About the Future in Times of Crises Be Water – Einblicke in die Protestbewegung in Hongkong

Be Water
Grafik (Detail): © Eric Siu

Ein Interview mit der Kuratorin Joel Kwong und dem Künstler Eric Siu über Solidarität, kollektive Intelligenz und darüber, während der Massenproteste in Hongkong in den Jahren 2019 und 2020 wie Wasser zu sein.

Im Sommer des Jahres 2020 wurden die Demonstrant*innen in Hongkong, die für den Schutz der Demokratie kämpften, mit dem Golden Nica Award der Ars Electronica für ihre innovativen und kreativen digitalen Maßnahmen ausgezeichnet. Es war das erste Mal in der 33-jährigen Geschichte des Preises, dass er einer anonymen Bürgerbewegung verliehen wurde. Eric Siu and Joel Kwong waren dafür verantwortlich, dass Be Water bei der Ars Electronica eingereicht wurde. In diesem Interview sprechen wir über die Protestbewegung, ihre einzigartigen organisatorischen Strategien und die Dinge, die die Bürger Hongkongs positiv in die Zukunft blicken lassen.

Joel, Eric, Sie betonen, dass Sie nur die „Botschafter“ des Talents und der Kreativität Hongkongs sind. Was hat Sie dazu bewogen, die Bewegung Be Water für den Ars-Electronica-Preis vorzuschlagen?
 
Eric: Als Medienkünstler verfolge ich die Ars Electronica aufmerksam. Als ich im Februar 2020 deren Website angeschaut habe, habe ich bemerkt, dass die Beschreibung der Kategorie „Digital Communities“ gut zu den Protesten in Hongkong passt. Die Bürger*innen Hongkongs nutzten digitale Technologien, um sich zu organisieren und sich miteinander zu vernetzen, um so auf besonders kreative digitale Weise Gemeinschaften aufzubauen. Das Time-Magazine hatte zuvor darüber diskutiert, die Demonstrant*innen von Hongkong zu ihrer „Person of the Year“ zu machen und anhand derselben Logik fragte ich mich: Könnten die Demonstranten diesen Preis gewinnen? Die Idee war geboren, aber ich wusste nicht, wie ich sie am besten umsetzen sollte. Also habe ich mich mit Joel in Verbindung gesetzt und sie sagte: „Ja, lass uns das machen.“
 
„Be Water“ war einer der Leitsätze der Proteste. Wofür steht dieser Satz genau? Wie hat er dazu geführt, dass sich die Proteste 2019 von früheren Bewegungen absetzen konnten?
 
Eric: Der Schauspieler, Kampfsportler und Philosoph Bruce Lee sagte: „Sei formlos, gestaltlos wie Wasser. Wenn man Wasser in eine Tasse gießt, wird es zur Tasse. Gießt man Wasser in eine Flasche, wird es zur Flasche. Gießt man es in eine Teekanne, wird es zur Teekanne. Wasser kann fließen oder es kann zermalmen. Sei Wasser, mein Freund.“ Um sich an Situationen anzupassen, muss man sich weiterentwickeln – ein fließendes, natürliches Verhalten.

Die Bewegung war so fließend, dass die Polizei keine Chance hatte, die Demonstranten zu fassen.

Eric Siu

Diese Philosophie wurde besonders wichtig, weil wir eine dezentralisierte politische Bewegung schaffen wollten. Denn die „Regenschirm-Bewegung“ (engl. „Umbrella Movement“) im Jahr 2014 war zentralisiert, hatte Anführer*innen, auf die es die Regierung abgezielt hatte. Es gab Auseinandersetzungen und Unstimmigkeiten. Die Bewegung war nicht effektiv und führte schlussendlich in eine Sackgasse. 2019 wurde „Be Water“ zur Philosophie der Bewegung. Während der Proteste entwickelten sich Strategien und Entscheidungen auf eine natürliche Art und Weise und die Entscheidungsfindung war eine kollektive Angelegenheit. Menschen, die zuvor in einem Gebiet protestiert hatten, verlagerten ihre Proteste plötzlich an andere Orte. Die Bewegung war so fließend, dass die Polizei keine Chance hatte, die Demonstranten zu fassen.
 
„Be Water“ ist aber auch eine Methode. Für Hongkong gibt es nämlich nicht die eine Lösung für ein Problem. Es gibt zehntausend unterschiedliche Ansätze und Lösungen – von allen Menschen und von allen unterschiedlichen Interessenvertretern. Technologie wie die Sozialen Medien, also Facebook, Twitter, Telegram und Online-Foren, ermöglichen es, Dinge online zu besprechen und sehr schnell zu verbreiten. Wir können wählen gehen, wir können Druck ausüben, wir können Ideen beisteuern.
 
