Neben dem „Gras-Schlamm-Pferd” oder dem „Fluss-Krebs” – auf Chinesisch beides Homophone von beleidigenden bzw. politisch sensiblen Begriffen, um automatische Schimpfwortfilter und Zensur im chinesischen Internet zu umgehen – gibt es nun ein weiteres mythisches Tier, das im chinesischen sozialmedialen Dschungel heimisch ist: das „Grüne Pferd” – ein begehrter Begleiter, der einen auf Reisen beschützen und vor Quarantänen und Lockdowns bewahren kann, solange man sich ausreichend kümmert.
„Grünes Pferd” heißt auf Chinesisch lǜmǎ 绿马 und wird exakt so ausgesprochen wie das Wort „Grüner Code” — lǜmǎ 绿码, womit wiederum der grüne QR-Code gemeint ist, der in chinesischen Corona-Apps angezeigt wird, wenn alles in Ordnung ist.Diese Apps und das Scannen von entsprechenden QR-Codes sind seit 2020 fester Teil des Alltags in China. In einer sozialmedialen Umgebung, in der Homophone und Wortspiele beliebt und sehr verbreitet sind, hat es dann nicht lange gedauert, bis aus dem „Grünen Code” das „Grüne Pferd” wurde. Das Grüne Pferd | via Weibo Das chinesische Health-Code-System wurde entwickelt, um nach Ausbruch der Epidemie in China möglichst schnell zu einem einigermaßen normalen Alltag zurückzukehren und wurde anfangs von vielen dafür gefeiert, die Ausbreitung des Virus in China zu verlangsamen. Allerdings hat das System nach und nach auch neue Probleme geschaffen und es formiert sich zunehmend Widerstand gegen das, was viele als eine neue Form digitaler staatlicher Kontrolle sehen.
Das chinesische Health-Code-System
Im Februar 2020 steckte China noch mitten im Kampf gegen das neuartige Virus, aber die großen chinesischen Tech-Giganten wetteiferten bereits darum, möglichst schnell digitale Lösungen auf den Markt zu bringen, um die Epidemie in China unter Kontrolle zu bringen.Nur acht Wochen nach dem Ausbruch in Wuhan wurde von Alibaba (in der App Alipay) und von Tencent (in der App WeChat) ein System (jiànkāngmǎ 健康码) entwickelt, das je nach Infektionsrisiko einen farbigen Code zuweist und als elektronischer Pass für öffentliche Orte, Restaurants, Büros oder auf Reisen fungiert.
Codescannen gehört zum Alltag | via Tech Sina 2020 In Hangzhou und in Shenzhen, Sitze der Tech-Giganten Alibaba und Tencent, wurde im Februar 2020 das System zuerst eingeführt, aber auch andere Städte führten in Zusammenarbeit mit Alibaba oder Tencent schnell entsprechende Systeme ein. Ende Februar wurde auf WeChat erstmals ein chinaweites System eingebunden.
Die Covid-Codes können nun durch Plugins in den Apps Alipay und WeChat oder in speziell dafür vorgesehenen Apps von lokalen Regierungen abgerufen werden. Neben diesem Health-Code-System gibt es auch noch die „Big Data Travel Card” – besser bekannt als „Grüner Pfeil”. Mit diesem System werden mithilfe von Handydaten die Aufenthaltsorte der letzten Tage festgehalten und ermittelt, ob man sich in einem Risikogebiet aufgehalten hat. Dieses System gibt es auch als Plugin innerhalb von WeChat oder kann als eigenständige App runtergeladen werden.
Der Grüne Pfeil hält fest, wo man sich zuletzt aufgehalten hat | © Visual People Das Health-Code-System ist nicht so zentralisiert, wie man vielleicht meinen könnte. Das System ist sogar ziemlich fragmentiert und kompliziert. Es gibt im Prinzip zwei Systeme in China, das eine System heißt „Health Information Code” (防疫健康信息码) und wird von der Regierung zentral betrieben, dieses System kann auch von Menschen benutzt werden, die keinen chinesischen Personalausweis haben (einschließlich Menschen aus Hongkong, Macao und Taiwan).
In China mehr genutzt wird allerdings das andere System, nämlich das lokale Pendant zum zentralen System, das von den jeweiligen Provinzen und anderen lokalen Regierungen betrieben wird. Es gibt mindestens 31 verschiedene lokale Health-Code-Apps, darunter Beijings „Health Kit” (北京健康宝), Shanghais „Suishenma” (随申码), Jiangsu „Sukangma” (苏康码) oder Anhuis „Ankangma” (安康码). Manchmal gibt es sogar zwei Systeme am selben Ort, in Shenzhen etwa gibt es die App „Shen-i-nin” (深i您) sowie „Yuekangma” (粤康码).
