Eine Radio-Novelle Ferien für immer

Nach einem Gemälde von Edward Hopper gestaltetes Hotelzimmer
Nach einem Gemälde von Edward Hopper gestaltetes Hotelzimmer | Foto: Travis Fullerton, © Virginia Museum of Fine Arts

Diese Radio-Prosa-Story von Sascha Ehlert spielt in einem Hotelzimmer, Ella Fitzgerald singt im Radio, alles ist ruhig und friedlich – bis auf einmal etwas Unerhörtes passiert.

Draußen war die Stadt in all ihrer Permanenz. Drinnen war Florin allein mit seinen Gedanken und seinen zwei Telefonen. Er war ein paar Stunden zuvor angekommen in diesem Hotel, das ihn gleichermaßen anzog und anekelte. Nachdem er, wie er es immer tat, ganz gleich wohin er reiste, am Mittag zunächst nur seinen Rucksack im Foyer abgegeben hatte und dabei in Gedanken bereits innerlich unruhig umherlief, auf der Suche nach dem Gefühl des Gehens wie einer, der sich überall zuhause fühlt, war er gerade eben erst „wirklich“ angekommen. Florin hatte, nachdem nun sein Hunger gestillt war, seine Keycard gezückt und hatte die Tür zu Zimmer 305 geöffnet. Drinnen hatte es nach Rhododendren gerochen, der Duft Teil des Design-Konzepts des Hotels.

Ein Radio spielte Musik. Just in diesem Moment lief ein Jazz-Song, den Florins Unterbewusstsein flink als „It don’t mean a thing (if it ain’t got that swing)“ von Duke Ellington, gesungen von Ella Fitzgerald, identifizieren konnte. Und damit war auch klar, wie das Hotelzimmer eingerichtet sein würde: mehrere gedimmte indirekte Lichtquellen, neue Möbel, die die Ästhetik und Aura des alten Europas zu beschwören versuchten, ein dunkelbrauner Schreibtisch mit einem kleinen Schemel davor, eine Minibar in einem Kühlschrank von Smeg, schwere dunkle, zugezogene Vorhänge – und Bettwäsche aus rauem Leinen.

Florins Rucksack stand, als stünde er hier bereits seit Tagen oder Wochen, im offenen Kleiderschrank. Sein Besitzer dachte kurz daran, das kleine, aber mit einer braunen Emperador-Marmor-Optik veredelte Duschbad auszuprobieren und dabei zu masturbieren, entschied sich dann aber dafür, sich Lederstiefel und Jeans auszuziehen und sich ins Bett fallen zu lassen. Das hatte logischerweise Kingsize-Größe und nahm bestimmt zwei Drittel des Raumes ein. Florin liebte dieses Gefühl des Liegens. Besonders in Hotelzimmern mit zugezogenen Vorhängen und guter Schallisolation.

Während er da so lag, an die Decke starrte und sogar sein Telefon ignorierte, das ab und an durch ein Aufleuchten auf sich aufmerksam machte, fadete einfach alles immer mehr ins Dunkel. Zunächst das Radio, in dem weiter irgendwelche geschmackvoll ausgewählte Musik aus der Vergangenheit lief, und dann immer mehr auch Florins Gehirnströme. Er hatte sich wahnsinnig dekadent gefühlt, als er dies einmal gedacht hatte (natürlich ohne es auszusprechen, dafür war Florin way too modest), aber vielleicht stimmte es: „Andere meditieren, ich schlafe in Hotels.“ Jedenfalls spürte unser Protagonist, wie er immer mehr ein Teil der Bettwäsche wurde, ins Kissen einsank. Seine Augen waren zwar weit geöffnet, aber einen ausgedehnten Augenblick lang hatte sich sein Selbst-Bewusst-Sein verabschiedet. Bis etwas Unerhörtes geschah.