Während der Proteste gab es den Ansatz, „den Berg auf unterschiedliche Arten zu erklimmen“. Welche Rollen spielten Sie beide bei den Protesten? Wie haben Sie den Berg zusammen mit all den anderen erklommen?

Joel: Als Bürger*innen von Hongkong waren wir von Anfang an beteiligt. Wir hatten auch gar keine andere Wahl. Jedes Jahr haben wir am ersten Juli große Straßenproteste, bei denen sich die Bürger Hongkongs für das universelle Wahlrecht und das Recht einsetzen, unseren Anführer selbst zu bestimmen. Aber als der Entwurf für das Auslieferungsgesetz Anfang Februar 2019 eingereicht wurde, wussten viele Menschen nicht, was gerade passiert. Wir wählen keine Anführer*innen, die solche Auslieferungsgesetze entwerfen. Niemand setzt sich für uns ein, niemand spricht für die breite Öffentlichkeit. Am Anfang habe ich nur die Nachrichten verfolgt. Heutzutage gibt es so viele Medienkanäle, so viele Möglichkeiten, sich zu informieren, dass es eine Weile dauert, alles zu verarbeiten. Nach und nach haben die Menschen angefangen zu verstehen, was genau passiert und wofür die Menschen auf der Straße eigentlich kämpfen.

Jedes Mal, nachdem ich Zeit in den Straßen verbracht hatte, fühlte ich mich hilflos. Zehn Stunden lang habe ich protestiert, geschwitzt, geschrien und mich erschöpft, und als ich nach Hause kam und die Live-Nachrichten einschaltete, schien es, als ob unsere Proteste nichts bewirken würden. Ich persönlich empfand diesbezüglich große Verwirrung. Insbesondere als kreativer Kopf wusste ich nicht, was ich tun könnte. Nach zahllosen schlaflosen Nächten, die ich damit verbrachte, nachzudenken und die Nachrichten zu verfolgen, fing ich damit an, Nachrichten und Artikel aus den Sozialen Medien zu dokumentieren und zu archivieren. Es begann mit ganz einfachen Dingen wie Bildschirmaufnahmen oder dem Sammeln von Informationen in einer Excel-Tabelle oder anderen einfachen Formaten. Denn unabhängig davon, wie sich die Situation weiterentwickeln würde, wusste ich, dass wir Geschichte schreiben würden. Als mich Eric dann kontaktierte, hatte ich bereits einige Nachrichten gesammelt, die für die Einreichung sehr hilfreich sein würden.
 
Eric (er lebt in Tokio): Ich habe hier in Japan versucht, die Menschen für die Proteste in Hongkong zu sensibilisieren. Meine Erfahrung ist eine ganz andere, da ich physisch nicht an der Bewegung teilnehmen konnte. Ich besteige den Berg also quasi von zu Hause aus. Zu Beginn hatte ich das Gefühl, dass es nur ums Handeln ging – darum, sich Gehör zu verschaffen. Man sollte Aktivist*in und kein*e Künstler*in sein. Es gab jedoch ausgezeichnete Protestkunst auf den Straßen in Hongkong, online und in den Aufrufen zum Handeln. Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, wie ich mit meiner Kreativität und meinem Talent zur Bewegung beitragen kann. Ich habe mich gefragt, wie Kunst eine Gesellschaft verändern und wie sie eine einzigartige Stimme sein kann. Letztendlich habe ich mich dazu entschieden, meine Fähigkeiten für die Einreichung bei Ars Electronica nutzen.
 
Die gleichen digitalen Tools, die die Demonstrant*innen nutzen, um sich zu organisieren, werden von der Regierung dazu verwendet, die Proteste zu überwachen und aufzulösen. Welche Strategien haben die Menschen angewandt, um Informationen zu teilen und sich zu organisieren? Wie konnten die Demonstrant*innen ihre Identitäten geheim halten?
 
Joel: Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels erläutern. Jeden Tag erstellen Menschen umfangreiche PDF-Dateien, Bilder und animierte Grafiken, um die aktuellen Geschehnisse auf eine Art und Weise zu kommunizieren, die einfach zu verstehen ist. Informationen werden über soziale Netzwerke und AirDrop überall auf der Welt geteilt.
 
AirDrop ist unkompliziert und anonym. Viele vergessen sogar, dass sie die Funktion eingeschaltet haben. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich gerade in der U-Bahn war. Ding! Ding! Mein Handy vibrierte und innerhalb von Sekunden hatte ich 25 Seiten Material, Werbung und Informationen zu den Protesten.

