Erinnerungspolitik Die Ambivalenz der Aufarbeitung
Im Zeichen eines neuen Patriotismus: Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland | Foto (Detail): Kay Nietfeld © picture alliance / dpa
Erinnerungsboom der 1990er-Jahre
Das wiedervereinigte Deutschland war ein widersprüchliches Land. Während Schulkinder in allen Jahrgangsstufen über das „Dritte Reich“ lernten, verübten Neonazi-Banden in Ost- und Westdeutschland rassistisch motivierte Gewalttaten und töteten und verletzten zahlreiche Menschen. Mit dem Ende des Kalten Kriegs entwickelte sich ein historischer Blick auf den real existierenden Sozialismus in der DDR, der von einigen zur „zweiten Diktatur“ verkürzt wurde und somit den Nationalsozialismus relativierte.Gleichzeitig gab es eine Art Erinnerungsboom, der sich in Deutschland auch in Form zahlreicher Gedenkstätten und Gedenkinitiativen zeigte. Im Kino sprengte der Hollywood-Film Schindlers Liste die Zuschauer*innenquoten. Die privat initiierte Wanderausstellung Verbrechen der Wehrmacht wurde einerseits stark besucht, andererseits vehement von Teilen der deutschen Bevölkerung abgelehnt, da sie mit dem Mythos der „sauberen Wehrmacht“ aufräumte, die scheinbar unbehelligt von der SS einen „normalen Krieg“ geführt hatte. Mit der neuen rot-grünen Bundesregierung begann auch eine neue Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeiter*innen. Obwohl der Krieg bereits mehr als 50 Jahre zurück lag, hatte Deutschland nahezu keine individuellen Entschädigungen geleistet. Daher wurde im Jahr 2000 eigens die Stiftung „Erinnerung Verantwortung Zukunft“ eingerichtet, die sich heute, nach Abschluss der Zahlungen an diejenigen Überlebenden, die man noch erreichen konnte, der Erinnerung an den Nationalsozialismus widmet.
Ein neuer Patriotismus
In den 2000er-Jahren setzte sich das große Interesse an der Geschichte des Zweiten Weltkrieges weiter fort. Die Vertreibung der Deutschen sowie die Bombardierung deutscher Städte wurden vermehrt in Büchern, Dokumentationen und Talkshows thematisiert. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland mit dem beliebten Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ stand dann jedoch ganz im Zeichen eines neuen Patriotismus. Angesichts der Fahnenmeere in Schwarz-Rot-Gold wurde er von einigen mit Sorge, von anderen mit Begeisterung aufgenommen. In diesen Jahren wollten die Deutschen so wie andere Nationen Fahnen schwenken und stolz auf ihr Land sein.Die Ambivalenz dieser Zeit zeigt sich vielleicht am besten darin, dass es in demselben gesellschaftlichen und politischen Klima möglich war, in Berlin mit dem Bau des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas zu beginnen, das zu einem wichtigen Symbol der neuen Hauptstadt wurde.
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