Das Konzept Nachhaltigkeit „Hört auf, die Welt zu verschlingen!“

Die Indigene Gemeinschaft der Krenak, denen Ailton Krenak angehört, verlor bei der Tragödie von Mariana ihre Lebensgrundlage.
Die Indigene Gemeinschaft der Krenak, denen Ailton Krenak angehört, verlor bei der Tragödie von Mariana ihre Lebensgrundlage. | Foto (Detail): Isaac Risco © picture alliance / dpa

Der Denker und Indigene Anführer Ailton Krenak verordnet der Menschheit zehn Jahre Diät.

Berühmt wurde Ailton Krenak für seinen Auftritt vor der brasilianischen verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 1987. Während seiner Rede bemalte er sein Gesicht mit der schwarzen Genipapo‑Farbe, um gegen die Rückschritte und Angriffe auf die Rechte der Indigenen zu protestieren. 2005 engagierte er sich für einen Antrag bei der UNESCO zur Gründung des Biosphärenreservats Serra do Espinhaço. Er wunderte sich darüber, dass begründet werden musste, warum es wichtig sei, dass die Erde nicht völlig vom Bergbau verschlungen wird.

Das Indigene Volk der Krenak verlor 2015 bei der Tragödie von Mariana, dem Dammbruch eines Eisenerzbergwerks, ihre Lebensgrundlage. Zwei Tage nach der Katastrophe traf eine giftige Flut aus Schlamm und Minenrückständen in ihrem Dorf ein, in dem 137 Familien lebten. 19 Menschen starben in der Schlammlawine.

Ailton Krenak plädiert für ein umfassenderes Verständnis einer Welt, in der der Mensch nicht die Spitze der Schöpfung ist, sondern eines unter vielen anderen Lebewesen, die zusammen den Planeten erschaffen.

In seinem auf Deutsch erschienenen Buch Ideen, um den Weltuntergang zu vertagen nimmt er einige unserer westlichen Konzepte auseinander: Menschheit, Vernunft und auch die Idee der Nachhaltigkeit. Im westlichen Verständnis bezeichnet diese eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne künftige Generationen an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu hindern.


Ailton Krenak, Sie stellen das Konzept der Nachhaltigkeit in Frage. Warum ist es Ihrer Meinung nach eine Lüge?

Die Bedeutung des Konzeptes liegt in der Rechtfertigung eines Ausbeutungsmodells. Wie kann man die Ausbeutung unendlich fortführen? Durch die Einführung der Nachhaltigkeit, die allein wirtschaftlich definiert wird. So wird es immer weitergehen, bis zur Erschöpfung. Wenn die fossilen Brennstoffe zur Neige gehen, gehen wir zur Windenergie über, wenn die Windenergie nicht mehr funktioniert, gehen wir zu irgendeiner anderen Energieart über.

Dieser Diskurs glaubt, dass die Biosphäre des Planeten aus einer formbaren Masse besteht und versteht nicht, dass wir es mit einem Ökosystem zu tun haben. Dieses riesige terrestrische Ökosystem gerät aus den Fugen, wenn man nur einen Punkt verschiebt. Aber die Wirtschaft glaubt, sie könne an einem Ort herumwühlen, eine Ölquelle bohren, Öl fördern, es verarbeiten, unzählige Dinge herstellen und das könne nachhaltig sein. In diesem Sinne ist die Rede von der Nachhaltigkeit ein Mythos, ein räuberischer Mythos und eine Lüge. Sie rechtfertigt sich selbst, denn sie ist der Kern der kolonialen, ausbeuterischen Idee.

Es beginnt als Park und endet als Parkplatz.

Sie kritisieren auch einen bestimmten Naturschutzgedanken, der ebenfalls ein Geschäft zu sein scheint und haben in ihrem Buch ein starkes Bild dafür geschaffen. Sie sagen: „Es beginnt als Park und endet als Parkplatz.“

In der sogenannten Umweltfrage wird der Diskurs auf andere Weise reproduziert, nämlich in der Bildung von Reserven. Die Berechnung der ökologischen Nachhaltigkeit ist die Reserve. Das ist nichts anderes als ein wirtschaftlicher Diskurs. Sparen Sie heute etwas auf, um es morgen zu essen. Das ist eine Sichtweise, die sich ausschließlich auf die Bedürfnisse der Menschen konzentriert. Andere Lebewesen sind ihr egal. Der Wal, der Elefant, der Vogel, der Wald … Dieser gesamte Diskurs dient allein der Kontrolle. Naturschutz ist für mich Kontrolle!

Auch wenn die UNESCO für das Programm Men and Biosphere (Mensch und Biosphäre) wirbt, in dessen Rahmen wir ein Gebiet geschaffen haben, das vor Bergbau geschützt ist. Ich selbst arbeite in zwei wichtigen Komitees für Biosphärenreservate mit: im Komitee für den Atlantischen Wald und im Komitee für das Espinhaço‑Gebirge, das hier in Minas Gerais in einer Region liegt, die seit dem 17. Jahrhundert kolonisiert wurde und wo intensiver Bergbau betrieben wird.

