Techno-Kultur in Chengdu Underground im 21. Stock
Eingangsbereich vom Techno-Klub .TAG | © yì magazìn
Berlin ist der Mittelpunkt des internationalen Techno-Universums, Chengdu die des chinesischen. Roman Kierst taucht ein in die Untergrund Szene der Metropole im Südwesten Chinas.
Am ersten „Türsteher” kommt man leicht vorbei. Der Sicherheitsmann im Erdgeschoss dieses Büroturms ist in TikTok vertieft. Ich scanne mit meiner chinesischen Corona-App den QR-Code an der Tür, grünes Signal, alles in Ordnung. Dann drehe ich mein Handy in Richtung des Security-Bediensteten, aber es interessiert ihn nicht, alles etwas entspannter hier im chinesischen Süden.Hinter der Tür ein unscheinbarer Eingangsbereich, glatte marmorierte Wände und Böden, der Geruch von bestelltem Essen in der Luft, es ist Mittagszeit im Chengduer Poly Center. Normaler Betrieb im ganz gewöhnlichen Eingangsbereich dieses ganz gewöhnlichen chinesischen Büroturms, könnte man meinen – aber das hier ist nicht irgendeine Lobby, sondern die Pforte zum Mittelpunkt des chinesischen Techno-Universums.
Es gibt keine Schilder und keine anderen eindeutigen Hinweise – man muss wissen, wo man hinwill. Links abbiegen, dann einen langen Gang entlang, an dessen Ende mich ein kleiner Fahrstuhl in die 21. Etage bringt. Einen unglaublichen Blick über die leicht smogverhangenen Häuserschluchten dieser Zehn-Millionen-Stadt hat man an dieser Stelle – und schnell stellt sich das Gefühl ein, hier oben ganz woanders angekommen zu sein, gefühlt weit weg von dem gesellschaftlichen Treiben da unten, den Zwängen und Nöten des post-pandemischen Alltags. Wie treffend also, dass mein Ziel hier oben, der Techno-Klub am anderen Ende des Flurs, .TAG heißt – das steht für: To Another Galaxy.
Der von einer Frau geführte, queer-freundliche Klub wurde 2014 gegründet. Damals war er eines von vielen Unterhaltungsetablissements in dem als baoli zhongxin 保利中心 oder eben Poly Center bekannten gewerblichen Hochhaus. Jetzt ist das .TAG mittlerweile der letzte verbliebene Klub, den man längst über die Grenzen der Stadt hinaus kennt, unter anderem für die mehrtägigen Raves um das chinesische Neujahrsfest, die Jahr für Jahr Techno-Heads aus ganz China anziehen.
Auch außerhalb Chinas ist das .TAG mit seinen Residents kein unbekannter Klub mehr und hat sich unter tourenden internationalen DJs, zum Beispiel der Berliner Herrensauna-Crew, als beliebte Station in Asien etabliert – vor der Pandemie. Héctor Oaks veröffentlichte 2019 auf dem irischen Label Earwiggle sogar einen Acid-Banger mit dem Titel Just A Chengdu Dog.
Die Pandemie führte zur Schließung der Grenzen, da war zeitweise Schluss mit internationalen Bookings, aber der Klub-Betrieb im 21. Stock des Poly Center ging weiter. Er läuft auch mit lokalen DJs ziemlich gut, vielleicht sogar so gut wie nie zuvor. Zum einen sind da die .TAG-Residents erster Stunde wie Hao, die den Klub von Anfang an musikalisch mit getragen, ihn groß gemacht haben. Aber auch neue DJs konnten nach und nach Teil der .TAG-Familie werden, sodass der Klub mittlerweile ganze Monate mit lokalen DJs buchen kann, die problemlos lange Sets von Mitternacht bis in den Vormittag spielen können.
Was das .TAG so besonders macht, ist sicher all dies – der Klub selbst mit seinen beiden Floors und Blick über die Stadt, die DJs und alle anderen Macher*innen von der Tür bis an die Bar, die Community drum herum. Aber auch in anderen chinesischen Städten gibt es mittlerweile interessante Klubs, nicht nur in den Metropolen Beijing und Shanghai, sondern auch in international etwas weniger bekannten Städten wie Shenzhen oder Hangzhou.
Was die Techno-Kultur in Chengdu um das .TAG aber besonders macht und im Vergleich zu anderen Städten in eine andere Techno-Galaxie befördert, das sind die Strukturen, die um diesen Klub und darüber hinaus entstanden sind: Techno-Infrastruktur, die Menschen um diese Musik zusammenführt, neue Talente hervorbringt und die ganze Szene wachsen und reifen lässt.
