Koloniale Kontinuitäten Biafraland und ein Doppelgänger aus der Vergangenheit, die es niemals gab
In vielen afrikanischen Staaten sind die Umbrüche und die Krisenanfälligkeit häufig auch auf das koloniale Erbe zurückzuführen. Richard Ali benennt in seiner kritischen Analyse der Lage in Nigeria weitere Ursachen und liefert Lösungsansätze.
„Natürlich, natürlich, aber ich behaupte, die authentische Identität eines Afrikaners verdankt sich einzig seinem Stamm“, sagte (Odenigbo). „Ich bin Nigerianer, weil ein weißer Mann Nigeria geschaffen und mir diese Identität gegeben hat. Ich bin schwarz, weil die Weißen das Schwarze als größtmöglichen Gegenpol zu ihrem Weiß konstruiert haben. Aber ich war ein Igbo, bevor der weiße Mann kam“, so Chimamanda Ngozi Adichie in Die Hälfte der Sonne.Nigeria – das koloniale Projekt Großbritanniens und mit mehr als 200 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Das Land, dessen schiere Energie uns mit Lagos den Albtraum einer Stadt und mit Nollywood eine riesige Traumfabrik beschert hat, durchlebt eine Krise, deren Ursprung im Aufeinandertreffen mit Europa vor einem Jahrhundert liegt. Der Einfluss Europas findet sich noch heute in den geografischen und anthropologischen Kategorien wieder, die in dieser Zeit entwickelt oder befördert wurden, wie beispielsweise das Stammessystem oder das Konzept von Grenzen. Diese Kategorien führten dazu, dass sich auf dem gesamten Kontinent separatistische Bewegungen ausbreiteten, die sich gegen die offiziellen Staaten zur Wehr setzen. An ihrer Spitze stehen Männer, die sich als Revolutionsführer ausgeben, obwohl sie etwas ganz anderes verkörpern. In diesem Zusammenhang gehört Biafraland in meiner Heimat zu den neuesten Entwicklungen.
Eine gekaperte Vision
Biafraland geht auf die Vereinnahmung der ehemaligen Bewegung für die Verwirklichung eines souveränen Staates Biafra (Movement for the Actualisation of the Sovereign State of Biafra, MASSOB) im Jahr 2012 durch den Betreiber ihres Londoner Piratensenders, Mazi Nnamdi Kanu (MNK), zurück. MNK nennt seine Splittergruppe die Independent People of Biafra (IPOB) und setzt den Kult um seine Person mit Hilfe eines jüdisch angehauchten Symbolismus und dem Image eines Enfant Terrible des Jingoismus fort. Während die MASSOB nach der Selbstbestimmung einer durch die Briten geschaffenen Verwaltungseinheit strebte, wünschen sich die IPOB die Herrschaft einer solidarischen Stammesgemeinschaft, die vor der Ankunft der Europäer*innen gar nicht existierte.Kleptokratie als System
Nach Kriegsende im Jahr 1970 lautete die Strategie „kein Sieger, keine Besiegten“. In deren Folge bildete sich eine multiethnische Elite, die sich gemeinschaftlich die Petrodollar-Einnahmen des Landes in die eigene Tasche wirtschaftete und im selben Atemzug ein System der Patronage errichtete. Dieser Elite gehörten alle ethnischen Gruppen des Landes aus der Privatwirtschaft, dem Militär und dem Staatsdienst an. Die Verschlechterung der Lebensqualität und der öffentlichen Dienstleistungen, die weit verbreitete Korruption unter Staatsbediensteten und die immer größere Kluft zwischen Arm und Reich, die wir heute erleben, nahm in dieser Zeit ihren Lauf.Die Tatsache, dass Nigeria sein Potenzial nicht ausschöpfen kann, lässt sich unmittelbar auf die Ausbeutung des Staates durch eine Elite zurückführen, die sich selbst nur in Größenordnungen aus der Zeit der kolonialen Konfrontation wahrnehmen kann, als Wettbewerb und Beschränktheit auf Kosten von Zusammenarbeit und Inklusion im Vordergrund standen. Um den gemeinsamen Wohlstand zu erbeuten, sahen sie sich gezwungen, immer engere Identitätsmerkmale und immer niedrigere Leistungsstandards einzuführen. Durch die Festlegung neuer Prioritäten wurden schließlich Mitbürger*innen ausgegrenzt und Marginalisierungsproteste gerechtfertigt, wodurch sich diese Elite in immer kleineren subnationalen Einheiten zu legitimieren verstand. An dieser Stelle kommt MNK mit seinem Biafraland ins Spiel.
„Aus dieser Perspektive betrachtet geht es bei Biafraland und vergleichbaren separatistischen Bewegungen, ganz gleich, ob sie religiös oder kulturell motiviert sind, im Grunde um koloniale Kontinuitäten und nicht um die Umbrüche, die sie angeblich zum Ziel haben. “
Aus dieser Perspektive betrachtet geht es bei Biafraland und vergleichbaren separatistischen Bewegungen, ganz gleich, ob sie religiös oder kulturell motiviert sind, im Grunde um koloniale Kontinuitäten und nicht um die Umbrüche, die sie angeblich zum Ziel haben. Ihre Verfechter*innen sind in Wirklichkeit keine Revolutionär*innen, sondern Doppelgänger*innen aus der Vergangenheit, die es niemals gab.
„Wenn wir eine Revolution wollen, müssen wir uns mit den Waffen der modernen Technologien und dem richtigen Selbstverständnis – als Afrikaner*innen – ausstatten, das in der Vergangenheit begründet liegt.“
Lösungsansätze auf dem Kontinent
Wenn wir eine Revolution wollen, müssen wir uns mit den Waffen der modernen Technologien und dem richtigen Selbstverständnis – als Afrikaner*innen – ausstatten, das in der Vergangenheit begründet liegt. Doch dabei kann es nicht darum gehen, die bequeme Version der Geschichte zu wählen, die nur sechzig Jahre zurückliegt, wenn unsere gesamte Geschichte einen Zeitraum von siebentausend Jahren umspannt.Wenn unsere Vorfahr*innen keine Vorstellung von geografischen oder anthropologischen Grenzen hatten – warum sollten wir dann heute darauf bestehen? Revolutionäres Denken kann womöglich schon darin bestehen, zu erkennen, dass unsere Ahnen nicht in Grenzen dachten und wir dies auch nicht tun sollten. Dass alle Menschen in Afrika Afrikaner*innen sind und dass wir nach einem Kontinent streben sollten, auf dem verschiedene Völker mit gemeinsamen Vorfahren und gemeinsamer Abstammung auf der größten Insel der Welt in Eintracht zusammenleben. Und nicht nach einer Aufteilung in kleine unbedeutende Machtgefüge, die sich auf die Bekräftigung festgezurrter kolonialer Konzepte von Sprache, Geografie und Identität stützen. Wie es in MNKs Biafraland der Fall wäre.
0 Kommentare