Auf einmal nahm Florin das Radio, das er zuvor so galant in den Background gerückt hatte, wieder wahr. Das Raum-Zeit-Gefüge hatte sich wieder zusammengesetzt und die Realität befand sich im Begriff, in Florins Hotelzimmer einzubrechen. „Es war Mord“, sagte die Stimme, ganz und gar unmusikalisch in einer Sprache, die nicht die seine war und die Florin dennoch verstand. Er spürte nun seine Beine wieder. Dann sprach es im Radio, ein Polizist habe in einem Einkaufszentrum einen Jungen erschossen, der kurz zuvor in einem McDonald’s einen der Touchscreens zum Bezahlen der Pommes und der Burger umgetreten habe. Binnen weniger Augenblicke sei nun die Lage eskaliert.

Zunächst seien die weiteren Gäste des Lokals wie eingefroren gewesen, erzählte gerade eine Augenzeugin – live on air. Alle schauten den Polizisten und seine Kollegin an, die ihrerseits stillzustehen schienen – Ihre Waffen waren noch auf den Jungen gerichtet, der am Boden seine letzten Atemzüge tat. Dann, bevor sich die beiden Uniformierten bewegen konnten, war der Store Manager der Filiale gekommen, um die Glastüre, die den McDonald’s vom Rest des Einkaufszentrums abknapste, zu versperren. Nun bewegten sich auch die Umstehenden – und bildeten einen Kreis um den Ort des Verbrechens. Als die beiden „Hauptmänner“ dessen gewahr wurden, was gerade um sie passierte, blieb ihnen nur noch eines: der Griff zum Funkgerät. „Verstärkung. Jetzt. Alles, was ihr kriegen könnt.“

In Zwischenzeit waren bereits diverse Tiktok-Videos und Instagram-Stories hochgeladen worden – mit den immer selben Kernaussagen: Bullen sind Mörder*innen. Und: Kommt zum McDonald’s im Einkaufszentrum. Florin griff zum Telefon, entsperrte es und sah in seinem Feed aktuell Leute in Berlin, die Crémant tranken oder Urlaub an einem Ort machten, wo sie nur ein paar Seemeilen entfernt waren von den Geflüchteten auf ihren Booten und den Grenzbeamten, die Jagd auf sie machten. Schnell legte Florin das Ding wieder weg.

Er dachte, es sei nur eine Minute vergangen, tatsächlich aber waren nun schon die Wasserwerfer der Polizei am Ort des Geschehens angelangt. Aber eben auch: immer mehr Zivilbevölkerung. Die Gendarmerie unternahm zunächst den Versuch, das gesamte Gelände zu räumen und sämtliche Eingänge zu versperren, um die Geiselnahme im Inneren der McDonalds-Filiale in den Griff zu bekommen. Jedoch strömten mehr und mehr Menschen aus den umliegenden Siedlungen Richtung Tatort. Die Lage war längst außer Kontrolle geraten, erkannte auch die Stimme im Radio. Und so ging es weiter, bis in die späten Abendstunden.

Florin war ans Bett gefesselt. Manchmal fragte er sich, ob es nicht einfach Sensationsgeilheit sei, die ihn dazu brachte, seine eigentlichen Pläne für den Abend – ein Gang zur Hotel-Sauna, ein Spaziergang in der Nacht, schmale handgeschnittene Fritten vom Room Service und ein Gin aus der Minibar – verpuffen zu lassen, aber dann sagte er sich: „Vielleicht ist es wichtig, dass ich mich dem genau jetzt aussetze, in dieser maximal priviligierten Lebensrealität.“ Also blieb Florin liegen – und bekam deshalb mit, wie der Radiosender verkündete, diese Nacht werde aus Solidarität mit den Protesten gegen Polizeigewalt, die längst überall im Land ausgebrochen waren, keine Musik gespielt. Stattdessen: Live-Berichterstattung so lange, „wie nötig“.
 
