Die tragischen Geschichten von Liu Xuezhou und Xiaohuamei haben eine sozialmediale Flutwelle der Empörung ausgelöst, die kein Ende zu nehmen scheint und den gesellschaftlichen Diskurs über ein Problem intensiviert hat, das vor allem in ärmeren Regionen Chinas herrscht: Menschenhandel.
Trigger-Warnung
Der nachfolgende Artikel über Menschenhandel in China enthält in Text- und Bildform Bezüge zu Gewalt und Missbrauchserfahrungen und kann dich an bereits erlebte, verletzende und belastende Situationen erinnern.
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Eine Übersicht weiterer Beratungsangebote bei Krisen hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention zusammengestellt.
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„Hallo, mein Name ist Liu Xuezhou und ich suche meine biologischen Eltern. Ich bin zwischen 2004 und 2006 geboren und wurde im Alter von ungefähr drei Monaten von meinen Eltern, meinen Adoptiveltern in Datong, Provinz Shanxi gekauft. Ich bin gesund, ich hab keine körperlichen Einschränkungen oder Erkrankungen, ich hab auch keine besonderen Muttermale oder Narben. Als ich vier Jahre alt war, sind meine Adoptiveltern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich lebe mittlerweile in Nangong, Provinz Hebei und gehe in Shijiazhuang zur Schule. Ich wünschte, ich hätte meine biologischen Eltern schon früher gefunden, um die ganze verpasste Zeit aufzuholen. Ihr könnt mir hoffentlich helfen diese Nachricht zu verbreiten, damit sie bei Leuten ankommt, die vielleicht meine Eltern sein könnten.”
So begann das letzte Kapitel einer tragischen Geschichte, die nach und nach in ganz China bekannt wurde. Mit seinem Video-Hilferuf bezog Liu von Anfang an chinesische Netizens ein und gab ihnen die Möglichkeit, seiner Geschichte in den sozialen Medien und Nachrichten direkt zu folgen. Mittlerweile ist seine Geschichte auch im Kontext einer größeren Diskussion über Menschenhandel in China zu verstehen. Immer mehr Chines*innen machen auf Menschenhandel aufmerksam und fordern Gerechtigkeit für die Opfer, besonders in ärmeren Regionen des Landes.
Liu Xuezhou: verkauft, verwaist, verlassen
Nachdem Liu Xuezhou sein Video auf der chinesischen Version von TikTok gepostet hatte, ging das Video schnell viral und verschiedene chinesische Nachrichten-Portale fingen an über Lius Suche nach seinen biologischen Eltern zu berichten.Lius Resilienz war beeindruckend und er wurde von vielen dafür bewundert. In Interviews erzählte er zum Beispiel, dass seine Familiengeschichte nicht alles entscheidend für ihn sei und er etwas aus seinem Leben machen wolle. Seit 2018 verdiente er neben der Schule ein bisschen Geld, wollte nach dem Abschluss studieren.
Liu Xuezhou, Foto von seinem Weibo-Account | via Weibo Nachdem seine Adoptiveltern bei einem Unfall mit Feuerwerkskörpern ums Leben gekommen waren, Liu war damals noch im Kindergarten, wurde er von seinen Großeltern weiter großgezogen und später zur weiterführenden Schule geschickt, wo er auch wohnte. Seine Kindheit war nicht einfach, als „wildes” Kind ohne Eltern wurde er gemobbt und musste die Schule bis zur sechsten Klasse mindestens vier Mal wechseln.
Im chinesischen Internet nahmen sich viele der Sache an und wollten Liu helfen, der als Baby entführt, so vermutete man, und dann von seinen Adoptiveltern über einen Mittelsmann in Datong für 30.000 Yuan (ca. 4300 Euro) gekauft wurde.
