Friedensbewegung Die feministische Antikriegsbewegung in Russland und der Welt

Mehrere Menschen, einige tragen Helme, offensichtlich Polizisten führen eine junge Frau ab; es schneit
Inhaftierung von Menschen bei einer friedlichen Anti-Kriegs-Kundgebung im Zaryadye Park | Foto (Detail): © Aleksey Dushutin

Unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine hat ein Teil der russischen Gesellschaft die Kriegshandlungen scharf kritisiert. Eine organisierte und konsequente Antikriegsbewegung mit klar definierten Zielen und Prinzipien wurde innerhalb des Landes jedoch von Frauen aufgebaut – genauer gesagt: von Feministinnen.

Zwei Tage nach Beginn der in Russland sogenannten „Spezialoperation“* gab der Feministische Antikriegswiderstand (FAS) seine Gründung bekannt. Die Bewegung ist flach und wenig hierarchisch aufgebaut und organisiert sich über einen gleichnamigen Тelegram-Kanal, der zwei Monate darauf immer noch eine steigende Zahl von Unterstützer*innen verzeichnet.

Was bedeutet FAS?

Im FAS sind Dutzende feministischer Gruppen in Russland vertreten; sein Telegram-Kanal zählt mehr als 30.000 Abonnent*innen. Laut einer der Gründerinnen, der Dichterin Darja Serenko, gründete die FAS eine Stiftung zur Unterstützung von Protestierenden, nimmt an Straßenprotesten teil, organisiert Kunst-Events, darunter die von Serenko initiierte „Stille Mahnwache“ und verbreitet Antikriegs-Infomaterial im Internet. Die bislang größte Aktion fand am 8. März statt, als Frauen aus 80 Städten Russlands als Zeichen ihres Protests Blumen an Denkmäler des Zweiten Weltkriegs niederlegten – oftmals in Verbindung mit Antikriegs-Losungen.

Andere bekannte Aktionen sind „Mariupol 5000“, als Aktivistinnen der Bewegung dazu aufriefen, in Innenhöfen von Wohnhäusern selbstgebaute Kreuze mit einer Tafel zur Erinnerung an die Opfer von Mariupol aufzustellen (denn dort wurden die Toten während der Okkupation auf ebenjene Weise in den Innenhöfen beerdigt), und die Aktion, bei der Preisschilder in Supermärkten gegen Botschaften mit Antikriegs-Appellen ausgetauscht wurden.
 

Eine lebendige Struktur also, die nicht zerfasert, sobald man ihr den Kopf abschlägt – denn einen Kopf gibt es nicht.


Ella Rossmann, ebenfalls in leitender Funktion engagiert bei FAS, Gender-Wissenschaftlerin und Co-Gründerin des unabhängigen Bildungsprojekts „Anti-Universität“, sieht die Schlüsselrolle von Feministinnen beim Aufbau des Antikriegs-Protests in Russland in den Kompetenzen, die sie sich in den letzten Jahrzehnten im Bereich aktivistischer Aktionen angeeignet haben.

Der Feminismus hat die weibliche Subjektivität verändert und Frauen fühlten sich wiederum ermächtigt und berechtigt, Dinge zu verändern. Hinzu kommt, dass die Vertreterinnen der Frauenbewegung über Erfahrungen im öffentlichen Aktivismus verfügen und es gewöhnt sind, in kleinen und selbstorganisierten Gruppen zu arbeiten.

Davon abgesehen basiert auch die Struktur des FAS selbst auf feministischen Prinzipien: Es gibt keine strengen Hierarchien und Autoritäten und es wird auf Dezentralisation gesetzt. Dadurch erinnert der Widerstand an eine Art Pilzgeflecht: seine Vertreterinnen sind scheinbar wahllos, aber doch einigermaßen gleichmäßig über das Land und im Ausland verstreut. Eine lebendige Struktur also, die nicht zerfasert, sobald man ihr den Kopf abschlägt – denn einen Kopf gibt es nicht. Dafür aber unumstößliche Werte, die alle Mitwirkenden miteinander verbinden.

Frauen und Kriege

Kriege sind zweifellos destruktiv für alle. Was Frauen angeht, verschärfen sich jedoch die Diskriminierungen und Probleme, mit denen diese ohnehin im Alltag zu kämpfen haben und denen der Feminismus den Kampf angesagt hat, dramatisch; insbesondere, was Gewalt und Armut betrifft.

Nach Erhebungen der UNO  werden Frauen unter Kriegsbedingungen nicht nur von Seiten ihrer Landsleute, sondern vor allem auch durch die feindliche Armee Opfer von Vergewaltigungen und Menschenhandel. Besonders dann, wenn die massenhafte Vergewaltigung von Frauen der gegnerischen Seite Teil einer militärischen Strategie ist, so wie es vor gar nicht langer Zeit im Bosnien-Krieg der Fall war. Dazu vervielfachen sich nach der Rückkehr psychisch und physisch traumatisierter Frontsoldaten auch die Fälle häuslicher Gewalt.

Die ökonomische Verwundbarkeit von Frauen bedeutet, dass gerade sie – als am wenigsten geschützte Gruppe – die ersten sein werden, die ihre Arbeit und ihr Einkommen durch die beginnende Wirtschaftskrise oder die Notwendigkeit einer Ausreise verlieren.

