Eine Unterhaltung Es brüllen die Automobile

Always With You
Always With You | Illustration: Maria Krafft

Die folgende Unterhaltung dauert so lange, wie es dauert, ein Glas genüsslich leerzutrinken. Gegenstände der Unterhaltung sind: die argentinische Autorin Silvina Ocampo, K., eine Frau, die sich in ein Auto verwandelt, und ein Autoradio.
 

[Unbestimmter Straßenlärm, zu einer unbestimmten Zeit, an einem unbestimmten Ort] Der erste Satz schon. Sie hatte ihm ja sein Auto gestohlen. Dieses Ja. Ein Kind sagt nicht schließlich, sonst würde es Ja schließlich sagen, aber dann würde die ganze Geschichte nicht mehr funktionieren. Ein Ja also wie ein Ja schließlich, das ja irgendwie ein Verständnis signalisiert, bis zur Zustimmung sogar, bis zur Verteidigung fast, und gleichzeitig so ein leichtes Unwohlsein mit dieser Zustimmung, oder zumindest das Bewusstsein darüber, dass die Entscheidung, der da zugestimmt wird, einer Verteidigung bedürfen könnte. Vielleicht liegt darin noch eine Spur Hoffnung. In dem Bewusstsein, dass es Einwände geben könnte, Einwände moralischer Natur, wobei [kurzes Kunstlachen] Natur. Eigentlich eben nicht Natur. Natürlich scheint für diese Stimme ja die Rache als Reaktion, der Rachetrieb als Motivation. Dass diese Stimme, die sich das, was sie beobachtet – die Elemente der fabula, um mit den russischen Formalisten zu sprechen – also, dass die Stimme, die diese Elemente zu einer Rachegeschichte zusammensetzt, sich die fabula als die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich verständlicher- vielleicht sogar berechtigterweise an seiner Frau rächt, weil sie in etwas anderem aufgegangen ist als in der Beziehung zu ihm – dass diese Stimme einem Kind gehört, [mit Nachdruck gesprochen] das ist der Horror! Der Horror liegt in der Perspektive! Oder die Perspektive ist der Horror. Das ist es auch, was K. von Ocampo übernimmt. Unter anderem. Diese Art von Horror-Perspektive. Du hast sie nicht gelesen, oder?

Die Story? Nein, aber eine Kritik zur Vorlage, also von dieser chilenischen Autorin.

Silvina Ocampo. Argentinisch!

Ah. Ja. Wahrscheinlich. Ich weiß nicht. Den Namen hab ich vergessen. In der sich eine Frau in ein Auto verwandelt, oder? Irgendwann aus den … 1950ern? Oder wann hat die gelebt? 1960er? Ich war mir nicht sicher …

[gleichzeitig gesprochen] Ja, schon bemerkenswert. [kurzes Lachen aus zwei geschlossenen Mündern] Wessen warst du dir nicht sicher?

Ah. Äh. Ich war mir nicht sicher … ich war mir nicht sicher, ob es um Autos geht oder um Liebe.

[Klackern von Eiswürfeln in einem halbvollen Glas, zu den Lippen geführt und leicht geneigt] Mm. Bei Ocampo?

Ja.

Ja, das ist ja immer irgendwie die Frage, oder? Geht es um Autos – sowas wie Autos – oder geht es um Liebe?

Ja stimmt, das ist wirklich immer die Frage. [Klackern von Eiswürfeln in zwei halbvollen Gläsern, zu den Lippen geführt und leicht geneigt]

Oder ums Schreiben. Also geht es ums Schreiben. Ums Erzählen. Bei Ocampo geht’s immer auch irgendwie darum. Die Frau in El Automóvil zum Beispiel – Das Automobil – wird zu ihrem Auto, löst sich darin auf sozusagen, im Objekt ihres Begehrens, so wie Ocampo sich in ihrer Geschichte auflöst.

Also so feministisch gelesen? Das Autofahren als Frau als Metapher für das Schreiben als Frau?

Ja, aber nicht zwangsläufig nur feministisch. Diese Auflösung ist ja was geschlechtsunspezifisches. Das Motiv, also das der Auflösung kommt bei Ocampo auch öfter vor, und bei K. sowieso, ständig. Die Auflösung im Werk oder im Objekt des Begehrens oder des Sehnens oder die Sehnsucht nach Auflösung im Objekt, das wiederum immer irgendwie ein eigenes Werk ist, eine Idee, eine Projektion – eigentlich ein Zeichen, immer ein Zeichen. Was sagt uns das. Ist das was Universelles, eine universelle, zeitlose Sehnsucht, oder ein Phänomen unserer Gegenwart. Wenn Ocampo schon davon gewusst hat?