Obwohl auf Lius Geburtsschein steht, dass er im September 2005 auf die Welt kam, kennt sein genaues Alter niemand und seine Großeltern können sich nicht an die genauen Umstände seiner Adoption erinnern. Ende 2021 hatte Liu schließlich das Gefühl, dass es an der Zeit war, nach Antworten zu suchen und seine biologischen Eltern zu finden. Wie lief die Adoption ab? War er entführt worden? Suchen seine biologischen Eltern vielleicht noch nach ihm?
Seine Nachforschungen, unter anderem über Impfregister und mithilfe der Polizei, führten Liu schließlich zu seinen biologischen Eltern. Am Abend des 15. Dezember schickte Liu einem Journalist, der gerade dabei war eine Story über ihn zu schreiben, eine Nachricht: „Ich hab Mama und Papa gefunden!”
Die Geschichte seiner biologischen Eltern war allerdings nicht das, was Liu erwartet hatte. Nachdem ein DNA-Test die Verwandtschaft bestätigen konnte, wollte Liu sich mit ihnen treffen, doch was als schönes Wiedersehen geplant war, wurde schnell zur bitteren Enttäuschung.
Lius biologische Eltern leben getrennt in Datong. Liu erfuhr, dass er als Baby gar nicht entführt, sondern von seinem Vater verkauft worden war. Er war uneheliches Kind der Eltern und sein Vater benutzte das Geld aus dem Verkauf, um die Hochzeit mit der Mutter finanzieren zu können. Sie heirateten und bekamen ein weiteres Kind, ließen sich aber schließlich scheiden. Beide heirateten später nochmal und Lius Vater ließ sich sogar zwei weitere Male scheiden.
Zwar kamen im Januar durch seine Posts in den chinesischen sozialen Netzwerken bereits nach und nach einige Details ans Licht, aber die genauen Umstände wurden erst klar, als Liu am 24. Januar einen Abschiedsbrief auf Weibo veröffentlichte, ein paar Minuten nach Mitternacht.
Liu Xuezhous Abschiedsbrief auf Weibo | via Weibo Der Weibo-Post hat den Titel „mit wenig gekommen, mit wenig gegangen” und enthält einen langen Brief, in dem Liu seine Situation erklärt.
In dem Brief schreibt Liu, dass er nicht nur als Baby verkauft und mit vier Jahren zum Waisen wurde, sondern auch in der Schule gemobbt und von einem Lehrer belästigt wurde. Seine Tante, die er wie eine Mutter liebte, ließ ihn im Stich, als ihre eigene Ehe in die Brüche ging.
Liu erkrankte an einer Depression, aber schöpfte durch die Geschichte von Sun Zhuo (孙卓) wieder Hoffnung, die 2021 Schlagzeilen machte: 2007 wurde Sun Zhuo im Alter von vier Jahren von einem Menschenhändler auf offener Straße entführt. Seine biologischen Eltern gaben ihren Sohn nie auf und investierten über Jahre alle verfügbaren Ressourcen in die Suche. Der chinesische Spielfilm Dearest basiert zum Teil auf dieser Geschichte.
Nach jahrelanger Suche wurde Sun 2021 mithilfe der Behörden und dank neuer Gesichtserkennungstechnik endlich gefunden. In einer überraschenden Wendung äußerte Sun dann aber, er wolle lieber bei seinen Adoptiveltern bleiben, mit denen er über zehn Jahre gelebt hatte. Durch die Geschichte wurde Menschenhandel ein viel diskutiertes Thema in China. Suns biologischer Vater sagte Ende 2021 in einem Interview: „Für 2022 ist mein größer Wunsch, dass alle entführten Kinder endlich gefunden werden mögen.”
Sun Zhuo mit seinen biologischen Eltern | Bild: Screenshot Die Geschichte von Sun Zhuo motivierte Liu, nach seinen eigenen Eltern zu suchen, und durch Sun Zhuo in den Schlagzeilen bekam auch der erste Video-Hilferuf von Liu mehr Aufmerksamkeit. Viele drückten ihr Mitgefühl aus und hatten Hoffnung, dass Liu seine biologischen Eltern finden würde.
