Interview mit Maraa Community-Radio in Indien

Antenne auf einem Dach in Indien
Antenne auf einem Dach in Indien | © Aditya Ghodke/Unsplash

Wie schafft es das Radio, dass wir uns wie zu Hause fühlen? Wie kann das Radio in Krisensituationen helfen? Wie wird das Radio in Indien finanziert, und wer hat es dort auf den Weg gebracht? Anushi Agrawal und Ram Bhat vom Kunst- und Medienkollektiv Maraa aus Bangalore im Gespräch mit Verena Hütter.
 

Zunächst einmal möchte ich etwas über Maraa erfahren. Was ist Maraa?

Ram: Maraa ist ein Medien-Kunst-Kollektiv und eine gemeinnützige Organisation. Im indischen Bundesstaat Karnataka wird Kannada gesprochen. Und das kannadasprachige Wort „Maraa“ bedeutet „Baum“. Wir alle in der Organisation interessieren uns für Medien und kommen vom Community Radio. Ab 2008 haben wir einige der ersten Community Radios des Landes ins Leben gerufen. Die Leute, die die Sender betreiben, haben wir auf dem Gebiet der Recherche, Programmgestaltung, Produktion, Dokumentation und Finanzplanung ausgebildet. Wir haben sie auf verschiedene Weise unterstützt, und viele dieser Radios sind heute noch auf Sendung.

Radio verbindet uns mit unserer Heimat.

Ihr habt mir erzählt, dass in Indien über 8.000 Sprachen gesprochen werden. Welche Rolle spielt das Radio angesichts dieser reichhaltigen Sprachkultur in Indien?

Ram: Ich glaube, in vielerlei Hinsicht gilt nur das gedruckte Wort. Eine Sprache muss eine sehr hohe Hürde überwinden, um in gedruckter Form zu erscheinen. Es muss sich um eine anerkannte Sprache handeln, bei der ein damit verbundenes Druckwesen, eine Leserschaft sowie eine Schrift existieren. Das Radio hingegen ist ein gesprochenes Medium. Wir sind der Ansicht, dass das Community Radio sehr hilfreich bei der Förderung von Sprachen ist, die nicht unter die offiziellen Sprachen fallen. In Indien werden 26 Sprachen von der Regierung anerkannt. Die unzähligen anderen Sprachen und Dialekte sind nicht anerkannt. Es bleibt größtenteils der jeweiligen Kultur überlassen, diese Sprachen zu erhalten. Und ich denke, dass das Radio einen wichtigen Beitrag zu dieser kulturellen Arbeit leistet, indem es dafür sorgt, dass die Sprache weiterlebt, ohne ihr unbedingt einen offiziellen Status verleihen zu wollen. Wenn sich eine Sprache weiterentwickelt, kommen neue Wörter auf, neue Wege, um neue Realitäten zu gestalten. Das Radio kann dabei helfen, eine Sprache in ihrer Entwicklung aufzuzeichnen.

Anushi: Viele Sprachen und Dialekte haben keine Schriftform, sondern werden nur gesprochen. Und daher ist das Radio eine wirklich gute Plattform für diese Sprachen, weil eine Fülle an Kultur damit verbunden ist, eine Fülle an Liedern. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Arbeitsmigrant*innen lassen ihr Zuhause zurück und gehen in die Stadt. Wenn es dort ein Radioprogramm in ihrer Sprache gibt, verbindet sie das gleich mit ihrer Heimat. Auf der Suche nach Arbeit ziehen viele beispielsweise aus dem Bundesstaat Bihar in die Stadt Gurugram. Dort sendet ein Community Radio Musik in der Regionalsprache von Bihar. Die Leute, die fernab der Heimat hier arbeiten, haben sofort eine Beziehung zu dieser Musik. Das Community Radio bekommt viele Anrufe mit der Bitte, Lieder in der Sprache dieser Arbeitsmigrant*innen zu spielen.