Diese lokalen Covid-Apps werden von den jeweiligen Provinzen und städtischen Regierungen entwickelt und sind nicht immer miteinander kompatibel. Das bedeutet, man muss sich bei Reisen durch verschiedene Provinzen und Städte immer wieder für andere Health-Codes registrieren. Obwohl schon 2020 eine Zusammenführung der vielen verschiedenen Systeme vorgeschlagen wurde, ist dies bisher noch nicht geschehen, weil die unterschiedlichen Systeme und die dazugehörigen Apps unterschiedliche Funktionen haben und von unterschiedlichen lokalen Regierungsorganen betrieben werden. Anfang September 2022 hat Chinas Nationale Gesundheitskommission verkündet, dass man mit verschiedenen Regierungsorganen in Kontakt sei, um die Kompatibilität der verschiedenen Systeme in China zu verbessern.
Wer bekommt nun einen grünen, gelben oder roten Code? Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter erfasste personenbezogene Daten, manuell eingetragener Gesundheitsstatus, Testergebnisse, Reisehistorie und mehr – das System funktioniert, indem es verschiedene Datenbanken anzapft.
Der grüne Code bedeutet, dass man als sicher und mit geringem Infektions- und Übertragungsrisiko eingestuft wird, der gelbe Code bedeutet mittleres Risiko und Selbstisolation zu Hause – und der am meisten gefürchtete rote Code bedeutet, dass man entweder positiv getestet worden ist oder ein hohes Infektionsrisiko hat.
Mit einem roten Code hat man keinen Zugang zu öffentlichen Orten mehr und man muss sofort in Quarantäne. Wenn die Quarantäne vorbei ist und man mehrfach negativ getestet wurde, wird der Code wieder grün.
Die drei farbigen Codes | via Tech Sina 2020 Ende 2020 wurden solche Health-Code-Systeme von 900 Millionen Menschen in China benutzt. Es gibt zwar keine neueren Statistiken, aber im Prinzip kommt man ohne die Apps in China nicht mehr durch den Alltag. In den Apps werden auch Testergebnisse angezeigt und seit 2021 auch der Impfstatus.
Ältere Menschen verlieren den Anschluss
Das System ist zwar einigermaßen wirksam, aber trotzdem hat es einige Kontroversen gegeben. Ein großes Problem besteht darin, dass man im Prinzip gezwungen ist ein Smartphone zu besitzen und die entsprechenden Apps zu benutzen. Das schafft Probleme für kleinere Kinder ohne Smartphone und auch für diejenigen, die digital nicht sehr bewandert sind, darunter auch Senior*innen.Obwohl die Benutzung von Smartphones, Internet und QR-Codes in China sehr verbreitet ist, mobiles Bezahlen etwa mittlerweile sogar gängiger ist als Bargeld, benutzten im Juni 2020 immer noch mehr als 60 Prozent der über 60-jährigen kein Internet. In Zeiten von Zero-Covid-Politik bedeutet dies, dass man nur noch schwerlich durch den Alltag kommt.
Die chinesischen Behörden wollen es den Senior*innen leichter machen, zum Beispiel durch nutzerfreundlichere Plattformen oder Alternativen, etwa Offline-Codes. Aber angesichts der unterschiedlichen Systeme in den verschiedenen Regionen und fehlende Verfügbarkeit von Offline-Codes an machen Orten, haben viele ältere Menschen es immer noch schwer.
„Heute haben sie im Viertel meiner Großmutter PCR-Tests gemacht”, schreibt eine Frau aus Shanxi auf Weibo: „In der Gegend meiner Großmutter gibt es viele ältere Menschen und ich hab heute gesehen, dass viele von ihnen kein Smartphone haben, nur einfache Senioren-Handys, aber für den PCR-Test müssen sie einen Code scannen. Ein alter Herr hat gefragt, was man ohne Smartphone machen soll, und die haben ihm gesagt, dass er besser mit Sohn oder Tochter wiederkommt, die das dann für ihn machen. Aber die Testergebnisse werden ja auch online abgerufen, deswegen können sie die gar nicht sehen und sich wirklich nur schwer im öffentlichen Raum bewegen.”