Das Techno-Dreieck
Ein wichtiger Teil dieser Techno-Infrastruktur ist die oberste Etage des Soho-Gebäudes nur wenige Minuten Fußweg vom .TAG entfernt. An einem schmalen Gang im Freien mit Blick auf den Innenhof des Gebäudes reihen sich hier die Hakka Bar, die DJ- und Musikschule Bianli, der Plattenladen Yitong und schließlich das Chengdu Community Radio aneinander.An Orten wie der Hakka Bar oder dem Plattenladen Yitong kann man Gleichgesinnte treffen, sich über Musik austauschen, Kontakte knüpfen, Freundschaften schließen und Zugang zur Szene bekommen. Yitong etwa bietet mit seinen Open-Deck-Nights unter der Woche neuen DJs auch ohne Verbindungen in die Szene eine Chance, sich an den Decks auszuprobieren, sich zu beweisen. Über erste kleinere Bookings, etwa in der Hakka Bar oder im Chengdu Community Radio nebenan schaffen sie es dann vielleicht auf größere Floors in Chengdu.
Was sich nicht geändert hat, ist das Schild neben dem Floor, auf dem in großen Leuchtbuchstaben selbstironisch wenming wuting 文明舞厅 steht, das heißt so viel wie: Hier darf nur zivilisiert, nur anständig gefeiert werden. Und gefeiert wird dort wie eh und je, der Klub gibt lokalen Promoter*innen und Crews die Chance, sich in einem überschaubaren Raum mit kleineren Events auszuprobieren, bevor man sich an größere Klubs wagt.
Eine, die in diesen Strukturen groß geworden und hier zu Hause ist, vielleicht sogar exemplarisch für das steht, was diese Strukturen möglich machen, ist Luca.
Auf der Neujahrs-Party 2019 im .TAG fiel mir sofort Lucas guter Musikgeschmack und ihr Händchen für eine insgesamt diverse Musikauswahl auf. Mittlerweile legt Luca regelmäßig in großen Klubs in ganz China auf und hat ihre ersten selbst produzierten Tracks veröffentlicht.
Von Ya’an in eine andere Galaxie
Luca kommt ursprünglich aus Ya’an in Sichuan. Ihre Liebe zur Musik entdeckt sie im Elternhaus, denn beide Eltern hatten beruflich mit Musik zu tun. „Mein Vater hat damals quasi zur Avantgarde gehört”, schreibt Luca mir auf WeChat: „Er hat Lederklamotten getragen, Breakdance ausprobiert, sogar eine eigene Diskothek aufgemacht. Zu Hause hatten wir deswegen immer viele CDs, viel davon war europäische und amerikanische Musik, aber auch chinesische Volksmusik, die er gerne mochte.” Lucas Mutter ist Kindergärtnerin und spielt Klavier.In Lucas Heimatstadt Ya’an leben 1,4 Millionen Menschen. „In der Stadt ist schon ein bisschen was los, aber insgesamt ist es relativ isoliert dort. Ich bin aber jemand, der gern Neues entdeckt und früh angefangen hat, die Welt jenseits der Stadtgrenzen zu erkunden, auch über Musik. Ich hab damals regelmäßig die Zeitschrift Hit Music gekauft, hab mir die Bands aufgeschrieben, die mich interessieren, und dann im Internet danach gesucht. Was ich jetzt als DJ mache, ist nicht so viel anders als das, was ich als Kind gemacht habe, ich suche Musik und teile diese mit anderen.”
Als Studentin stößt Luca auf Weibo, dem chinesischen Twitter-Pendant, zufällig auf das .TAG und wird neugierig. „Ich bin an einem Wochenende nach Chengdu ins .TAG gefahren, war da ziemlich schüchtern und saß den ganzen Abend alleine an der Bar neben dem Floor. Ich habe die DJs und die Menschen genau beobachtet und war total gefesselt von den Emotionen und der Energie in dem Raum. In dem Moment hab ich entschieden, dass ich auch Musik auflegen möchte.”
Luca sucht daraufhin nach einem Mentor und freundet sich mit dem Chengduer DJ Xiaolong an, der ihr bei ihren ersten Schritten behilflich ist. Drei Monate später kommt der erste Gig im .TAG: „Ich hab viel geübt und hatte auch einfach Glück, es gab diese Open-Deck-Night im .TAG, und was ich da musikalisch gemacht habe, ist gut bei den Leuten angekommen. Man kann wirklich sagen, dass das .TAG für mich quasi wie eine Mutter ist, die mich genährt und großgezogen hat wie ihr Neugeborenes.”