Wovon?

[Aus einem von einem eckigen Eiswürfel gefüllten Mund gesprochen] Vong ger Chehngsuchk ngach Auchösunk.

Hm. Vielleicht ist diese Sehnsucht universell, aber erst in der Gegenwart zur einzigen vorstellbaren Utopie geworden. Also bei K‘s Bearbeitung von dieser Ocampo-Geschichte …

[Klackern eines zu einem Drittel aufgelutschten Eiswürfels, von tauben Lippen in einen gläsernen Aschenbechern fallen gelassen] Ah, aua. [Lachen aus zwei leicht geöffneten Mündern, eines davon grunzend] Mm. [Schlürfen, Schlucken] Und bei Casares, der übrigens genau wie K‘s Figur, also der Mann, sechs Jahre nach seiner Frau gestorben ist …

Warte, Casares und Ocampo waren zusammen?

Jaa ja, klar, verheiratet. Die haben sogar ein Buch zusammen geschrieben. Einen Krimi. Naja nicht wirklich. Sowas wie einen hyperironischen Krimi, um mal einen Begriff von K. zu verwenden. Anachronismus in diesem Fall. [Kurzes Kunstlachen] Irgendwas mit Hass und Liebe im Titel. Natürlich. [Kurzes Kunstlachen] Und Casares wiederum hat mit Borges geschrieben, und Borges wiederum hat Ocampo verehrt, weil er erkannt hat, dass sie die Kühnste von ihnen dreien war, vielleicht auch die Virtuoseste, ganz bestimmt die Düsterste. Ihre Geschichten haben immer so eine spezielle Dringlichkeit, etwas Treibendes und Durchtriebenes, als hätte sie sie schnell hinter sich bringen wollen. Und auch als Leser*in hastet man so hindurch, will irgendwie gleichzeitig verweilen und erledigen. Diese seltsame Mischung aus genussvoller Rührung und Horror. Borges hat diese Qualität natürlich erkannt. [Klackern eines einzelnen halbaufgelösten Eiswürfels in einem eindrittelvollen Glas, gedankenversunken hin und her geschwenkt] Die Beste in ihrem Genre war sie nicht, hm. Dafür hat sie sich nicht genug um Ökonomie geschert, zum Beispiel, und mit Kriterien wie Konsistenz oder Stringenz oder so braucht man bei ihr gar nicht erst kommen. Aber gerade das macht auch den Reiz aus in ihren Geschichten. Man hat nicht das Gefühl, so richtig auf Effekt konstruierte Erzählungen mit klarer, durchdachter Dramaturgie zu lesen, wie – bis zu einem gewissen Grad zumindest – bei Borges oder Casares oder auch bei klassischen Gothic- und Horror-Autoren wie Lovecraft oder so. Ocampos Geschichten wirken so unkuratiert, urwüchsig fast, wie ganz roh hervorgeholt aus einer ganz ganz düsteren, ganz ganz tiefen Quelle, die gleichzeitig anzieht und abstößt, wie Horror es eben tut, echter Horror, unerklärlicher Horror, mein ich – meiner Meinung nach schon eine Tautologie.

Jaa. [Klackern von halbaufgelösten Eiswürfeln in einem einviertelvollen Glas, im Kreis geschwenkt] Unerklärlicher Horror meinst du?

Ja genau. Aber was ich sagen wollte: Bei Casares, der übrigens elf Jahre jünger war als Ocampo, erscheint dieses Motiv auch, also das der Auflösung im Werk. In Morels Erfindung. Kennst du, oder?

Morels Erfindung? Hm, ich kenn nur dieses Hörspiel, vom WDR war das, glaub ich.