Wir haben uns aber nicht nur auf Hightech verlassen, sondern jegliche Formen von Technologien genutzt. Menschen aller Gesellschaftsschichten konnten sich beteiligen. Vor Ort bei den Protesten konnte man live auf Telegram abstimmen, in welche Richtung die Menschenmenge läuft. Auch wenn einige Teilnehmer unterschiedliche Rollen innehatten (zum Beispiel für Sicherheit, Materialbeschaffung oder Transport verantwortlich waren), gab es keine*n Anführer*in. Die Menschen stellen einfach Fragen und stimmen ab. Sie sehen dann die Ergebnisse und entscheiden, was zu tun ist. Es ist alles sehr greifbar. Da Ideen erst verwirklicht werden, wenn sie umgesetzt werden, ergreifen Menschen die Initiative. Und jede*r bleibt anonym.

Wir haben uns nicht nur auf Hightech verlassen, sondern jegliche Formen von Technologien genutzt.

Joel Kwong

Eric: Da der Großteil der Demonstrant*innen der jüngeren Generation angehörte, ging die Einführung der Technik schnell. Als echte Digital Natives lernen sie schnell und entwickeln die Tools dann sogar weiter. Einige haben auch Tutorials für die älteren Generationen erstellt, um ihnen die Tools näherzubringen. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
 
Welche Erkenntnisse haben Sie aus der Verwendung der Technologie gewonnen? Was hat Sie dabei überrascht?
 
Eric: Ich habe gelernt, dass es viele unterschiedliche Technologien, Plattformen und Systeme gibt – und abhängig vom Anliegen entscheidet man sich für das passendste. Wir haben jetzt die Entscheidungsfreiheit. Allerdings werden die meisten in China verfügbaren Technologien von der Regierung überwacht. Wir können WeChat, Weibo und Baido nutzen, aber nicht Google. Nachrichten und Informationen verbreiten sich hier also nicht wie in anderen Ländern. Es lässt einen darüber nachdenken, was für eine Welt die Bürger*innen erleben.
 
Joel: Für mich war eine weitere Erkenntnis, wie die breite Öffentlichkeit digitaler und intelligenter wurde. Vor dem Auslieferungsgesetz haben die Bürger*innen Hongkongs einfach die Technologien verwendet, die ihnen zur Verfügung standen. Heute verstehen viele die Strategien und Taktiken, die hinter den unterschiedlichen Tools und Technologien stecken. Wenn ich heute Ausstellungen kuratiere, stelle ich fest, dass die Menschen besser informiert sind. Sie stellen tiefgründigere Fragen als zuvor.
 
Lassen Sie uns über die aktuelle Situation sprechen. Wie haben sich die Dinge vom ersten Massenprotest gegen das Auslieferungsgesetz bis zur Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes verändert?
 
Joel: Vor der Verabschiedung des Gesetzes haben die Menschen in den Sozialen Medien darüber diskutiert und versucht, zu verstehen, worum es dabei geht. Dennoch haben wir bisher kein klares Verständnis davon – insbesondere für die breite Öffentlichkeit ist es verschwommen. Als kreative Köpfe können wir nur mit dem Strom schwimmen. Meine diesjährige Ausstellung handelt von öffentlichen Untersuchungen. Hier in Hongkong haben wir gesehen, dass zunehmend Dinge dokumentiert wurden. Es ist heutzutage so einfach, Livestreams zu übertragen, dass die Menschen ihre Smartphones beispielsweise dafür nutzen können, Festnahmen aufzuzeichnen. Egal, in welcher Situation Sie sich befinden, Sie können das immer noch tun.
 
Eric: Beim National Security Law (dt.: Nationales Sicherheitsgesetz) geht es um Selbstzensur. Als das Gesetz erlassen wurde, hatten die Menschen Angst. Die Dinge gerieten ins Stocken und die Menschen hörten auf, ihre Häuser zu verlassen. Die Festnahmen hatten keine großen Auswirkungen und dann war da noch COVID-19. Aber ich habe das Gefühl, die Bürger*innen Hongkongs geben nie auf. Die Reaktionen auf dieses neue Gesetz waren sehr kreativ. Als die Regierung den Slogan „光復香港,時代革命“ (dt.: Hongkong befreien, Revolution unserer Zeit) für illegal erklärte, fanden die Menschen kreative Wege sich zu äußern – zum Beispiel entwickelten sie versteckte Botschaften, indem sie die acht chinesischen Schriftzeichen des Slogans in acht einfache Symbole wie beispielsweise acht Quadrate umwandelten. Jeder weiß, dass die acht Quadrate für etwas stehen. Und als die Menschen nicht mehr mit Slogans demonstrieren konnten, haben sie auf den Straßen leere Blätter hochgehalten. Es gab zahlreiche solcher kreativen Reaktionen. Und wie Joel sagte: Es geht darum, mit dem Strom zu schwimmen und gleichzeitig weiterhin zu versuchen, sich Gehör zu verschaffen.
 
