirklich still.

[PAUSE]

[AUTOGERÄUSCHE VERMISCHEN SICH MIT VOGELSTIMMEN]

Bilal Qureshi: Ich höre überall Vögel. Meinst du, das liegt daran, weil es so viele Bäume in Berlin gibt?

Alex Marashian: Sobald du an einen ruhigen Ort gehst, fängst du an, verborgene Geräusche wahrzunehmen.

[VOGELGEZWITSCHER]

Bilal Qureshi: Der Autor und Kolumnist Georg Diez hat viele Jahre für den Spiegel geschrieben. Er ist Historiker und erzählt mir, dass die Liebe zum Wald und das musische Wandern seine Wurzeln in der Romantik haben, bei Schriftstellern wie Goethe und Schiller.

Georg Diez: Die Menschen standen in Verbindung mit der Natur, nicht mit der Gesellschaft. Das ist das romantische Ideal, die Reise des Einzelnen. Diese Verbindung zwischen Ruhe und Einsamkeit, ganz nah an der Grenze zur Depression, findet sich auch in den großen Bildern von Caspar David Friedrich wieder. Sie ist gleichzeitig Last und Segen.

[PAUSE]

[SOUND EINES FAHRENDEN ZUGES]

Bilal Qureshi: Als Nächstes besuche ich meinen Freund und Radiokollegen Oliver Brod, in seinem Studio im Norden von Berlin.

Oliver Brod: So let’s get upstairs ...

[SCHLÜSSELKLAPPERN, TÜR ÖFFNET SICH]

Bilal Qureshi: Oliver hat sich eine kleine Insel der Ruhe geschaffen, inmitten des belebten und multikulturellen Stadtteils Wedding.

Oliver Brod: Ich bin sofort entspannt, wenn ich in mein kleines Atelier hereinkomme.

Hier ist mein Studio ... [SEUFZT, STILLE] Hier drinnen ist es vollkommen still. Aber ich brauche nur die Balkontür aufzumachen ... [UMGEBUNGSGERÄUSCHE, RASENMÄHER, VÖGEL] ... und schon schwappt die Welt herein. Das ist ein sehr gesundes Gegenstück zu der künstlichen Soundwelt, mit der ich arbeite.

Bilal Qureshi: Wir hören Flugzeuge, die auf dem Flughafen Tegel landen. Menschen, die feiern und deine Frau, die gerade den Rasen mäht.

Oliver Brod: Ja, das ist die echte Welt. Der Übergang von der Stille in meinem Studio in diese Außenwelt ist etwas ganz Besonderes. Meine Ohren können sich hier drinnen ausruhen. Wenn ich dann nach draußen gehe, höre ich keinen Lärm, sondern interessante Geräusche. [LACHT]

[RASENMÄHERGERÄUSCH]

Bilal Qureshi: Olivers Frau Clau, die gerade aus dem Ausland wiedergekommen ist, mäht draußen den Rasen. Das ist eine gute Idee, denn morgen ist Sonntag.

Oliver Brod: Darf man in Amerika sonntags Rasen mähen?

Bilal Qureshi: To mow your lawn?

Oliver Brod: To mower, yeah. Laute Arbeiten sind sonntags verboten. Sonst kann es dir passieren, dass die Nachbarn die Polizei rufen. Und die kommt dann tatsächlich und sagt dir, dass du aufhören musst. [LACHT]

Bilal Qureshi: Ist dir das auch so wichtig?

Clau Knobloch: Ich höre zum Beispiel zu Hause auch keine Musik.

Bilal Qureshi: Hast du Unterschiede zwischen Deutschland und anderen Ländern bemerkt, wenn es um Stille und Ruhe geht?

Clau Knobloch: In vielen Ländern, die ich bereist habe, ist es schwierig, überhaupt einen ruhigen Moment zu bekommen. Selbst wenn wenig Verkehr ist, hört man immer die Klimaanlagen surren.

Bilal Qureshi: ... and now on Samstag, Saturday, Clau can begin the lawnmower again.

[RASENMÄHER STARTET ERNEUT]

Sieglinde Geisel: Deutschland gehört sicherlich zu den Ländern, in denen Lärmschutz eine wichtige Rolle spielt. [LACHT]

Bilal Qureshi: Die Journalistin Sieglinde Geisel erzählt mir, dass es nicht nur auf den Einfluss der Kirche zurückzuführen ist, dass der Sonntag ein Ruhetag ist. Die Menschen sind im Allgemeinen sehr lärmempfindlich – nicht nur bei Maschinen. Sogar bei lauten Kinderspielzeugen!

Sieglinde Geisel: Deutschland ist nicht gerade das ausgelassendste Land, was man sich vorstellen kann. Die Menschen versuchen Rücksicht zu nehmen, um andere nicht zu stören. Aber manche werden zu richtigen Lärm‑Nazis.

