Lösungen für Ernährungssicherheit Von den Märkten unabhängig werden
Viele afrikanische Länder leiden unter den gestiegenen Lebensmittelpreisen. Deshalb suchen immer mehr Menschen nach regionalen Lösungen, um der Ernährungskrise entgegenzuwirken – mit Erfolg.
Vorsichtig holt Joshua Kiamba ein Spinatpflänzchen aus einem kleinen Anzuchttopf und setzt es in eine halbierte PET-Flasche voller Steine. Dann stellt er sie in ein ungewöhnliches Hochbeet: Die Pflanzen wachsen nicht in Erde, sondern stehen mitsamt den PET-Flaschen in einem Wasserbad. „Hydroponik“ heißt diese Art des Gartenbaus, bei der Pflanzen durch eine mineralische Nährlösung versorgt werden. „Das ist eine praktische Methode, weil wir hier so wenig Platz haben“, erklärt Kiamba, der sich als „leidenschaftlichen Bio-Bauer“ bezeichnet. Kiamba lebt nicht auf dem Land, sondern in Korogocho, einem der Slums der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Und dort ist nicht nur der Platz knapp, sondern in den meisten Familien auch das Geld – erst recht seit dem drastischen Anstieg der Lebenshaltungskosten in den vorangegangenen Monaten. Der Preis für Speiseöl hat sich teilweise verdoppelt, auch Milch, Haushaltsgas und Maismehl – in Kenia das wichtigste Grundnahrungsmittel – sind deutlich teurer geworden. Das liegt zum Teil daran, dass die Regierung die Steuern auf viele Produkte deutlich erhöht hat, weil das Land in einer Schuldenkrise steckt und die Regierung verzweifelt nach weiteren Einnahmequellen sucht. So hat sie beispielsweise den Mehrwertsteuersatz auf Propangas von acht auf 16 Prozent verdoppelt.Seit Februar 2022 kommen die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine hinzu. Durch Produktionsausfälle und Exportprobleme aus der Ukraine sind viele Lebensmittel auf dem Weltmarkt knapp und deshalb teurer. Außerdem sind die Energiekosten gestiegen, Russland ist ein wichtiger Produzent von Erdöl und Erdgas. Wird Treibstoff teurer, wirkt sich das auf die Preise von Produkten aus, auch auf Lebensmittel. Denn fast alles muss transportiert werden, ehe es bei den Endverbrauchenden ankommt. Der Preisindex der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO für Lebensmittel lag im Juni 2022 gut 23 Prozent über dem Vorjahreswert.
Einkommensärmere Länder, vor allem in Afrika, sind von diesen Entwicklungen besonders betroffen. Innerhalb der Gesellschaften leiden diejenigen am meisten, die am wenigsten Geld zur Verfügung haben. Viele von ihnen leben auf dem Land, kämpfen bereits gegen die Auswirkungen der Klimakrise: Wetterextreme wie häufige Dürren und Überflutungen führen zu teils drastischen Ernteausfällen. Für kleine bäuerliche Betriebe, die nur für den eigenen Bedarf anbauen, führt das schnell in die Not. Weltweit leiden bis zu 828 Millionen Menschen unter Hunger, schätzt das UN-Welternährungsprogramms WFP. 50 Millionen Menschen stehen am Rande einer Hungersnot, vor allem im Globalen Süden.
Landwirtschaft auf engstem Raum
Von der Südhalbkugel kommen zahlreiche innovative Ideen, um der gegenwärtigen Ernährungskrise entgegenzuwirken. Es ist nicht die erste Hungersnot, die den afrikanischen Kontinent trifft und schon seit vielen Jahren entwickeln Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Strategien, um die Ernährungssicherheit in Afrika zu verbessern. Sie suchen nach Möglichkeiten, um die ländliche Bevölkerung und die einkommensärmeren Menschen in den Städten trotz Klimakrise, Krieg und anderen Katastrophen mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Einer von ihnen ist Peter Chege, ein analytischer Chemiker aus Kenia und Gründer des Unternehmens Hydroponics Africa. In seiner Forschung befasste er sich mit der Frage, welche Nährstoffe Pflanzen brauchen, um einen besonders guten Ertrag zu liefern. So stieß auch er auf das Hydroponik-Verfahren und erkannte sein Potenzial für Afrika. In vielen Regionen sind Wasser und fruchtbare Böden knapp und die Klimakrise verschärft den Mangel noch. „Für den Anbau in einem Hydroponik-System braucht man 80 Prozent weniger Wasser als in der traditionellen Landwirtschaft“, sagt Chege. Außerdem braucht man zum Anbau kein Land, die Qualität des Bodens ist für das Hydroponik-Verfahren irrelevant. Vor allem für den Anbau von Nahrungsmitteln auf kleinen Flächen ist die Methode ideal, denn die Systeme für Wasserkulturen lassen sich ohne weiteres in die Höhe bauen.Die kommerzielle Aufzucht von Pflanzen in einer Nährlösung wurde in den USA erfunden. Die moderne Hydroponik orientierte sich jedoch an frühzeitlichen Vorbildern, wie den hängenden Gärten von Babylon oder den schwimmenden Gärten in China. Bei seinen Systemen bezog sich Chege auf das amerikanische Vorbild, das er jedoch erst an den afrikanischen Kontext anpassen musste. „Ich achtete darauf, dass wir lokal verfügbare Materialien benutzen, ich bildete Bäuerinnen und Bauern im Umgang mit der Methode aus und stellte eine geeignete Nährlösung her, denn die gab es noch nicht“, erzählt Chege.