Beginnen Künstler*innen nun damit, sich selbst zu zensieren?
 
Eric: Ich habe als Künstler nie gedacht, dass ich mich einmal selbst zensieren müsste. Ich wollte mir selbst immer treu bleiben. Aufgrund des Nationalen Sicherheitsgesetzes erkenne ich heute aber, dass Selbstzensur zu einer Kunstform geworden ist. Es handelt sich hierbei um Gedanken, die der „Be Water“-Philosophie entsprechen. Wenn die Menschen ein leeres Blatt Papier hochhalten, verleiht das der Botschaft noch mehr Aussagekraft. Damit hätte ich nie gerechnet. Ich werde auch manchmal gefragt, warum ich mich noch immer für Hongkong engagiere. „Hast du keine Angst?“ Ich antworte dann: Je mehr Menschen gehört werden, desto schwieriger wird es für die Regierung, uns aufzuhalten. Es ist nicht schwer, einen Einzelnen aufzuhalten, aber die Flammen zu ersticken, die die Bürger*innen Hongkongs überall auf der Welt entfachen, wird schwierig. Wir werden sie also auf Trab halten. Denn wenn sie beschäftigt sind, ist jede*r Einzelne von uns sicherer.
 
Was gibt Ihnen in Zeiten der Verzweiflung Hoffnung? Was nehmen Sie daraus mit oder anders gesagt: Was hat Sie die Bewegung gelehrt?
 
Joel: Dass Hoffnung Hoffnung ist und bleibt. Dass die Menschen um einen herum anonym sind. Man kann sich online mit Menschen vernetzen, die dieselben Hoffnungen und Gedanken haben. Man lernt, wie viele Menschen dieselben Werte teilen. Und das gibt mir Hoffnung für die Zukunft. Es gibt ein traditionelles chinesisches Sprichwort, das besagt: „魯迅說「世上本沒有路,走的人多了便成了路。」(dt.: „Lu Xun sagt, ‚Es gab nie eine Straße, aber wenn viele Menschen diesen Weg gehen, entsteht die Straße.“) Meistens können wir keine Straße sehen, aber es gehen immer genug Menschen umher, die versuchen, einen Weg zu finden. Wenn man ihn dann findet, werden die Menschen folgen. Und das bedeutet es, wie Wasser zu sein. Wir haben es schon einmal erlebt und es wird auch wieder geschehen. Also gehen Sie immer weiter!
 
Eric: Für mich ist es nicht einfach, zu definieren, wo die Hoffnung liegt. Ich stimme aber zu, dass wir uns noch immer auf die Menschen, also die Bürger Hongkongs, und ihre Hingabe verlassen können. In Interviews werde ich immer wieder gefragt, woher diese Energie kommt. „Warum sind die Bürger Hongkongs dem Kampf so zugeneigt?“ Ich weiß es nicht. Wir lieben diese Stadt einfach so sehr! Wir sind anders, wir sind besonders und wir haben die Geschichte, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Bereits zu Beginn der Bewegung haben die Menschen gesagt, dass es sich um etwas Langfristiges handelt. Wir können nicht innerhalb eines Jahres gewinnen. Denken Sie nur einmal an die anderen Revolutionen, die 10 bis 20 oder sogar 50 Jahre gedauert haben. Ich glaube, die Bürger*innen Hongkongs haben ihren Geist und ihren Körper darauf vorbereitet, diesen Kampf durchzustehen. Sie sind wie Wasser – sie wissen, was zu tun ist. Alle Beteiligten dieser Bewegung werden die Bilder, das Blut, den Schweiß, die Herausforderungen und die Tränen – einfach alles, was wir durchlebt haben – nie vergessen. Von Jung bis Alt – jede*r kennt die Wahrheit. Für die Regierung wird es sehr schwer werden, diese Erinnerungen aus den Gedächtnissen der Menschen zu löschen.
 

Perspectives on post-digital cultures © @rainbowunicornstudio © @rainbowunicornstudio Ein Beitrag der Interview- und Essayreihe About the Future in Times of Crises von Goehte-Institut und Superrr Lab.
 
Goethe-Institut e. V. / Superrr Lab