Das kann ich sehr gut verstehen. Wenn ich höre, wie jemand mit süddeutschem Akzent spricht, der Region, aus der ich komme, ruft das jedes Mal in mir ein besonderes Gefühl hervor; Sprache schafft ein Gefühl von Heimat. Wie sieht es mit den Community Radios aus, mit denen ihr bei Maraa zusammenarbeitet – senden die Radiostationen in verschiedenen Sprachen, oder hat jeder Sender eine Sprache?

Anushi: Wir arbeiten mit einem Netzwerk von Community Radios zusammen, die über das ganze Land verteilt sind. Sie senden alle in verschiedenen Sprachen. Nach indischem Recht darf ein Community Radio nur in einem Umkreis von 20 Kilometern senden. Und daher sind bei einem lokalen Radiosender die Sprachen vertreten, die in dieser Region gesprochen werden. Das Programm ist stark auf die Bevölkerung innerhalb des Sendegebietes zugeschnitten.

Ram: Wenn es sich um eine Radiostation in einem ländlichen Gebiet handelt, ist die Hörerschaft im Sendegebiet nicht sehr heterogen. Höchstwahrscheinlich ist das Programm dann in einem Dialekt gehalten. Doch eine städtische Radiostation sendet normalerweise in vielen Sprachen, weil die Hörerschaft breiter gefächert ist.

Community Radios in Indien finanzieren sich aus sehr unterschiedlichen Quellen.

Wie sieht es mit der Finanzierung der Community Radios aus?

Ram: Das ist eine Mischkalkulation. Laut Gesetz sind den Community Radios fünf bis acht Minuten Werbung pro einer Stunde Sendezeit gestattet. Meistens handelt es sich dabei um lokale Anzeigenkund*innen, wie ein Geschäft vor Ort, oder Privatpersonen, die ein Fest ankündigen wollen. Ein weiterer Teil der Finanzierung läuft über Sponsoring. Während der COVID-Pandemie hat das Gesundheitsministerium eine Sendung über Impfungen finanziert. Die Lizenz für ein Community Radio wird oft von einer gemeinnützigen Organisation erworben, und die Kosten für den Sender sind Teil von deren Gesamtbudget. Diese Organisationen konzentrieren sich auf bestimmte Themen, wie Gewalt gegen Frauen oder Umweltfragen, und bekommen dafür finanzielle Unterstützung.

Anushi: Auch Organisationen der Vereinten Nationen wie UNICEF und UNESCO fördern die Programmgestaltung von Community Radios in Indien. So hat die UNESCO ein Netzwerk von 13 Community Radios in Indien unterstützt, die in Kooperation mit Maraa Sendungen mit Bezug zur COVID-Pandemie ausgestrahlt haben.

Wie verhält es sich mit dem öffentlichen Rundfunk in Indien? In Deutschland wird eine Rundfunkgebühr zur Finanzierung des öffentlich rechtlichen Rundfunks erhoben. Wie funktioniert das in Indien?

Ram: Der öffentliche Rundfunk in Indien wird aus Steuergeldern finanziert, und es gibt keinen Rundfunkbeitrag wie in Europa. Im Grunde genommen sind es staatliche Mittel, von denen ein Teil an die öffentlichen Sender geht. Der öffentliche Rundfunk ist eine unabhängige, autonome Organisation. Doch die Regierung kontrolliert ihn über die Finanzierung, das Budget und die Ernennung eines Beamten, der die Direktion übernimmt. In der Praxis ist der öffentliche Rundfunk also nicht besonders unabhängig.

Es ist ganz einfach, einen Radio-Sender einzurichten.

In einem früheren Gespräch habt ihr die entscheidende Rolle erwähnt, die dem Radio in Krisensituationen wie einem Erdbeben zukommt.

Ram: Ob es sich nun um einen menschengemachten Konflikt oder eine Naturkatastrophe handelt, gibt es einen erhöhten Kommunikationsbedarf. Die Menschen sind beunruhigt über die Geschehnisse. Sie wollen zu anderen Verbindung aufnehmen, und daher gerät die Kommunikationsinfrastruktur erheblich unter Druck. Die Telekommunikationsinfrastruktur bricht aufgrund des erhöhten Datenverkehrs oder aufgrund von Stromausfällen sehr schnell zusammen. Das Radio kann hier ein äußerst zuverlässiges Backup sein. Selbst wenn die bestehende Sendeinfrastruktur kollabiert, kann über Nacht eine neue aufgebaut werden. Es ist ganz einfach, einen temporären Sender einzurichten.

