Nach vier Jahren erneut im Kunstviertel 798  Vor geheimen Türen

798
798 © Stefanie Thiedig

Vier Jahre, seit Oktober 2019, war ich nun nicht in China, seit einem knappen Jahr darf man wieder ins Land und seit Sommer sind die Flugpreise wieder bezahlbar. Der Herbst ist die schönste Zeit, nichts wie hin. Als ich bis Ende 2017 gut zehn Jahre in Beijing gelebt habe, war mein Eindruck, dass Leute, die zwei Jahre nicht mehr vor Ort waren, keine Vorstellung davon hätten, was dort vor sich ging.

Long March Space 长征空间, Adresse: 798 Middle 1st Street | 798中一街. Long March Space 长征空间, Adresse: 798 Middle 1st Street | 798中一街. | © Stefanie Thiedig Während ich in der alten Heimat über das Kunstviertel 798 promovierte, legte ich das Jahr 2020 also unter anderem deshalb als Endpunkt fest, um nicht über meine eigene Zeitmarke zu stolpern. Im Oktober 2023 war es dann endlich soweit, und ich stehe im 798. Es ist voll, aber auch nicht voller als sonst an Wochenenden oder wie jetzt an Feiertagen. Es sind allerdings kaum noch Ausländer*innen hier, doch das gilt für das ganze Land. Hoffen wir, dass der Tourismus gerade erst wieder anläuft. Die Verkehrsberuhigung der drei Hauptstraßen im Viertel und ihrer Querverbindungen sticht sofort ins Auge, ein erduldendes Nachsehen haben die äußeren Galerien, wo sich nun alle vorbeischieben. Woran nur aber liegt der sprunghafte Anstieg der Eintrittspreise? An der desolaten Wirtschaftslage, an den Heerscharen einheimischer Besucher*innen? Ist hier gar die Einsicht erwacht, dass Kultur ihren berechtigten Preis hat?
Magician Space 魔金石空间, Adresse: 798 East Street | 798东街. Magician Space 魔金石空间, Adresse: 798 East Street | 798东街. | © Stefanie Thiedig Private Institutionen wie das UCCA, M Woods und Minsheng nahmen zuvor bereits 60–80 RMB Eintritt, nun zahlt man hier 100, 120 bis 180 RMB. So auch im neu eröffneten Meet You Museum oder für die von der Verwaltung des 798-Bezirks ausgerichteten Shows im 798 Cube, im 798 Art Center oder in temporären Räumen – das 798 Culture (die 2007 gegründete, zunächst für Investitionen, ab 2015 insbesondere für Kulturveranstaltungen zuständige Tochterfirma der Sevenstar Group, der Verwaltung des Bezirks) ist definitiv umtriebiger geworden und bedient zunehmend den Unterhaltungsgeschmack im Viertel. Bereits Mitte der 2010er Jahre begannen Galerien, dem Tourismus mit kleinen Eintritten von 5–10 RMB eine Barriere zu schaffen, jetzt soll man 20 oder 30, teils 40 RMB zahlen. Man sei tonghang, aus derselben Branche, lässt einen in die Galerien aber meist weiterhin auch so hinein. Die Galleria Continua ist ein Beispiel, wo man noch umsonst eintreten darf – vermutlich, weil deren italienische Galeristen der westlichen Vorstellung anhängen, eine Galerie sei ein Verkaufsraum und Ikea verlange schließlich auch keinen Eintritt. Ein Angestellter erzählte, während seine Augen den Raum durchflogen, dass Drei-Generationen-Familien sein größter Graus seien: Die Großeltern gingen zu nah heran, die Kinder liefen wild herum und die Eltern scherten sich um nichts oder seien einfach froh, alle beschäftigt zu haben und sich selbst unbedarft umschauen zu können. Er, unser Continua-Angestellter, wiederum sei froh, wenn die aktuelle Ausstellung mit ihren filigranen Skulpturen bald vorbei sei und er nicht mehr nachts Reparaturen anfertigen müsse.

Galerie Urs Meile 麦勒画廊, Adresse: D10, 798 East Street | 798东街D10. Galerie Urs Meile 麦勒画廊, Adresse: D10, 798 East Street | 798东街D10. | © Stefanie Thiedig Alles soweit in anderen Maßstäben, aber noch bekannt. Neu ist, dass sich einige Galerien nun vermehrt nach außen hin abschotten. Fünf Beispiele (s. Bilder): Bei der Galerie Urs Meile ist nur eine der Flügeltüren nicht verhangen, von der Straße aus blickt man in den fast leeren Vorraum. Beim Long March Space hängt seitlich eine Ankündigung, der Eingang ist verspiegelt. Beim Magician Space muss man klingeln, bei Hua International braucht man einen Termin, auf beiden finden sich außen nur kleinformatige Ankündigungen vor metallenen Toren. Dem schwarzen Stahlportal von Simulacra muss man näherkommen, um den auf dem Boden und ausschließlich auf Englisch eingravierten Galerienamen zu lesen. Ansonsten bietet die sie umgebende Betonfront keinerlei Auskünfte. Wenn man die Tür mit nötiger Kraft aufzieht, treten Vorbeiziehende interessiert heran, ob sie nicht auch einen Blick wagen sollen.

Hua International 户尔空间, Adresse: D08-3, 798 East Street | 798东街D08-3. Hua International 户尔空间, Adresse: D08-3, 798 East Street | 798东街D08-3. | © Stefanie Thiedig Das Ganze hat etwas Verlockendes, man fühlt sich eingeweiht. Als Umgang mit Massenbewältigung ist das Vorgehen rein pragmatisch betrachtet natürlich verständlich, aber doch auch schade, da eine niedrigschwellige Heranführung an Kunst und Kultur ausbleibt. Man könnte nun anführen, dies sei nicht die Aufgabe kommerzieller Galerien. Doch auch staatliche Museen, seit 2006 in ganz China kostenlos zugänglich, entwinden sich zusehends ihrem Bildungsauftrag gegenüber der breiten Bevölkerung – in vielen muss man sich inzwischen vorab online registrieren und ein Zeitfenster buchen. Digitalisierung mag nur aus deutscher Sicht ein Problem sein, aus chinesischer lediglich ein weiterer Klick. Aber Kunst wird damit elitärer, im 798 wähnt man sich gar einem Geheimbund zugehörig. Ich war immer sehr von der Offenheit des Areals angetan, an dem Berührungsängste mit Kunst wenn nicht aufgehoben, so doch geringer auszufallen schienen. Wunderbar auch, dass es einen großflächigen Ort wie das Kunstviertel 798 gibt, in dem man alle möglichen Facetten von Kitsch bis echte Kunstperlen entdecken und Kommerz wie Spielerei erleben kann. Deshalb: Lauft alle hinein, und wenn man etwas anfassen darf, steht dies meist dort angeschlagen.
Simulacra, Adresse: 798 Middle 2nd Street | 798中二街. Simulacra, Adresse: 798 Middle 2nd Street | 798中二街. | © Stefanie Thiedig

S. Teil II: „Nach vier Jahren erneut im Kunstviertel 798: Hinter geheimen Türen
Blogpost auf Kulturgut 文化财富 (Oktober 2023): „Beijing im Herbst 2023
Stefanie Thiedig (2022): „Experimentierfeld der Gegenwartskunst in China: Beijings Kunstviertel 798

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