Streiten ist gut Vorsicht, Demokratie!
Es gibt nichts Besseres als Demokratie, davon ist Hasnain Kazim überzeugt. Und er weiß, dass sie ohne Anstrengung, ohne Ausgleich und vor allem ohne Streit nicht zu haben ist.
Wer macht die Regeln?
Alles richtig, alles gut, aber so einfach ist das nicht. Und man darf nicht vergessen, dass es um Herrschaft geht, und das bedeutet immer: Machtausübung. Wer bestimmt über wen, wer muss wem folgen, wer macht die Regeln? Wenn Menschen miteinander leben, dann sind – soll es gut und gerecht, sprich: zivilisiert zugehen – Regeln vonnöten. Also braucht es Herrschaft. Und damit Hierarchien. Dinge, die nicht immer angenehm sind.Es könnte einen Diktator geben, einen „starken Mann“ (Und seien wir ehrlich: Es sind in der Regel Männer, die als Diktatoren agieren), einen „Führer“, der selbstherrlich die Macht für sich beansprucht und über die Köpfe anderer hinweg alles bestimmt. Oder einen Autokraten, der vielleicht den demokratischen Schein wahrt, aber auch alles allein bestimmt. Was das bedeutet, wissen wir: Willkürherrschaft. Unfreiheit. Leid. Gewalt.
Oder man hat eine Demokratie: mit Wahlen, einem Parlament und einer gewählten Regierung. So gesehen ist Demokratie das geringste Übel. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt, was Herrschaftsformen angeht, nichts Besseres als eine Demokratie. Wo Macht zeitlich begrenzt vom Volk durch Wahlen übertragen wird. Wo jemand wiedergewählt und damit belohnt werden kann. Und wo die Macht, wenn die Unzufriedenheit mit den Herrschenden zu groß wird, auch wieder entzogen werden kann. Hervorragend!
Argumentieren, diskutieren, kluge Kompromisse finden
Aber einfach ist Demokratie nicht. Klar, man könnte nur seine eigenen Interessen verfolgen, und es gibt Leute, die glauben, wenn jeder das täte, käme am Ende etwas Gutes dabei heraus. Bis zu einem gewissen Grad mag das sogar stimmen. In der Praxis zeigt sich aber, dass dabei die Leisen und die Schwachen, die Zögerlichen und die Ängstlichen, die Rücksichtsvollen und die Nachgiebigen auf der Strecke bleiben. In einer Demokratie müssen also, bei allem Reden und Handeln, auch die Interessen anderer Menschen berücksichtigt werden. Rücksicht und Respekt gehören dazu.Demokratische Entscheidungen sind meistens ein Kompromiss, schließlich sollen sich möglichst viele darin wiederfinden können – auch Minderheiten. Um solch kluge Entscheidungen treffen zu können, muss man sich vorab informieren. Man muss reden, debattieren, diskutieren, streiten, abwägen, Argumente austauschen, die eigenen Ansichten darlegen und begründen, bisweilen scharfe Worte ertragen (und auch mal austeilen), Standpunkte überdenken, möglicherweise ändern, letztlich den Ausgleich suchen.
All das ist anstrengend und birgt die Gefahr, dass manche Leute diese Anstrengungen scheuen und sich einfache, kompromisslose Lösungen wünschen. Einer befiehlt, alle gehorchen, zackbumm, fertig! Wieder andere glauben, man müsse sich um die Demokratie nicht bemühen, müsse sie nicht pflegen und kultivieren, schließlich gebe es Demokratie schon lange, was könne da schief gehen? Erinnern wir uns an unsere Lehrerinnen und Lehrer, die davon redeten, Demokratie lebe vom Mitmachen und müsse wehrhaft sein, man müsse für sie arbeiten. Wir Schülerinnen und Schüler gähnten damals. Worum geht es denen?, haben wir uns gefragt. Wir haben doch Demokratie!
Populismus als weltweite Gefahr
Tatsächlich ist die Demokratie weltweit auf einem absteigenden Ast. In allen Teilen der Welt verfangen einfache Antworten auf schwierige Fragen, feiern Populisten mit ihren radikalen Vorschlägen Erfolge, setzen Menschen nicht mehr auf Kompromiss und friedliches Zusammenleben, sondern auf das Recht des Stärkeren und auf Spaltung. Die Demokratie selbst ist anfällig für Populismus, da sie auf Abstimmungen und Mehrheitsprinzip basiert. Manche Menschen denken, Demokratie bedeute die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Wäre das so, kämen Minderheiten nie zum Zuge. Auch deshalb ist Ausgleich nötig und Repräsentation aller Menschen.Nun wünschen sich manche Menschen mehr Basisdemokratie, also Volksentscheide. Man solle, nachdem Argumente ausgetauscht worden sind, über alles abstimmen dürfen. Prinzipiell ist das richtig: so viel Demokratie wie möglich. Das Problem ist nur, dass manche politischen Themen so komplex sind, dass sie sich nicht in ein Ja-Nein-Schema pressen lassen. Außerdem – auch das ist eine Gefahr – sind Menschen manipulierbar. Zur rechten Zeit, mit den richtigen Worten, kann man sie für alles begeistern. Zum Beispiel auch für Folter und Todesstrafe. Oder für die Stigmatisierung und Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe, einer Ethnie oder einer Religion.
Streiten für demokratische Werte
Das aber ist inakzeptabel in einer zivilisierten Gesellschaft. Deshalb braucht Demokratie Grenzen. Auch Grenzen des Sagbaren. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass alles konsequenzlos sagbar ist. Worte haben Folgen, für seine Worte trägt man Verantwortung. Wir leben in Zeiten, in denen Extremisten an Einfluss gewinnen. Rechtsextremisten, Faschisten, Neonazis hier, Islamisten dort. Viele dieser Leute nutzen die Demokratie für ihre Zwecke. Sie bieten vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme, gewinnen auf diese Weise Wahlen, stellen Abgeordnete, machen sich demokratische Strukturen zunutze, um die Demokratie auszuhöhlen. Sie setzen die Agenda, regieren in manchen Ländern mit, stellen in einigen gar den Regierungschef, und stets vergiften sie das Klima in einer Gesellschaft.Deshalb müssen wir streiten. Wir müssen die Auseinandersetzung suchen, wenn wir unsere Werte, unsere offene, liberale Gesellschaft in Gefahr sehen. Wir müssen unsere Stimmen erheben, Argumente bringen, uns für Demokratie einsetzen. Wenn wir nicht streiten, wenn wir die Auseinandersetzung scheuen, werden mühsam erkämpfte Freiheiten wieder beschnitten, Autoritarismus macht sich breit, seltsame Ideologien gewinnen immer mehr Anhänger. Wir müssen streiten, damit die Demokratie gewinnt. Denn die Wahrheit ist: Es gibt nichts Besseres.