Liu beschreibt weiter, wie sein biologischer Vater sich nicht über die erste Kontaktaufnahme gefreut habe und auch nicht wirklich an einem Treffen interessiert gewesen sei. Sein Vater traf ihn schließlich doch, aber der weitere Kontakt danach war nicht besonders nett. Sein Vater erklärte ihm, er habe ihn als Baby verkauft, um mit dem verdienten Geld die Mitgift für Lius Mutter bezahlen zu können. Diese Erklärung brach Liu das Herz und er kam tagelang nicht mehr in den Schlaf: Er war nicht entführt worden und seine Eltern hatten auch nie nach ihm gesucht.
Liu und sein biologischer Vater am 26. Dezember 2021 | Bild: Screenshot Seine biologische Mutter war auch nicht besonders begeistert, dass Liu den Weg zu ihr zurückgefunden hatte. Liu fühlte sich ungeliebt wie eh und je und wusste auch nicht mehr, wo er unterkommen und zuhause sein konnte. Nachdem er seinen biologischen Vater um finanzielle Unterstützung beim Wohnungskauf oder bei der Miete gebeten hatte, blockte dieser ihn auf WeChat. Liu entschied sich daraufhin, gegen seine Eltern vor Gericht zu ziehen.
In den chinesischen sozialen Netzwerken teilte Liu Screenshots von Unterhaltungen, die die Situation mit seinen Eltern deutlich machten. Liu wurde dafür von Netizens im chinesischen Internet kritisiert und auch gemobbt. Ihm wurde vorgeworfen, seine biologischen Eltern nur aus finanziellem Kalkül gesucht zu haben.
Das wurde schließlich zu viel für den Teenager. In seinem Abschiedsbrief schreibt er, dass er sich Bestrafung für seine Menschenhändler und seine biologischen Eltern wünscht. Liu wurde später tot am Strand von Sanya, Provinz Hainan gefunden. Er starb nur einen Monat nach dem ersten Wiedersehen mit seinen biologischen Eltern im Alter von 15 Jahren.
Bisher wurde sein Abschiedsbrief über 170.000 Mal auf Weibo geteilt, mit über 2,4 Millionen Likes und Tausenden Kommentaren.
Lius Tod wurde augenblicklich eins der meistdiskutierten Themen und führte zu Empörung in ganz China. Viele drückten ihr Mitgefühl aus und waren wütend auf all diejenigen, die ihn über die Jahre im Stich gelassen hatten: „Das arme Kind, verkauft und verlassen von den Eltern, in der Schule gemobbt und erniedrigt, vom Lehrer belästigt und diskriminiert, dazu jetzt das Cybermobbing von den ganzen Nationalisten in China. Jetzt ist er tot!”
Das himmelschreiende Unrecht, angefangen beim Verkauf als Baby, machte die Menschen besonders wütend. China Digital Times machte darauf aufmerksam, dass auf der Weibo-Seite des Corona-Whistleblowers Dr. Li Wenliang viele auch den Namen Liu Xuezhou erwähnen. Li Wenliang war einer von acht Whistleblowern, die zu Beginn der Epidemie in Wuhan Ende 2019 auf die Gefahr des neuartigen Virus aufmerksam machen wollten, aber von den Behörden mundtot gemacht wurden. Er infizierte sich und starb später selbst an den Folgen der Erkrankung, gefolgt von einer Welle der Wut und Entrüstung im chinesischen Internet.
In den vergangenen zwei Jahren ist die Weibo-Seite von Li Wenliang zu einer Art Online-Pilgerstätte geworden, wo Menschen Nachrichten hinterlassen und ihre Anteilnahme ausdrücken oder auf andere soziale Missstände aufmerksam machen. In einem von Tausenden Kommentaren steht: „Vor zwei Jahren kam ich nicht in den Schlaf wegen dir und mein Weibo-Account wurde zensiert, weil ich was über dich gepostet habe. In den letzten zwei Jahren hab ich mich oft gefragt: Wird die Welt nochmal besser? Aber Geschichten wie die von Liu Xuezhou oder der achtfachen Mutter aus Xuzhou enttäuschen mich immer wieder aufs Neue. Wenn du Liu Xuezhou im Himmel triffst, bitte sei lieb zu ihm.”