[RASENMÄHER]

Oliver Brod: Auf dem Rasenmäher klebt ein Sticker, auf dem steht: maximal 96 db. Das wird extra getestet.

Bilal Qureshi: Is that true for other machines as well for home?

Oliver Brod: Yeah we have this. I bought a dishwasher that is 42db. Okay I am a noise addict, I am a sound addict, so I always look for this one but yeah ...

[FAMILIE MIT KLEINKIND IM GESPRÄCH]

Bilal Qureshi: Oliver Brod lebt mit seiner Familie in einem großen Haus, direkt neben einem der ruhigsten Orte, die es in Berlin gibt: einem Friedhof.

Oliver Brod: Das war einer der Gründe, warum wir uns für dieses Haus entschieden haben. Ich bin an einem Wald aufgewachsen. Sonntagmorgens, wenn die Stadt ganz ruhig ist und nichts passiert – dann fühle ich mich hier ganz besonders zu Hause.

Bilal Qureshi: Oliver und ich gehen über den Friedhof spazieren. [FLUGZEUG- UND PARKGERÄUSCHE] Die Grabsteine erinnern mich an die besondere Geschichte dieser Stadt.

Oliver Brod: Das hier ist die Grabstätte der Familie Eugen Gutmann, einer der Gründer der Dresdner Bank und ein wichtiger Geschäftsmann aus den 20er‑Jahren. Er hat dieses Denkmal auf dem Friedhof gebaut, um an seine jüdischen Wurzeln zu erinnern. Dort auf der Inschrift steht, dass die Kinder Fritz und Luise Gutmann nicht hier begraben werden konnten. Sie wurden in Theresienstadt und Auschwitz ermordet. Dieses Denkmal bedeutet mir sehr viel.

[PAUSE]

[VÖGEL UND FRIEDHOFSATMOSPHÄRE]

Bilal Qureshi: Es ist interessant, dass mir Deutschland beim Thema Stille einfällt. Obwohl gerade hier Lautsprecher, Technik für das Radio und Mikrophone entwickelt wurden. Deutschland ist weltbekannt für seine Soundtechnik. Und man darf natürlich die Geschichte des Landes nicht vergessen. Der Lärmpegel hier in Berlin zu Zeiten des Krieges muss unglaublich gewesen sein. Für Jahre gehörten die Geräusche des Krieges zum Alltag.

Es wird viel darüber diskutiert, wie Gesellschaft und Politik in diesem Land funktionieren können. Die Kanzler des Landes wurden eher als stille Führer wahrgenommen, nicht aggresiv und laut. Vielleicht hat dieser ruhigere Ton auch etwas damit zu tun, wie laut diese Gesellschaft einmal war?

Oliver Brod: Vor 70 Jahren war Deutschland definitiv zu laut. Wir haben viel Lärm in der Welt erzeugt. Wir haben zwei Kriege angefangen, den Einschlag einiger russischer Gewehrkugeln kann man bis heute in der Außenfassade von meinem Haus erkennen. Vielleicht haben wir deswegen eine zurückgenommene Rolle im internationalen Dialog eingenommen.

Ein deutsches Sprichwort, das meine Großmutter immer wiederholt hat, heißt: „Erst nachdenken, dann sprechen.“ Velleicht hat das etwas mit unserer Geschichte zu tun und damit, dass wir so viele furchtbare Dinge gesagt und getan haben, ohne vorher darüber nachzudenken. Jetzt versuchen wir erst mal innezuhalten.

[VOGELGEZWITSCHER, STILLE]

[JAZZ‑STRASSENMUSIK‑ATMOSPHÄRE]

Bilal Qureshi: Heute ist Berlin eine globale, multikulturelle und moderne Stadt. Die

Kultur der Stille, mit ihren Wurzeln in der Romantik und der Neuausrichtung von Nachkriegsdeutschland, ändert sich. Genau wie sich die Stadt ändert.

[GERÄUSCHKULISSE BERLIN‑KREUZBERG: SIRENEN, HUPEN, BOHRMASCHINEN]

Bilal Qureshi: Meine geliebte Berliner Ruhe wird regelmäßig von Bohrarbeiten in meiner Straße unterbrochen. Autos verstopfen den Verkehr und überall hört man Touristen, die in allen nur erdenklichen Sprachen und Lautstärken sprechen.

[SPANISCHE TOURIST*INNEN SCHREIEN „MALLORCA!“]

Bilal Qureshi: Um an meinem Bild eines stillen Berlins noch weiter zu rütteln, ist gerade ein großer Artikel erschienen, der beschreibt, wie Menschenmassen und Lärm in den Städten die Deutschen an ihre Schmerzgrenze treiben.

Marcus Rohwetter: Ich heiße Marcus Rohwetter und arbeite für die Wochenzeitung Die Zeit. Und ich habe eine Titelgeschichte zum Thema geschrieben.