Am Einkaufszentrum war inzwischen ein Wasserwerfer in die Hände der Protestierenden gelangt. „Die Polizei ist nicht mehr Herr der Lage“, sagte die Stimme im Radio. Und dann berichtete sie, während sich Florins Herzfrequenz langsam immer weiter erhöhte, wie sich immer mehr Menschen, teilweise seien auch Kinder und Menschen im Rentenalter dabei, um diesen Wasserwerfer versammelten und sich in Bewegung setzten, offenbar mit dem Ziel, die Proteste in die Innenstadt zu verlagern.

Aus der McDonald’s-Filiale hörte man währenddessen, fand Florin, auffällig wenig. Eigentlich sogar: gar nichts. Während er versuchte, das Gehörte einzuordnen, ereilten den jungen Mann, der sich noch nie in seinem Leben geprügelt und sich selbst immer als Pazifist empfunden hatte, Wellen der Lust auf Gewalt. Florin sah vor seinem inneren Auge, wie ein Polizist am Boden liegend von einer wütenden Menge getreten und geschlagen wurde. Und dann: ein Schuss. Als die Polizei entschied, die McDonald’s-Filiale mithilfe des Einsatzes von Gasgranaten, Plastikgeschossen und mehr zu stürmen, war es zu spät. Die Stimme im Radio verstummte für mindestens eine Minute. Florin hielt den Atem an, während er seinerseits im Hotelzimmer nichts als nasale Atemzüge hörte – die des Radios.

Als die Stimme ihre Sprache wiedergefunden hatte, sagte sie: „Die Präsidentin hat in diesem Moment den Ausnahmezustand erklärt. Niemand darf raus.“ Dann machte sie eine Pause und Florin hörte erneut in die Stille hinein und empfand diese plötzlich als schrecklich der Realität entrückt. Bekamen die Menschen in den anderen Zimmern denn nichts von alledem mit? Interessierte sie es einfach nicht? Plötzlich empfand er diesen Ort, von dem er sich Frieden und Ruhe erhofft hatte, als einen Sarg, der sich über ihm geschlossen hatte. Er bekam nun schlecht Luft. Er fasste sich an die Brust und spürte einen ihm bereits bekannten Schmerz. Die Stimme im Radio sagte: „Angeblich sind gerade noch Millionen von Menschen auf der Straße. Gerüchten zufolge wird in den nächsten Stunden die Armee in Bereitschaft gesetzt werden. Die Polizeikräfte haben die Kontrolle über die Straßen verloren.“ Nun richtete Florin sich langsam, wie in Zeitlupe, auf.

Einen Moment lang sitzt er im Bett. Dann bewegen sich seine Beine Richtung Bettkante. Er atmet ein, so tief er kann, setzt dann die Füße auf den Boden und bewegt sich in Richtung der schweren Vorhänge. Er greift nach ihnen und zieht sie gleichzeitig nach links und rechts. Vor ihm liegt nun ein Fenster zur Straße. Florin sucht nach einem Griff, mit dem es sich öffnen ließe, aber findet keinen. Jetzt fokussiert sein Blick nicht mehr das Fenster, sondern das, was dahinter liegt. Da sind Menschen auf der Straße. Viele. Sie scheinen etwas zu rufen. Manche von ihnen rennen fast, wohin, das sieht Florin nicht. Während er einen Moment lang dort so steht und schaut, beruhigt sich sein Atem nach und nach, ohne dass er es merkt.

Wir wollen jetzt raus aus dem Hotelzimmer, wir wollen mehr sehen, mehr spüren. Hier drinnen haben wir genug gesehen. Ein letztes Mal schauen wir Florin von hinten auf seinen wenig bemerkenswerten Rücken. Er stützt die Hände auf dem Fenstersims ab und wir fragen uns, was er wohl gerade denken möge. Jetzt bewegt sich sein Kopf, und dann sein Oberkörper. Sein Blick wandert in unsere Richtung. Schaut er uns an? Oder schaut er auf seine Schuhe? Ist es nur Projektion, oder sehen wir in seinem Blick, der uns bisher immer an ein scheues Reh erinnert hat, nun eine bisher unbekannte Entschlossenheit? Wir atmen einmal tief ein – und wieder aus. Dann betätigt jemand den Lichtschalter.