Seit 2015/2016 fördert die UNESCO interne Symposien, um die Flexibilisierung des Biosphärenreservat‑Protokolls zu diskutieren, damit solche Aktivitäten in diesen Gebieten möglich sind. Deshalb sage ich: Es fängt mit dem Park an und endet mit dem Parkplatz.

Nachhaltigkeit ist eine falsche Sorge um die Zukunft! Ich möchte sagen: Es ist eine Verfälschung der Zukunft! Greta Thunberg sagt, dass die Erwachsenen den Kindern die Zukunft stehlen. Ich stimme ihr zu und sage, dass sie die Zukunft verfälschen!

Gregório Mirabal, der Vorsitzende der Indigenen Organisation COICA, hat auf dem Naturschutzkongress der IUCN den Schutz von 80 Prozent Amazoniens gefordert. Sie stehen dem westlichen Konzept von Naturschutz sehr kritisch gegenüber, befinden wir uns in einem Dilemma?

Ich kenne die Einzelheiten von Gregórios Vorschlag nicht. Ich würde ihn fragen: Warum nicht 100 Prozent? In Bezug auf die Ökosysteme muss es einen Waffenstillstand geben und das können wir nur mit einer Global Governance erreichen. Nicht nur für Amazonien, sondern für die ganze Welt. Die Klimafrage ist ein globales Problem. Ein lokales oder regionales Mandat richtet da nichts aus. Wir müssen sehen, ob wir einen Konsens erreichen können, um über das Amazonas‑Biom entscheiden zu können.

Was ist zu tun?

Wir müssen eine Bestandsaufnahme im Amazonasgebiet durchführen und ein Protokoll erstellen, ähnlich wie bei der Pandemie. Diejenigen, die drinnen sind, bleiben dort, und die, die draußen sind, kommen nicht rein, und zwar für eine bestimmte Zeit. Währenddessen können Forschungsteams den Amazonas‑Regenwald besser kennenlernen und Vorschläge für seine gemeinsame Bewirtschaftung erarbeiten. Mit den Mitteln, die Europa zur Unterstützung bereitstellt, könnte man den Verzicht der Gemeinden kompensieren, deren wirtschaftlichen Aktivitäten vorübergehend beeinträchtigt wären.

Während dieser Zeit kann man Praktiken des Gleichgewichts entwickeln – nicht der Nachhaltigkeit! –, sondern Praktiken der Kohärenz und des Zusammenwirkens menschlicher Gemeinschaften mit dem Ökosystem. So können die ursprünglichen Praktiken der Indigenen wiederhergestellt werden, die immer schon in diesem Biotop gelebt haben, ohne seine Struktur zu zerstören.

Es wäre also eine globale Entscheidung, das Amazonas‑Biom und andere wichtige Biome des Planeten zu Orten des globalen Interesses zu erklären, was auch die prekären Regierungsmodelle weiter entwickeln würde, die wir heute haben.

Die Indigenen hatten noch nie Herrschaft über ihr Land.


Aber sollten nicht die Indigenen Völker die Macht über ihre Territorien haben?

Heute haben die Indigenen Völker überhaupt keine Macht über ihr Land. Die haben die Bergbauunternehmen, die Holzfäller*innen, die Goldgräber*innen und die korrupten Regierungen. Es wäre also sinnlos, wenn man sagte: „Die Indigenen bitten um die Herrschaft über ihr Land.“ Die Indigenen hatten noch nie Herrschaft über ihr Land. Ich kenne keine Belege dafür. Nur solange sie keinen Kontakt zu den lokalen Behörden haben, sind die Indigenen autonom. Dann leben sie ursprünglich und können sich sicher fühlen. Doch sobald sie lokal interagieren, werden sie unterworfen.

Es wird ihnen der Konsum von industriell aufbereiteten Lebensmitteln aufgezwungen. Alle Indigenen, die in Kontakt mit den Weißen stehen, essen nur von Weißen verarbeitete Waren. Wie Davi Kopenawa (der mehrfach für sein Umweltengagement ausgezeichnete geistige Führer der brasilianischen Yanomami – Anmerkung der Redaktion) sagt: Die Weißen sind eine Warengesellschaft und er meint damit, sie sind eine ansteckende Gesellschaft (Kontakt = Ansteckung). Es gibt keine „unschuldigen“ Waren, es gibt nur verlockende, ansteckende Waren.

Die Tentakel des Kolonialismus, die in Amazonien eingepflanzt wurden, müssen blockiert werden. Europa muss aufhören, Fleisch, Soja, Mineralien und Holz aus dem Amazonasgebiet zu konsumieren! Es müssten nicht nur die Menschen im Amazonasgebiet ihre Gewohnheiten ändern, sondern auch diejenigen, die es gewohnt sind, den Amazonas zu konsumieren. Hört auf, die Welt zu verschlingen! Ändert Eure Gewohnheiten. Macht eine Diät. Eine Diät für zehn Jahre. Und während dieser zehn Jahre erforschen und studieren wir das Amazonas‑Ökosystem.