Auf Li Wenliangs Weibo-Page wird also nicht nur Liu Xuezhou erwähnt, sondern auch eine achtfache Mutter aus Xuzhou – eine andere tragische Geschichte, die derzeit die chinesischen sozialen Medien dominiert.
Eine Mutter in Ketten
Ende Januar 2022, etwa zu der Zeit, als Liu Xuezhous Geschichte im chinesischen Internet viral ging, machte plötzlich noch ein andere Sache die Runde: Ein Video auf TikTok von einer Frau in Ketten in irgendeiner Hütte löste eine Welle der Empörung aus und Tausende Netizens forderten die Behörden auf, die Umstände der Frau aufzukären.Das Video, gefilmt von einem örtlichen Vlogger im Dorf Huankou in Xuzhou, zeigt eine Frau in einer runtergekommenen Hütte bei eisigen Temperaturen. Sie macht einen verwirrten Eindruck und scheint sich nicht richtig verständigen zu können.
Screenshot vom Video auf TikTok | via TikTok In weiteren Videos auf TikTok war dann schließlich zu sehen, wie der Ehemann der Frau, ein Mann namens Dong Zhimin (董志民), mit seinen acht Kindern im Haus der Familie spielt – direkt neben der Hütte, in der er seine Frau in Ketten hält.
Das Video löste eine Welle der Empörung im chinesischen Internet aus und viele wollten wissen, wie es zu dieser Situation gekommen war. Warum war die Frau in Ketten? Ist sie Opfer von Menschenhändlern? Wird sie misshandelt? Wie konnte sie acht Kinder kriegen? Wurde sie dazu gezwungen? Viele chinesische Netizens äußerten ihre Spekulationen und machten ihrem Ärger Luft in unzähligen Posts und Kommentaren. Weibo zensierte einige der Hashtags, aber die Geschichte ging schließlich überall viral. Diverse Illustrationen und Essays machten die Runde.
Eine Mutter in Ketten | via Weibo Die örtlichen Behörden reagierten schließlich auf die Welle der Empörung und nahmen den Fall auf. Eine erste Stellungnahme wurde vom Landkreis Feng, in dem das Dorf Huankou liegt, am 28. Januar veröffentlicht. In der Stellungnahme heißt es, die Frau mit dem Nachnamen Yang (杨) habe ihren Mann 1998 geheiratet und es gebe keine Hinweise auf Menschenhandel.
Die Frau leide an psychischen Problemen und es gebe immer wieder plötzliche Gewaltausbrüche, auch gegen Kinder und Senioren. Die Familie halte es für sinnvoll, die Mutter während solcher Episoden nicht im Haus zu haben, sondern in einer Hütte nebenan.
Diese viel zu oberflächliche Stellungnahme führte dazu, dass sich immer mehr Menschen der Sache annnahmen, darunter einflussreiche Blogger und Influencer auf Weibo. Derweil war Dong Zhimin damit beschäftigt, anderen Vloggern in Huankou Interviews zu geben. Er sprach über seine acht Kinder, sieben Söhne, eine Tochter, die bald die Versorgung der Familie übernehmen müssten. Er nutzte auch seinen neuen „Ruhm”, um ein bisschen Geld mit Social Media zu verdienen. Dies führte nur zu noch mehr Wut und Empörung über Dong und die ausbeuterische Beziehung zu seiner Frau und Mutter seiner acht Kinder.
Screenshots vom Video auf TikTok | via TikTok Die sozialmediale Welle der Empörung wurde immer größer, worauf die örtlichen Behörden mit weiteren Stellungnahmen reagierten. Am 30. Januar wurde von offizieller Stelle im Landkreis Feng erklärt, die Frau heiße Yang *Xia (杨某侠) und habe früher als „Bettlerin auf der Straße” gelebt, bevor sie im Sommer 1998 schließlich von der Familie Dong aufgenommen und mit Dong Zhimin, damals etwas über 30, verheiratet wurde.
