Nach vier Jahren erneut im Kunstviertel 798  Hinter geheimen Türen

One Gallery 一艺术中心 zeigte als Eröffnungsausstellung die des Galeriebesitzers Qiao Zhenyi 乔振一: The Density of Confusion 惑之密度, kuratiert von Du Xiyun 杜曦云, 29.9.–28.10.2023. Qiao Zhenyi 乔振一: Tug of War 拔河. 120x300x70 cm, Edelstahl, 2023.
One Gallery 一艺术中心 zeigte als Eröffnungsausstellung die des Galeriebesitzers Qiao Zhenyi 乔振一: The Density of Confusion 惑之密度, kuratiert von Du Xiyun 杜曦云, 29.9.–28.10.2023. Qiao Zhenyi 乔振一: Tug of War 拔河. 120x300x70 cm, Edelstahl, 2023. © Stefanie Thiedig

Gerade noch davor, gehen wir nun hinein in die Ausstellungen im Kunstviertel 798 und in die hinter verborgenen Türen. Im Jahr 2020 waren im 798 über 150 Galerien aktiv, das hatte ich für damals ausgerechnet, im Oktober 2023 liefen geschätzt etwa einhundert Ausstellungen. Ich habe mir dreißig, vierzig davon angesehen, in altbekannten und neu eröffneten Räumen.

Auf Kunstschau sieht man viel und findet, wenn es gut läuft, einige interessante Ansätze sowie, im Idealfall, gelegentliche Perlen. Interessant können der formale Auftritt und die inhaltlichen Aussagen sein oder die bespielten Räume und die präsentierten Künstler*innen, bei Perlen kommt alles zusammen. Nach vier Jahren Onlineblick gen China, musste ich mich zunächst herantasten, nicht nur an den Ort, sondern auch an die Kunst. Wie viel ist in der Zwischenzeit passiert, was hat sich verändert? Welche Themen werden behandelt, sind allgemeine Tendenzen aufzuspüren?
  Auffallend ist, dass insbesondere in den privaten Institutionen nicht wenige Großausstellungen westlicher Künstler*innen von der Moderne bis zur Gegenwart gezeigt werden (s. Bildauswahl): im Ullens Center (UCCA) eine umfangreiche Henri Matisse-Show und ein kleinere zu Maria Lassnig; im neuen Meet You Museum ein Bildungsüberblick über westliche Kunstströmungen von Claude Monet bis Jackson Pollock; in den wegen der Gebäudenummerierung B06 Space genannten Räumen ist ebenfalls ein Bildungsprogramm zu sehen, über Einflüsse von Pablo Picasso bis Andy Warhol. Das M Woods Museum zeigt Ann Veronica Janssens und das Hive Center eine Gruppenausstellung des Kurators Saša Bogojev. Vielleicht könnte die mehr als gewöhnlich erscheinende Präsenz westlicher Kunst darin begründet liegen, dass man in den drei Corona-Jahren nicht reisen durfte und von China aus auch jetzt noch wenig international unterwegs ist?
  Vermutlich ist es meinem Westblick und der selektiven Onlineblase geschuldet, dass ich überrascht war, aktuell in Europa relevante Themen wie Nachhaltigkeit und Diversität auch in den Ausstellungen im 798 häufiger als erwartet zu finden. So geschehen etwa bei Platform China, im Zero Art Center, in der HdM Gallery, der Galerie Urs Meile und im Hyundai Motorstudio (s. Bildauswahl). Im Gegensatz zu privaten Gesprächen mit Künstler*innen, fällt die Politisierung von Kunst allerdings sehr verhalten aus – oder findet sich vielleicht ein paar Interpretationsebenen tiefer. Die Gründe liegen auf der Hand, öffentliche Kritik ist unerwünschter denn je. So sprechen ausländische Regierungsvertretungen mit den chinesischen derzeit wohl am unverfänglichsten über Klimafragen, innenpolitisch aber wird etwa nicht nur jegliche Form des Feminismus, geschweige denn weitergehende Diversität, in ihre Schranken verwiesen. Umso interessanter, hier Ansätze zu sehen.
  Anlässlich des Kunstfestivals 798 im Oktober hat die zur Verwaltung gehörende Firma 798 Culture eine Karte des Viertels herausgegeben. Auf dieser erscheint nur die More Art Gallery der folgenden sechs neu eröffneten Galerien (s. Bildauswahl). Unter ihnen sind einige jener, die aufgrund ihres Zugangs als nach außen hin „abgeschottet“ bezeichnen werden können.

Für die Eröffnungsshow der More Art Gallery wurde aktuelle Malerei der Bewohner*innen des 2017 abgerissenen Künstler*innenviertels Heiqiao zusammengetragen. Die Erinnerung an vergangene Zeiten, als Künstler*innen noch im Stadtgebiet zusammenwohnen konnten, wird bewahrt und gleichzeitig fortgesetzt. Vielleicht tanzen Wu Dis Figuren in diesem Sinne zwischen zwei Ebenen. Santo Hall zeigt mit Bu Yunjun ebenfalls einen ehemaligen Heiqiao-Künstler. Bu übersprüht seine Fotografien oder malt in zahlreichen Schichten. Mit diesem Prozess hofft er, Öffnungen zwischen sichtbar und unsichtbar zu finden und in ihnen verzweigte Realitätsebenen zu enthüllen. Ähnlich will die thematisch und stilistisch rasiermesserscharfe Malerei von Wu Linghao in den Räumen von Simulacra eine Magenoperation durchführen, um in ein Hinterland zu gelangen. Bei Hua International betritt man die Queerness-feixenden Installationen in der Galerie durch einen aufgeblasenen Rattenkopf. Vielleicht wird die Show von der Zensur einfach als experimentell verstanden, interessant aber, dass dies hier (doch noch, weiter?) möglich ist.

So wie es in China nicht verwerflich ist, dass Kunst in Einkaufszentren ausgestellt wird, kann eine Galerie niedliche Keramikfiguren neben nachdenklicher Malerei zeigen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Eröffnungsausstellung der inner flow Gallery. Die Figuren von Su Hang blicken auf eine Wasserfläche, die sowohl mit dem Himmel verschmilzt als sich auch über die Figuren auszubreiten beginnt. Die Gestalten wirken statisch, aber nicht wie in Trance. Nehmen sie womöglich die Gegebenheiten hin, wie sie eben kommen? Die One Gallery eröffnet mit einer Ausstellung ihres Besitzers. Qiao Zhenyis Installationen sind großteils aus Stahl und das Thema „Konfusion“ im Titel wirkt zunächst etwas plakativ. Doch die ursprünglichen Objekte werden durch ihre Verzerrung bald zu Subjekten, die sich zwischen Anspannung und Ausharren zu befinden scheinen.

Weitere Ausstellungen umkreisen Themen der Innerlichkeit, der Zwischenmenschlichkeit, der Häuslichkeit oder Natur. Es fällt schwer, all diese Ansätze nicht als möglichen Rückzug und damit politisch interpretieren zu wollen. Es ergeben sich mehr Fragen als Antworten, das ist definitiv geblieben.



S. Teil I: „Nach vier Jahren erneut im Kunstviertel 798: Vor geheimen Türen
Blogpost auf Kulturgut 文化财富 (Oktober 2023): „Beijing im Herbst 2023
Stefanie Thiedig (2022): „Experimentierfeld der Gegenwartskunst in China: Beijings Kunstviertel 798

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