In den chinesischen sozialen Netzwerken gibt es viele Storys über ältere Menschen und die schwierigen Situationen, in denen sie sich im Alltag wiederfinden, weil sie kein Smartphone haben oder nicht wissen, wie die Health-Codes funktionieren.
Im August 2022 ging eine Story über einen älteren Herrn aus Shandong viral, der jeden Tag zehn Kilometer zu Fuß gehen musste, weil er ohne App nicht mit dem Bus fahren konnte. Eine andere Story war über jemanden aus Hengyang, der nur eingeschränkt sehen und deswegen keinen Health-Code einrichten und nicht Bus fahren konnte. Wiederum ein anderer 70-jähriger war im Mai drei Tage lang in einem Bahnhof in Wuxi eingesperrt, weil er kein Smartphone hatte und einen Code scannen musste, um den Bahnhof zu verlassen.
Ein älterer Mann mit Smartphone | Bild: Screenshot In einem anderen viralen Video ist ein älterer Mann zu sehen, der in den Bus einsteigt und dann aber mit dem Codescannen nicht zurechtkommt. Der Fahrer wird ungeduldig und der Mann steigt schließlich wieder aus, weil ihm die Situation unangenehm ist.
„Diese Herzlosigkeit ist gruseliger als die Pandemie selbst”, kommentiert jemand auf Weibo.
Roter Code: Kontroverse um digitale staatliche Kontrolle
Ein anderes Problem, das die chinesischen Netizens in dieser neuen Ära der Health-Codes beschäftigt, ist möglicher Datenklau und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aus Gründen, die nichts mit Covid zu tun haben. Einige Fakten sind immer noch nicht ganz klar, zum Beispiel welche Daten eigentlich genau von den Apps gesammelt werden und wer Zugang dazu hat oder wie die Daten verarbeitet und gespeichert werden.Manche machen in den sozialen Netzwerken ihrem Unmut darüber Luft, dass ihr Health-Code einfach plötzlich die Farbe gewechselt hat: „Nach meinem Covid-Test letztens war mein Code grün. Am Tag danach wache ich auf und der Code ist auf einmal gelb, dann hab ich einen weiteren Test gemacht, aber der Code war immer noch gelb. Am dritten Tag wurde er wieder grün. Am Nachmittag war er dann wieder gelb. Am vierten Tag war er wieder grün. Abgesehen von den Tests war ich die ganze Zeit zu Hause. Keine Ahnung, was los war.”
Im Juni sorgte ein Vorfall in Zhengzhou für besonders viel Aufmerksamkeit. Die Health-Codes einer Gruppe Demonstrierender wurden plötzlich rot, was im chinesischen Internet zu einer Welle der Entrüstung führte: Menschen in der Provinz Henan hatten wegen eines Finanzskandals seit einiger Zeit Probleme, ihre Ersparnisse vom Konto abzuheben. Als ein paar Dutzend Kontoinhaber*innen im Juni 2022 dann schließlich in die Provinzhauptstadt Zhengzhou reisten, um an ihr Geld zu kommen, wurden ihre Health-Codes plötzlich rot. Das geschah unerwartet und war ziemlich merkwürdig, zumal es keine neuen Infektionen in der Nähe gab. Begleitende Familienmitglieder, die genau dieselbe Reise hinter sich hatten, waren davon offenbar nicht betroffen. Deswegen gingen viele davon aus, dass die Codes gezielt manipuliert wurden, um die Bewegungsfreiheit der Demonstrierenden einzuschränken.
„Wer ist verantwortlich für die veränderten Codes?”, war eine viel diskutierte Frage auf Weibo. Viele beschuldigten die Behörden in Henan, ihre Macht missbraucht zu haben und die Menschen in Zhengzhou vom rechtmäßigen Protest abhalten zu wollen. Obwohl die Behörden in Henan angaben nicht zu verstehen, was geschehen war, wurden Beamte später für ihr Handeln disziplinarisch belangt.
Dieser Vorfall trat weitere Diskussionen über die rechtlichen Aspekte und Risiken rund um die Health-Codes los. Obwohl viele Menschen in China die Systeme grundsätzlich unterstützen, gibt es dennoch Bedenken, dass fehlende Transparenz und Aufsicht aus diesen Systemen ein Werkzeug zur Überwachung macht, das den falschen Leuten in die Hände fallen könnte.
Der einflussreiche politische Kommentator Hu Xijin äußerte sich auch zu dem Thema und sagte, die Codes dürften nur zur reinen Covid-Eindämmung eingesetzt werden.