Funky Town in Chengdu | © yì magazìn Über die Open-Deck-Night und erste Gigs im .TAG fasst Luca langsam Fuß in der Szene. 2017 spielt sie zum ersten Mal auf einer der Neujahrs-Partys im .TAG und findet nach und nach ihren Weg in andere Chengduer Klubs, zum Beispiel Funky Town. Rückblickend sagt sie: „Chengdu hat über die Jahre eine diverse Musik-Landschaft gehabt. Das ist ein insgesamt ziemlich tolerantes, offenes, vorwärts gerichtetes Umfeld, in dem ich langsam wachsen und unterschiedliche Sachen ausprobieren konnte. Man kommt ständig mit neuer Musik und neuen Sachen in Berührung, und durch diese Impulse findet man langsam zu sich selbst und zu dem, was man machen will.”
Bald interessiert Luca sich für das Produzieren und belegt 2017 einen entsprechenden Online-Kurs. „Ich hab mit diesen Video-Tutorials Ableton Live gelernt. Ich hab das richtig ernstgenommen und auch erste Sachen produziert, aber ich hab es nicht so richtig hinbekommen, meine ganzen musikalischen Ideen mit den Möglichkeiten der Software umzuwandeln in richtige Tracks.”
Luca nimmt daraufhin Unterricht bei Mao Mao alias Heling in der DJ- und Musikschule Bianli. Der ehemalige Rock-Gitarrist ist mittlerweile Techno-Produzent, DJ und neben seinen modularen Synthesizern als Szene-Größe unter anderem bekannt für seine langen Closing-Sets am letzten Tag der alljährlichen Neujahrs-Raves im .TAG.
Ihren ersten Track Genetic Storm veröffentlicht Luca 2021 auf einer Compilation des chinesischen Labels Crater Records. Das Stück mit Kick Drum auf erstem und drittem Beat und sparsamem Einsatz anderer perkussiver Elemente beginnt und endet mit Sturm- und Wind-Geräuschen und offenbart Lucas musikalischen Einflüsse wie Dark Wave, Ambient und Electro, die auch in ihren DJ-Sets zu hören sind. Musik auflegen und Musik machen sind für Luca zwei Seiten einer Medaille: „Es geht darum, die verborgenen Seiten der eigenen Persönlichkeit auszudrücken. Wenn ich den Ausdruck finde, damit eine emotionale Brücke schlagen kann zu anderen, eine Verbindung schaffe, dann bin ich zufrieden Musik auflegen und Musik machen gibt mir Energie und ich will versuchen, diese gewonnene Energie auch im Klub weiterzugeben.”
Ihr zweiter Track Yun (dt. „Wolken”) ist in Zusammenarbeit mit einem Chengduer Restaurant entstanden. Sehr passend für eine DJ und Produzentin aus Chengdu, denn diese Stadt ist vor allem für ihre besondere kulinarische Kultur und Vielfalt bekannt. Das siebenminütige Ambient-Stück mit ruhiger Klavier-Melodie besticht durch die durchgehenden Field-Recordings. „Das sind Aufnahmen von einem Gemüsemarkt und Bauernhof in Yunnan”, erklärt Luca. Dieser Bezug zur Natur spielt für sie eine große Rolle, in ihrer Freizeit ist sie viel draußen und geht häufig klettern. „Genau wie die Musik gibt mir der Bezug zur Natur unglaublich viel Energie. ”
In Chengdu scheint alles ineinander zu greifen: die diverse Klub-Landschaft mit ihren kleinen und großen Veranstaltungsorten, der Plattenladen, die Musikschule, selbstorganisiertes Internet-Radio und anderes mehr. All das ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit von vielen Beteiligten, die auch unter widrigen Umständen weitergemacht haben.
Aber das Konstrukt Techno bleibt in China fragil, auch in Chengdu. Die inzwischen aufgehobene chinesische Zero-Covid-Strategie hatte dazu geführt, dass auch hier alle Bars und Klubs sofort schließen mussten.. Es bleibt ein post-pandemischer Dauerzustand, der langfristige Planung unmöglich macht und durch den immer mehr Klubs und andere Kulturorte existenziell bedroht sind.
Deswegen ist es umso erfreulicher, dass diese so besondere und schützenswerte Techno-Infrastruktur und das, was daraus hervorgeht, nun international richtig anzukommen scheint und auch in Berlin Beachtung findet – vom Mittelpunkt des chinesischen Techno-Universums zum Mittelpunkt des internationalen Techno-Universums sozusagen: .TAG-Resident Cora spielte am 30. Juli 2022 als erste DJ aus Chengdu im Berghain, Berlin.