Ah ja, das ist genious. Ja, dann weißt du ja ungefähr. Ein Erzähler verliebt sich in die Projektion einer Frau – Faustine, eine Art Hologramm, also eigentlich, um genau zu sein: die Aufzeichnung eines Moments, dessen Faustine Teil war, oder ist, das führt jetzt zu weit, jedenfalls die Aufzeichnung einiger perfekter Tage, die der Erfinder Dr. Morel mit Faustine verlebt hat – auf einer Insel natürlich [kurzes Kunstlachen], und diese Aufzeichnung wird nun immer wieder abgespielt. Der Erzähler verliebt sich also in ein Objekt, dessen Daseinsform und Zeitlichkeit, oder vielleicht kann man auch sagen: dessen ontologischer Status oder so, nicht mit der des Liebenden kompatibel ist. Um mit dem Objekt seines Begehrens vereint zu sein, muss er seine Daseinsform und seine Zeitlichkeit aufgeben, selbst zur Projektion werden, und dazu ein neues Werk schaffen – aus dem Werk des Dr. Morel – und sich wiederum in diesem neuen Werk auflösen. Hier wieder eine Parallele zu K. und ihrer Arbeit mit Ocampos Geschichte, die sie ja genauso aufgreift und ergänzt, wie der Erzähler Morels Werk aufgreift und ergänzt. Casares in Morels Erfindung, Ocampo in El Automóvil, K. in ihrer Version von El Automóvil – alle schreiben sich unsterblich genauso wie Morel sich und Faustine unsterblich gemacht hat durch seine Erfindung. Unsterbliche Zeichen, die sich ständig wiederholen, zumindest potenziell, genau wie die Geschichten in fixierter Form als Zeichen in einem Buch oder in einer Radiowelle immer die gleichen bleiben, unsterblich, sich potenziell ständig wiederholen. Nur wie man sie liest, … das ist die Frage, die offen bleibt.

Also kann man Ocampo vielleicht doch feministisch lesen, als Antwort auf Casares, bei dem ja dann sowohl Morel als auch der Erzähler über die Frau verfügen, wie über ein Objekt.

[Rascheln, Klingeln, Klackern verschiedener gegeneinander gewühlter Gegenstände in einer tiefen, tiefen, vermutlich ledernen Handtasche] Hm, ja, stimmt, irgendwann schreibt Casares auch … die Frauen, die man liebe, seien ja immer nur Gespenster oder so ähnlich. Aber ich weiß nicht, Ocampo war sich sicher bewusst, dass man die Geschichte auch einfach hätte umdrehen können, theoretisch, Casares‘ Geschichte mein ich. Erfüllte Liebe oder wahre Liebe ist [betont] immer Liebe zur Projektion. Bei K. heißt es ja anderswo, also in einer anderen Geschichte, so sinngemäß: Liebe ist, was man im Schweiß auf der Stirn des anderen zu sehen meint – das wahre Leben, das immer vor einem liegt. Und bei Casares und auch bei K. ist diese wahre Liebe nur als naive Wiederholung des immergleichen zu haben. [„Heaven, Heaven is a place, a place where nothing, nothing ever happens“ aus dem Autoradio eines langsam vorbeifahrenden, roten oder gelben Cabriolets] Also existiert nur als Ideal eigentlich. Genau wie das Paradies. Das Paradies, sagt Casares, ist, wo die Zukunft immer im Besitz der gleichen Attribute bleibt. Oder, wie K. es ausdrückt: Nur konservierte Liebe ist wahre Liebe. Nur das Zeichen ist wahr und ganz. Nur Tote lieben wahrhaftig.

Hmm.

Naja. [Rascheln, Klingeln, Klackern verschiedener gegeneinander gewühlter Gegenstände in einer tiefen, tiefen, vermutlich ledernen Handtasche] Aber worauf ich hinauswollte: worauf wollte ich hinaus?

Du. Keine Ahnung.

Hm egal. [Mehrfaches Knipsen eines Feuerzeuges] Maan. Maaaan.

Wie heißt die Geschichte nochmal?

Von K.? Aaaah.

Ja.

Oi, irgendwas mit … [Paffen] Also Ocampos Geschichte heißt Das Automobil. Und K.‘s Geschichte glaub ich Das Radio. Oder Das Autoradio. Wenn Ocampos Geschichte Das Automobil heißt, weil sich eine Frau in ein Auto verwandelt, heißt K.‘s Geschichte Das Radio, weil sich ein Mann ins Radio verwandelt, naja oder eben die Radiowelle oder die Radiostimme, je nachdem.

In was verwandelt er sich denn? Radiowellen oder Radio oder Radiostimme? Ist ja nicht dasselbe alles. Darf ich auch einen? [Paffen]

Na, das weiß man nicht so genau. Glaub ich. Erzählt wird ja aus der Sicht dieses Kindes, das den Mann beobachtet, wie gesagt. Bei Ocampo sind‘s auch ständig Kinder übrigens, die erzählen und Grausamkeiten beobachten und Gewalttaten begehen und üblen Fantasien folgen. Na egal. Also das Gruselige ist ja, dass das vermeintlich naive, unschuldige Kind sich das, was es sieht, als einen Racheakt des Mannes erklärt, dabei könnte es sich seine Beobachtungen auch ganz anders erklären. Ja selbst wenn es an der Idee festhält, dass der Mann sich in Radiowellen aufgelöst hat, könnte man sich das ja auch als einen Akt der Liebe denken, der Aufopferung, der Hingabe an die Idee der Liebe oder so. Also man könnte auch eine ganz andere Geschichte, eine Liebesgeschichte erzählen, wie bei Casares. [Paffen]

Und der Racheakt besteht darin, dass sich ein Mann in ein Radio verwandelt, oder Radiowellen oder was?