Der vielleicht wichtigste Schritt in der Anpassung: der Verzicht auf elektrische Pumpen, die in westlichen Ländern die Nährstofflösung durch das System schieben. Auch für die Beleuchtung der Pflanzen suchte Chege nach einer Alternative zum Strom aus der Steckdose. „Hätte ich das System unverändert von Europa nach Afrika übernommen, wäre es bei uns nicht wirtschaftlich gewesen“, erklärt er. „Die Bauern müssten schon allein für Energie mehr bezahlen, als sie mit ihren Pflanzen verdienen.“ In Cheges „afrikanischem“ Hydroponik-System steht das Wasser still, statt rundum zu laufen. Ihr Licht bekommen die Pflanzen durch die Sonne, oder über Solarpaneele. So sparen die Bauern Strom. 2013 gründete er die Firma Hydroponics Africa und passte das System weiter an die regionalen Gegebenheiten an. Meist ging es um vereinfachte Methoden und Kostensenkungen. Inzwischen bietet die Firma unterschiedliche Größen für die verschiedenen Ansprüche und Geldbeutel an. Wer nur die eigene Familie mit Gemüse versorgen will, muss für das System umgerechnet rund 100 US-Dollar zahlen. Eine durchschnittliche Anlage für kommerzielle Landwirtinnen und Landwirte kostet 4.200 Dollar. 8.000 Systeme habe Hydroponics Africa mittlerweile an Kundinnen und Kunden nicht nur in Kenia, sondern auch in den ostafrikanischen Nachbarländern verkauft, erzählt Chege.
Mit Drohnen und Pflanzenvielfalt dem Klimawandel begegnen
Auch im Süden Afrikas überlegen sich Menschen, wie sie den Herausforderungen des Klimawandels und den Preissteigerungen auf den internationalen Märkten entgegenwirken können. In Simbabwe setzt das Unternehmen FarmBuzz dafür auf die Digitalisierung der Landwirtschaft. Die Organisation Tsuro-Trust geht traditionellere Wege und unterstützt Bäuerinnen und Bauern mit einer Saatgutbank.Die Produktivität in der Landwirtschaft steigern
Den Anbau regionaler Lebensmittel möchte auch Jehiel Oliver fördern. „Ich habe mich gefragt, warum Menschen in afrikanischen Ländern so viel Geld für Lebensmittel ausgeben, obwohl sie selbst anbauen könnten was sie brauchen”, erzählt Oliver, Gründer der App „Hello Tractor“. Mehr als 70 Prozent der Menschen in Nigeria sind beispielweise in der Landwirtschaft tätig. Trotzdem reichen die erwirtschafteten Nahrungsmittel nicht aus, um die gesamte Bevölkerung damit zu ernähren. Das liege vor allem daran, dass die Erntemenge pro Flächeneinheit nicht ausreicht, sagt Christian Borgemeister, einer der Direktoren des Zentrums für Entwicklungsforschung an der Universität Bonn. „Wenn Sie sich die weltweite Entwicklung der Erträge von wichtigen Kulturpflanzen wie Mais, Weizen oder Reis anschauen, dann sehen Sie eigentlich in allen Regionen dieser Welt so eine Art lineare Steigerung der Erträge. Nur nicht in Afrika“, fasst er das Problem zusammen. Dort, wo die Produktivität in afrikanischen Ländern zunahm, habe das an einer Ausweitung der Anbaufläche auf Kosten von Wäldern und Savannen gelegen und nicht auf einem besseren Ertrag pro Quadratmeter, sagt der Wissenschaftler.Oliver möchte dieses zentrale Problem in der afrikanischen Landwirtschaft lösen: das Fehlen an nötigen Maschinen, mit denen die Felder kommerziell bewirtschaftet werden können und so bessere Erträge pro Quadratmeter liefern. Denn mit den Maschinen geht die Arbeit schneller, was auch angesichts der Klimakrise ein Vorteil sein kann. Wenn der rar gewordene Regen kommt, muss der Boden locker sein, damit der kostbare Niederschlag nicht abfließt. Außerdem ist die Mechanisierung der Landwirtschaft – neben der Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit – einer der Schlüssel zur Verbesserung der Produktivität und somit zu einer ertragreicheren Ernte.
Um die Produktivität zu steigern gründete Oliver 2015 die App „Hello Tractor“ in Nigeria. Er war fasziniert von den Herausforderungen und Möglichkeiten, die das westafrikanische Land mit seinen mehr als 200 Millionen Einwohnern bietet. Inzwischen hat die Firma einen zweiten Hauptstandort in Kenia. Die App „Hello Tractor“ wird in 13 afrikanischen Ländern genutzt. Über sie bieten Bäuerinnen und Bauern ihre landwirtschaftlichen Maschinen zur Mitbenutzung an, beispielweise Traktoren oder Pflüge. Rund 3.000 Traktoren mit unterschiedlichen Gerätschaften sind auf der Plattform registriert. Allein in Kenia nutzen inzwischen mehr als 40.000 Bäuerinnen und Bauern die App, um Maschinen zu mieten oder zu vermieten. Bei der Buchung von Traktoren und Co. fällt eine Leihgebühr an. Die liegt bei etwa 20 bis 30 Euro, je nach Nutzung der Maschinen. 90 Prozent der Summe gehen an den Besitzer des Traktors, zehn Prozent bekommt das Unternehmen. Eine Win-win-Situationen für alle Beteiligten.
Der Weg zu einer unabhängigen Lebensmittelproduktion ist zwar noch lang, doch viele Bäuerinnen und Bauern in afrikanischen Ländern haben mittlerweile erkannt, welche Potenziale in der eigenen Landwirtschaft schlummern. Vor allem in Ländern, die besonders hart von der Ernährungskrise betroffen sind, arbeiten Menschen an Lösungen, um die eigene Produktivität zu steigern: durch neue landwirtschaftliche Techniken und kreative Lösungen im Gartenbau.