Ich gehöre zu einem regionalen Netzwerk von Community Radios, das sich AMARC nennt. Die Leute dort haben eine Technik entwickelt, mithilfe derer sich im Handumdrehen ein Radiosender mit minimaler Ausrüstung installieren lässt. Sie bezeichnen das als „Radio aus dem Koffer“ oder „Radio aus dem Rucksack“. Die Technik ist bei dem Erdbeben in Nepal und in Westindonesien bei Vulkanausbrüchen zum Einsatz gekommen.

Kennt ihr euch mit den Anfängen des Radios in Indien aus? Bei Wikipedia habe ich gelesen, dass die britische Kolonialmacht das Radio in Indien etabliert hat, stimmt das?

Ram: Die britische Kolonialmacht hat das Radio in Indien institutionalisiert. Davor gab es eine Piratenradioszene, bei der viele Unternehmer Radiosender für reiche Europäer*innen und betuchte, monarchietreue Inder*innen ins Leben riefen, denn Radiogeräte waren teuer. Die Radioclubs waren sehr elitär. Und die Kolonialmacht fürchtete sich vor dem, worüber da gesprochen wurde. Daher musste alles unter die Kontrolle eines Unternehmens und letztlich der britischen Regierung gebracht werden. Dann versuchte man, eine Rundfunkgebühr zu erheben, wie es sie immer noch in Europa gibt. Aber das erwies sich als wenig praktikabel, denn die meisten Menschen des Landes waren sehr arm. Das waren die Anfänge des Radios. Seit der Unabhängigkeit hat sich am Großteil der grundlegenden Architektur nichts verändert. Tatsächlich unterliegt das Radio noch immer hauptsächlich dem Indian Telegraph Act, ein Gesetz, das die britische Kolonialmacht 1885 erließ. Die Rundfunkgesetze basieren bis zum heutigen Tag auf dieser Rechtsvorschrift.

Anushi: Der private UKW-Rundfunk kam Mitte der 1990er-Jahre in Indien auf. Und dann traten um 2006 Richtlinien für Community Radios in Kraft. Damit ist das Community Radio der jüngste Radiosektor in Indien.

Ich weiß, dass ihr beide das Radio ganz offensichtlich liebt. Habt ihr eine bestimmte persönliche Erinnerung in Bezug auf das Radio, an der ihr uns gern teilhaben lassen würdet?

Anushi: Meine persönliche Erinnerung an das Radio sind alte Hindi-Lieder. Die habe ich an Winterabenden in Delhi mit meinem Papa gehört. Er hörte oft Radio, weil er zu einer Zeit aufwuchs, als es noch kein Fernsehen gab. Und das Radio war die einzige Informationsquelle.

Ram: Ich bin auch in Delhi großgeworden. Ich erinnere mich daran, wie ich Anfang oder Mitte der Achtziger mit russischen Zeitschriften in Berührung kam, zum Beispiel mit Science-Fiction-Zeitschriften für Jugendliche und auch mit russischen Comics. Ich glaube, das war eine Hinterlassenschaft der indisch-russischen Freundschaft aus der Nehru-Zeit. Die beiden Staaten standen in regem Austausch miteinander. Und ich weiß noch, wie ich versuchte, mit einem kleinen Kurzwellengerät Radio Moskau zu empfangen, damit ich ein Gespür für den Klang dessen bekam, was ich da las. Ich wollte eine andere Welt erreichen.


Großer Dank geht an Anushi und Ram, die sich die Zeit genommen haben, ihr Wissen zu teilen, und an unsere großartigen Kolleg*innen vom Goethe-Institut in Bangalore für die Vermittlung.

Dieses Interview erschien erstmals in der Zeitschrift „Politik & Kultur“ (9/23).