Das örtliche Standesamt habe bei der Hochzeit leider versäumt, Yangs Identität richtig festzustellen und das Familienplanungsbüro außerdem auch Fehler bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung gemacht. In der Stellungname heißt es weiter, bei Yang sei eine Schizophrenie diagnostiziert, für die sie auch in ärztlicher Behandlung sei.
Im Februar wurden weitere Stellungnahmen veröffentlicht, die dann schließlich das bestätigten, was viele im chinesischen Internet schon längst vermutet hatten, nämlich dass Yang tatsächlich Opfer von Menschenhändlern war. Die Ermittlungen hatten die Behörden schließlich in das Dorf Yagu, Provinz Yunnan gebracht. Auf das Dorf waren sie über die Heiratsurkunde gekommen.
Yang konnte über einen DNA-Test sicher als Xiaohuamei (小花梅) identifiziert werden, geboren und aufgewachsen in Yagu. In weiteren Stellungnahmen der Behörden heißt es, Xiaohuamei habe 1994 das Dorf Yagu verlassen und geheiratet, habe sich nach ihrer Scheidung zwei Jahre später aber für eine Rückkehr nach Yagu entschieden, wo sich erste Symptome einer psychischen Erkrankung gezeigt hätten.
Ihre Eltern, mittlerweile verstorben, hätten damals dann eine Dorfbewohnerin damit beauftragt, die Tochter in die Provinz Jiangsu zu bringen und dort erneut zu verheiraten. Die besagte Dorfbewohnerin erklärte, sie habe Xiaohuamei mit dem Zug von Yunnan nach Donghai, Provinz Jiangsu gebracht, wo sie kurz nach der Ankunft am Bahnhof angeblich plötzlich verschwunden sei. Die Dorfbewohnerin meldete Xiaohuamei allerdings nie als vermisst und informierte auch nicht die Familie.
Diese Dorfbewohnerin, ein weiterer Mittelsmann und der Ehemann Dong Zhimin müssen sich nun wegen Menschenhandels vor Gericht verantworten. Berichten zufolge wurde Xiaohuamei 1998 in Donghai an einen Mann für 5000 Yuan (ca. 700 Euro) verkauft. Ihr gelang zwar eine Flucht, aber sie wurde zwei weitere Male verkauft und landete so schließlich bei Familie Dong.
Ein viel geteiltes Bild im chinesischen Internet | via Weibo Die genauen Umstände der „achtfachen Mutter in Ketten” werden immer noch diskutiert, aber klar ist jetzt schon, dass Xiaohuamei für das Leid vieler weiterer Frauen steht, die Opfer von Menschenhändlern sind. In den vergangenen Wochen sind weitere Geschichten von anderen Frauen ans Licht gekommen, die möglicherweise auch Opfer von Menschenhändlern sind – und die sozialmediale Welle der Empörung und Forderungen nach Gerechtigkeit für die Frauen nehmen kein Ende.
Ein Funke entfacht einen Flächenbrand
Erwähnenswert ist, dass sowohl im Fall von Liu Xuezhou wie im Fall von Xiaomeihua nicht offizielle Medien den Stein ins Rollen gebracht haben, sondern Videos auf TikTok, die dann von größeren Accounts weiterverbreitet wurden.Die Videos von Liu Xuezhou und Xiaohuamei waren anfangs auf Accounts mit nicht besonders vielen Followern nur kleine Funken im chinesischen Internet, die aber einen nicht aufzuhaltenden sozialmedialen Flächenbrand mit über 900 Millionen Netizens, unzähligen Posts und Kommentaren auslösen konnten.
Beide Geschichten konnten mehr oder weniger in Echtzeit verfolgt werden, beide Geschichten waren irgendwann zu groß, um von den staatlichen Medien ignoriert zu werden, und beide Geschichten stehen symbolisch für größere soziale Missstände im heutigen China, insbesondere Menschenhandel.