Es hat hier in den vergangenen Jahren immer mehr Streitigkeiten und Agressionen auf den Straßen gegeben. Die Städte sind zum Teil sehr alt und nicht dafür konzipiert, dass hier plötzlich SUVs auf den Straßen herumfahren. [LACHT]

Bilal Qureshi: Für die Journalistin Sieglinde Geisel geht es bei dem Bedürfnis nach Ruhe um mehr als nur um physischen Lärm.

Sieglinde Geisel: Die Frage ist natürlich: Was ist Lärm? Ich persönlich denke, dass Lärm in unseren Köpfen entsteht. Es ist immer eine Frage der Interpretation, die aus einem Geräusch Lärm macht. Erst wenn wir sagen: „Das stört mich“, wird aus einem Geräusch Lärm.

Bilal Qureshi: Her book is called Nur im Weltall ist es wirklich still – „Only in Outer-space is there actual Silence“.

Sieglinde Geisel: Es gab verschiedene Lärm‑Revolutionen. Die erste war, als die Menschen anfingen, mit Metall zu arbeiten. Die zweite Lärm‑Revolution geschah während der Industrialisierung, als Maschinen ins Spiel kamen. Und die dritte begann ab dem Moment, als es möglich wurde, Geräusche aufzunehmen, sie zu speichern und wieder abzuspielen. Die vierte und letzte Revolution ist eigentlich gar nicht hörbar. Ich spreche von digitalem Lärm. Er gehört für mich zum Lärm, weil ich genauso auf ihn reagiere, als ob er hörbar wäre.

Bilal Qureshi: Ich frage mich, ob einer der Gründe für mein Bedürfnis nach mehr Ruhe in meinem Leben etwas damit zu tun hat, dass ich schon wieder einen Tag mit Netflix, WhatsApp und Instagram verbracht habe. Für Sieglinde Geisel ist die Vorstellung eines Ortes der „perfekten Ruhe“ eine bedrückende und unrealistische Idee.

Sieglinde Geisel: Ich finde die Idee einer „perfekten“ akustischen Umgebung beinhaltet zwangsläufig, dass andere Menschen ruhig sein müssen. Wenn man sich aber die psychischen Faktoren hinter unserer Wahrnehmung von Lärm anschaut, dann begreift man, dass er viel mehr mit dir selbst als mit deinem Umfeld zu tun hat.

Bilal Qureshi: Es ist also nicht der tatsächliche Lärm, sondern der Lärm in unseren Köpfen, der die Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt.

Sieglinde Geisel: Seneca hat schon vor circa 2.000 Jahren gesagt, das Problem ist nicht das Geräusch, sondern die Rastlosigkeit unserer Seele. Die Menschen hungern nach Ruhe, aber ihnen ist nicht bewusst, dass es nicht der äußere Lärm ist, der ihnen zu schaffen macht, sondern ihr innerer.

[PARKGERÄUSCHE]

Bilal Qureshi: Erling Kagge, Autor des Bestsellers über Stille, kennt in Nordeuropa viele Inseln der Stille. Trotzdem stimmt er Sieglinde Geisel zu: Stille und Ruhe können eine Gewohnheit sein.

Erling Kagge: Du kannst nicht darauf warten, dass die Ruhe zu dir kommt, du musst sie dir schaffen. Ich bin in mehr als Hundert Länder gereist und habe viele Menschen getroffen. Die Suche nach Stille ist etwas sehr Menschliches, egal wo du herkommst oder wie du aufgewachsen bist.

Bilal Qureshi: Du meinst also, dass wir gar nicht an einen besonderen Ort gehen müssen, um Ruhe zu erfahren?

Erling Kagge: Du kannst überall Ruhe finden, du darfst nur nicht darauf warten, dass sie zu dir kommt. Ich bin einmal von Oslo nach Sri Lanka zu so einem veganen Yoga- und Ayurveda‑Retreat gefahren. Ich bin da zehn Tage geblieben und es war ein sehr ruhiger Ort. Aber als ich nach Hause kam, habe ich mich gefragt, ob ich wirklich bis nach Sri Lanka fliegen muss, um so eine Ruhe zu spüren? Ich habe daraus gelernt, die Dinge nicht zu kompliziert zu machen. Es ist wichtiger, etwas bewusst zu erleben, als lange nachzudenken.

Bilal Qureshi: Gibt es etwas, das du mir mit auf den Weg geben möchtest?

Erling Kagge: [PAUSE] Ich denke, die wichtigsten Dinge werden in Stille kommuniziert.

[STILLE]

Bilal Qureshi: Für eine Radiosendung auf der Suche nach Ruhe habe ich schon viel zu viel gesprochen. Und es gibt wohl kein passenderes Ende als einen Moment der Stille. [PAUSE] Während ich aus Berlin abreise, denke ich an die Angst vor Stille im Radio. Dort, wo unsere Reise begann und nun endet. Stille sollte gesendet werden – und gehört.

Heute mehr denn je.

Das nehme ich auch für mich mit nach Hause. [STILLE] Mein Name ist Bilal Qureshi.