Wesentlich ist, dass die russischen Feministinnen die Wurzeln und Systematik dieses Gewaltproblems (sowohl in Bezug auf Familien als auch das gesamte Land) in ein und derselben Grundstruktur sehen: nämlich der patriarchalen Gesellschaft.

Das zentrale Problem, das in den letzten Jahren auf der Agenda russischer Feministinnen stand, war das der häuslichen Gewalt – deren hauptsächliche Opfer Frauen und Kinder sind, die unter der Aggression von Männern und Vätern leiden. Dieses Problem wurde von Seiten der russischen Autoritäten nicht ernst genommen. Russische Feministinnen fühlen sich dem politischen Regime Wladimir Putins schon lange fremd. Vor nicht allzu langer Zeit hatte dieser verlauten lassen, dass sie, also „diejenigen, die nicht ohne Gender-Freiheiten klarkommen“, als „nationale Verräter*innen“ betrachtet werden können.

War die weibliche Antikriegsbewegung schon immer feministisch?

Die Bewegung des weiblichen Antikriegsprotests ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Kontext der Suffragetten entstanden. Sowohl einzelne Feministinnen (in Deutschland Rosa Luxemburg, in den USA Emma Goldman) als auch Frauenorganisationen positionierten sich gegen den Krieg. 1915 gründeten Frauenrechts-Aktivistinnen auf einem internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag den „Internationalen Ausschuss für dauernden Frieden“, aus dem vier Jahre später die „Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit“ entstand, die unter der Schirmherrschaft der UNO bis zum heutigen Tag existiert. Kurz zuvor hatten Jane Addams und Carrie Chapman Catt im gleichen Jahr in den USA eine Frauen-Friedenspartei gegründet. In beiden Fällen traten die Feministinnen nicht nur für einen sofortigen Stopp des Krieges, sondern auch für eine weibliche Intervention in der Regulierung von Konflikten ein.
 

Sie wurde eine internationale Bewegung, die sich gegen Militarismus und Imperialismus als Resultat eines allgemeinen patriarchalen Denkens wandte.


Das nächste Aufblitzen eines weiblichen Antikriegs-Aktivismus auf der Welt hing mit der Phase des Kalten Krieges zusammen. 1961 gingen in 100 Städten der USA etwa 50.000 Frauen auf die Straße. Sie protestierten gegen Atomwaffentests – und so entstand der „Women´s Strike for Peace“ („Frauenstreik für Frieden“) unter Führung von Bella Abzug und Dagmar Wilson.

In England betrieb die Gruppe „Frauen für das Leben auf der Erde“ ab 1981 fast 20 Jahre lang ein Protestlager an der Air Base Greenham, wo Atomwaffen stationiert waren. Die weibliche Antikriegsbewegung vergrößerte und intensivierte sich im Zusammenhang mit Kriegen – in Vietnam, am Persischen Golf, in Afghanistan, Bosnien und anderen. Mit der Zeit wurde die Bewegung eine internationale, die sich gegen Militarismus und Imperialismus als Resultat eines allgemeinen patriarchalen Denkens wandte.

In der Sowjetunion hatte die Antikriegs-Rhetorik keinen Gender-Bezug, überschnitt sich aber mit Ideen weiblicher Emanzipation und dem Internationalismus. Doch in Anbetracht der politischen Konjunktur gab es nicht die erforderlichen Bedingungen für die Formierung von Protest. 1989 entstand in der Sowjetunion das Komitee der Soldatenmütter, das jedoch eine Haltung gegenüber Kriegen vertritt, die sich in erster Linie aus der traditionellen Mutterrolle heraus ableitet.

Eine Gesellschaft ohne Kriege

Heute besteht die weibliche Antikriegsbewegung nicht nur aus den aufgezählten Organisationen und ihrer Geschichte, sondern auch einer Vielzahl feministischer Gruppen und Aktivistinnen aus der ganzen Welt, die Protestaktionen vor russischen Vertretungen organisieren, Mittel und sogenannte „Rape Kits” für Opfer sammeln und ukrainische Geflüchtete in Europa unterstützen. Neben dieser praktischen Hilfe rufen sie zu einem Stopp des Wettrüstens und damit zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine auf.

Die weibliche Antikriegsbewegung war seit jeher international und visionär. Ihr Ziel ist es, eine Gesellschaft zu schaffen, in der niemand ausgeschlossen wird und Kriege schon aus Prinzip unmöglich sind. Dafür ist eine Transformation der aktuell dominanten patriarchalen Gesellschaftsstruktur, welche auf Gewalt und Militarismus unterstützenden Idealen von Maskulinität sowie Praktiken der Diskriminierung basiert, unerlässlich.

Somit ist der derzeitige feministische Antikriegsprotest ein für Russland einerseits absolut neues Phänomen, denn offene Antikriegsbewegungen von Frauen hatte es im Land bisher noch nicht gegeben. Andererseits fügt er sich in die jahrhundertealte Geschichte eines weltweiten weiblichen Protests gegen den Krieg ein. Dieser ist in seinem Wesen feministisch und sieht das Problem des Krieges nicht primär darin, dass Staaten keine Ressourcen teilen, sondern vielmehr darin, wie ein Staat – ganz allgemein betrachtet – funktioniert.
 
Anmerkung der Red.:
*„Spezialoperation“ ist die von den russischen Behörden festgelegte Bezeichnung des Krieges in der Ukraine.