Seit die Geschichten viral sind, wird Menschenhandel mehr behördliche Aufmerksamkeit zuteil, vor allem in den ärmeren Regionen Chinas mit schlechten administrativen Strukturen. Der illegale Handel insbesondere von Frauen und Kindern hat verschiedene Gründe, unter anderem Zwangsehen oder illegale Kinderadoption in Gebieten mit zu wenig potenziellen Ehepartnerinnen.
China Daily berichtet, dass in Regierungskreisen nun härtere Strafen für Menschenhändler gefordert werden. Die Höchststrafe für den Kauf von entführten Frauen oder Kindern beträgt momentan drei Jahre.
Im Fall von Xiaomeihua gab es zwar Zensur, aber die nicht endende sozialmediale Welle der Empörung führte dazu, dass Behörden den Fall irgendwann nicht mehr ignorieren konnten. Die Frau wurde aus ihrer Gefangenschaft befreit, die Menschenhändler müssen sich vor Gericht verantworten, außerdem 17 Funktionäre, die für Fehlverhalten in dem Fall mit Disziplinarmaßnahmen rechnen müssen.
Die Adoptiveltern von Liu Xuezhou haben eine erneute Aufrollung des Falls bei der örtlichen Polizei in Sanya beantragt. Ihr Antrag wurde am 23. Februar akzeptiert und gegen diverse beteiligte Personen wird ermittelt. Auf Weibo fordern mittlerweile viele eine Bestrafung der biologischen Eltern.
Ende Januar 2022 erkannten die staatlichen Medien in China nach dem Tod von Liu an, dass die große öffentliche Anteilnahme und Welle der Empörung auch verändert hat, wie die Regierung und Behörden mit der Öffentlichkeit interagieren.
Laut Dr. Liu Leming, Professor für Politikwissenschaft an der East China University, dürften die Regierung und Behörden in Zukunft wesentlich schneller auf solche sozialmedialen Ereignisse reagieren: „Wenn solche Vorfälle ans Licht kommen, will die Öffentlichkeit sehen, ob ihre Forderungen ernstgenommen werden und wer sich um ihre Belange kümmert.”
Angesichts der Geschichten von Liu Xuezhou und Xiaohuamei scheint die Öffentlichkeit zufrieden zu sein, dass zumindest etwas unternommen wurde, allerdings nicht mit der Art und Weise der behördlichen Arbeit. Viele sind der Meinung, die Behörden seien nicht transparent genug gewesen, die örtlichen Regierungsstellen müssten mehr tun, um solche Fälle zu vermeiden, überhaupt müsse mehr gegen den Menschenhandel in China getan werden.
Die sozialmediale Welle der Wut und Empörung ebbt nicht ab, die Schicksale der beiden werden weiter geteilt und kommentiert, um mehr Bewusstsein zu schaffen und Druck auf örtliche Behörden und Gesetzgeber zu machen. Liu ist nicht mehr am Leben und Xiaohuamei, immer noch in ärztlicher Behandlung, kann sich nicht selbst äußern, aber chinesische Netizens heben solidarisch ihre Stimme für die beiden. Dadurch hat sich nicht nur etwas für die beiden selbst bewegen lassen, sondern Behörden werden in Zukunft anders auf solche Fälle reagieren müssen.
Derweil verdeutlichen unzählige Illustrationen und andere kleine Kunstwerke, Liu Xuezhao und Xiaohuamei gewidmet und vielfach geteilt im chinesischen Internet, dass ihre Geschichten nicht vergessen werden und die Menschen weiterhin beschäftigen. „Mein Kleiner, der Frühling ist da”, heißt es in einer von Tausenden Nachrichten auf Liu Xuezhous Weibo-Seite, „du hast durchgemacht, was eigentlich keinem widerfahren darf. Wir, die Erwachsenen, hätten uns um dich kümmern müssen. Ruhe jetzt in Frieden, wir erledigen den Rest für dich.”
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März 2022