Ja quasi. Hier folgt K. wieder Casares, der seinen Morel erklären lässt, das Radio sei der erste Schritt gewesen in der Aufhebung von Abwesenheit. Um den Horror dieser Idee der Aufhebung von Abwesenheit [„Now she’s in me, always with me“ aus dem Autoradio eines langsam vorbeifahrenden Wagens mit herunter gelassenen Fensterscheiben] darum geht es K. Also auch. Also … [Paffen] Das Kind beobachtet über längere Zeit, wie dieser Mann völlig besessen – also besessen aussehend – permanent vor seinem selbstgebauten Kurzwellensendegerät sitzt und da rein spricht. Dass seine Frau sich sechs Jahre vorher in ein Automobil verwandelt haben soll und seitdem fahrerlos durch die Stadt spukt – das hat das Kind irgendwo aufgeschnappt wahrscheinlich. Und das – der aufgeschnappte Teil der Erzählung logischerweise, ist das, was K. von Ocampo übernommen hat, also K. setzt an, wo Ocampo in Das Automobil aufhört.

Als das Kind dann in K.’s Geschichte den Mann beobachtet, der völlig besessen tagelang, nächtelang irgendwas auf Kurzwelle sendet, wobei das Kind eigentlich gar nicht genau weiß, was der Mann da macht, es sieht ihn nur immer wieder, wie er so mit wildester Mimik und Gestik ununterbrochen ins Mikro spricht – brüllt sogar, dem Aussehen nach, die Hände in der Luft, eine pochende Ader vielleicht noch auf der Stirn, da erklärt sich das Kind diese Beobachtung so: Der Mann ist wütend, dass seine Frau als Auto abgehauen ist und ihm ja damit sich selbst, also sein Auto gestohlen hat. Deshalb beschließt er, sich zu rächen, sie zu verfolgen, sie zu [mit gedachten Anführungszeichen gesprochen] haunten, über das einzige Medium, dem das Auto nicht entkommen kann, dem Radio. Tag und Nacht wie ein höllischer Tinnitus schreit oder [betont] ist er also die übelsten Beschimpfungen aus den Boxen ihrer Musikanlage, die ja sowas sind wie ihr Gewissen – brüllt seinen Zorn hinaus, seinen Hass, sodass es die ganze Stadt hören kann, oder säuselt leise und bedrohlich wie der Teufel persönlich, der ja sowas wie ein unbarmherziges Über-Ich ist, dem man es nie Recht machen kann, zischt seine Anschuldigungen, dass ihre Karosserie zu vibrieren beginnt, als würden sie aus ihr selbst herauskommen, aus ihrem Motor, der ja sowas ist wie ihre Motivation, also die Anschuldigungen kommen aus ihr selbst heraus, mein ich.

Hm. Ok. Aber warum denkt das Kind, dass der Typ selbst zur Radiostimme wird oder geworden ist? [Klackern fast gänzlich aufgelöster Eiswürfel in einem fast gänzlich leeren Glas, zu den Lippen geführt und leicht geneigt]

Mmm. [Zischen der erlöschenden Glut einer Zigarette, ausgedrückt in einer kleinen kühlen Wasserpfütze in einem gläsernen Aschenbecher] Weil er eines Tages weg ist. Nur noch das Radio ist da, und sein Kurzwellensendegerät. Vielleicht ist ein Fenster geöffnet, und das Kind hört das Radio laufen und eine Stimme im Radio, die teuflisch lacht und sagt: Zwölf Kilometer Stau in jede Richtung. Dreh dein Radio lauter, Schätzchen. Aus der Sache kommst du nicht wieder raus.

[Kurzes Lachen] Aber wieso vielleicht? Also hört das Kind die Radiostimme oder nicht?

Keine Ahnung, ich glaub, es sieht nur das Radio und dass der Mann weg ist und denkt sich: das ist jetzt seine Rache, jetzt kann sie ihm wirklich nicht mehr entkommen, nirgends, niemals.

Ah ok. Aber. Warte, also hast du sie auch nicht gelesen? Die Story von K. mein ich.  

Hm? [Schaben der Stuhlbeine eines weißen Plastik-Stuhls über Kopfsteinpflaster]

Also weißt du, ob das Kind das Radio hört oder nicht?

Nee, mir hat nur jemand davon erzählt. Aber ist doch auch eigentlich egal, oder? [Hupen]