„Die Tatsache, dass in Henan einfach so die Codes der Protestierenden rot gemacht wurden, sagt einiges über die Möglichkeiten der IT”, sagt ein Tech-Blogger auf Weibo. Ein anderer kommentiert: „Wir gewöhnlichen Leute haben freiwillig viel zu viel von unserer Privatsphäre abgegeben im Dienste der Covid-Eindämmung. Der aktuelle Missbrauch der Health-Codes ist wirklich eine Verletzung unserer Rechte als Bürger. (…) Die Regierung sollte schnell alle Systeme zusammenführen und unter strenge Aufsicht stellen, und sobald die Pandemie vorbei ist, sollten die Systeme sofort wieder abgeschafft werden.
Grünes Pferd: Endloser Ritt in die Zukunft?
Werden die „Grünen Pferde” und Health-Codes wieder aus dem Alltag verschwinden? Und wenn ja, was passiert mit den ganzen gesammelten Daten? Obwohl die Zeit der Pandemie noch nicht vorbei ist (und die Frage offen bleibt, was denn überhaupt „vorbei” bedeutet), fangen lokale Regierungen und Tech-Firmen in China schon an zu prüfen, wie so ein Health-Code-System auch nach der Pandemie langfristig eingesetzt werden könnte.2020 veröffentlichte die Plattform China Healthcare einen Artikel, in dem post-pandemische Anwendungsmöglichkeiten der Health-Codes erkundet wurden, etwa als digitaler Gesundheitspass oder Info-System für den Gesundheitsbereich, Sozialversicherung, Transport und Tourismus.
In den sozialen Netzwerken sind die Menschen jedenfalls besorgt, dass die Systeme für immer bleiben könnten. Ein Blogger aus Henan meint dazu: „In der Zukunft wird mein Sohn hoffentlich irgendwann mein Grab besuchen und sagen, Papa, die Zeit der Health-Codes ist vorbei, auch keine PCR-Tests oder Masken sind mehr nötig, wenn man fliegen oder mit dem Zug fahren will.”
„Wenn ich morgen in einer Welt ohne Health-Codes, Checks der Reisehistorie, Covid-Tests, Lockdowns aufwachen würde, dann wäre das großartig”, meint jemand auf Weibo, während ein anderer schreibt: „Mein Health-Code ist normal, mein Testergebnis ist normal, nur meine geistige Gesundheit ist nicht mehr normal.”
Die Angst vor einem roten Code ist real. Im Sommer gingen Videos aus Shanghai viral, in denen zu sehen war, wie Menschen aus einem Einkaufszentrum flüchteten, nachdem die Info die Runde gemacht hatte, dass jemand in dem Gebäude positiv getestet worden sei. Eine ähnliche Sache spielte sich in einem IKEA-Markt ab. Aus Angst vor einem roten Code flüchteten Menschen nach draußen, manche sprachen von Szenen wie bei einer „Zombie-Apocalypse”.
Menschen fliehen aus einem IKEA | via Weibo Obwohl es ernste Bedenken gibt, was die Health-Codes angeht, posten viele aber auch Memes mit dem Grünen Pferd. Der Satz „das Grüne Pferd beschützen” (bàozhù lǜmǎ 抱住绿马) ist im chinesischen Internet überall zu sehen: ein Wortspiel mit der Bedeutung, den grünen Health-Code zu bewahren.
Diverse Memes | via Weibo Dem Trend folgend wurde in Wuhan auf einem öffentlichen Platz ein riesengroßes grünes Pferd installiert, was schnell zu einem beliebten Selfie-Hintergrund wurde. Das Meme hat sich auch im E-Commerce-Bereich als besonders profitabel erwiesen, überall kann man Merchandise mit grünen Pferden kaufen, Schlüsselbänder etwa, Sticker, Spielzeug, Süßigkeiten oder Kaffeebecher.
Merchandise auf Taobao | via Weibo Ende August gingen in der Provinz Sichuan die Fallzahlen wieder nach oben und erneut machten die Leute sich Sorgen um ihre Health-Codes. Ein Blogger von dort schrieb auf Weibo: „Ich konnte die letzten Tage nicht schlafen, ich hab immer wieder meinen grünen Code und meine Testergebnisse gecheckt, ich bin total nervös.”
„Ich fühle mich zu Hause am sichersten”, schreibt jemand. „Hier kann ich mein Grünes Pferd am besten beschützen.”
„Hoffentlich ist die Pandemie bald vorbei”, schreibt ein anderer Netizen: „Hoffentlich können wir alle unser Grünes Pferd haben und einfach behalten.”
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September 2022