Comics und Graphic Novels Kafka im Reich der Comics

Moritz von Wolzogen: Die Aeroplane in Brescia
Moritz von Wolzogen: Die Aeroplane in Brescia | © Moritz von Wolzogen, Verlag Nathalia Laue

Franz Kafka hat selbst gezeichnet, und bestimmt hätten ihm diese Comics und Graphic Novels gefallen, die von ganz unterschiedlichen Comic-Künstler*innen aus verschiedenen Teilen der Welt stammen, und die eines gemeinsam haben: das Thema Kafka.

Wir wissen, dass Franz Kafka selbst gezeichnet hat, und dass er auch gerne ins Kino gegangen ist. Von daher können wir vermuten, dass ihm visuelle Umsetzungen seiner Werke, wie zum Beispiel auch Comics, hätten gefallen können. Ab Januar 2024 wird eine Ausstellung zum Buch Komplett Kafka des österreichischen Comickünstlers Nicolas Mahler durch Goethe-Institute in aller Welt touren (auf Vermittlung des Goethe-Instituts Lyon). Dabei kommt Mahlers minimalistischer Strich dem Zeichenstil Kafkas nahe. Doch Nicolas Mahler ist keineswegs der erste Comicautor, der sich an eine Adaption von Kafkas Werken oder seiner Biografie in Comicform gemacht hat.

David Zane Mairowitz – der vielseitige Szenarist

Der aktivste unter ihnen ist sicher der US-amerikanische Schriftsteller, Journalist und Regisseur David Zane Mairowitz, der die Drehbücher für gleich drei große Kafka-Adaptionen in ganz unterschiedlichen Stilen geschrieben hat.

Da ist zunächst Introducing Kafka (auf Deutsch schlicht Kafka), eine Einführung in Kafkas Leben und Werk. Illustriert wurde es kongenial von Robert Crumb, dem Großmeister der US-amerikanischen Undergroundcomics, der unter anderem für Figuren wie Mr. Natural und Fritz the Cat bekannt ist ebenso wie für zahlreiche autobiografische Comics und die Bibel-Adaption The Book of Genesis. Mairowitz und Crumb legen den Schwerpunkt einerseits auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund von Kafkas Leben (Böhmen als Teil von Österreich-Ungarn, Erster Weltkrieg, stets präsenter Antisemitismus, Entstehung der Tschechoslowakei) und andererseits auf seine Obsessionen und Traumata wie das Leiden unter dem dominierenden Vater, sein Selbsthass und seine Ängste im Umgang mit Frauen. Leben und Werk gehen hier fast fließend ineinander über, bildmächtig von Crumb, der über Kafka sagt, er sei „mein Bruder im Geiste“, in seinem expressiven Stil voller Schraffuren in Szene gesetzt.

Für Das Schloss (englisch The Castle, tschechisch Zámek) arbeitete Mairowitz mit dem tschechischen Zeichner und Sänger Jaromír 99 (Jaromír Švejdík) zusammen, der vor allem für seine Arbeit am Comic und Zeichentrickfilm Alois Nebel zusammen mit dem Schriftsteller Jaroslav Rudiš bekannt ist. Mit Rudiš zusammen ist er auch einer der beiden Sänger der Kafka Band, die im Rahmen des Jubiläumsjahres 2024 zu einer ausgedehnten Europa-Tournee aufbrechen wird. Jaromír 99 arbeitet mit holzschnittartigen starken Schwarz-Grau-Weiß-Kontrasten. Alles wirkt ebenso klar wie bedrückend und rätselhaft.

Dazu kommt dann noch Der Process (englisch The Trial, französisch Le procès) mit der bekannten französischen Comickünstlerin, Malerin und Pressezeichnerin Chantal Montellier. Man kennt sie zum Beispiel für Tchernobyl mon amour oder ihre Autobiografie La Reconstitution. Sie arbeitet in einem realistisch-surrealistischen Stil und gibt dem Protagonisten Josef K. Kafkas eigene Gesichtszüge – was angesichts des biografischen Gehalts seiner Werke immer wieder vorkommt in den Adaptionen.

Eine Vielzahl französischer Adaptionen

Frankreich bietet überhaupt einen Schwerpunkt an Kafka-Bearbeitungen als Graphic Novels, was angesichts seiner reichen Comicszene vielleicht kein Wunder ist.

Auch Céka (Erick Lasnel) und Clod (Claude Voirriot) haben sich Le procès (nicht auf Deutsch übersetzt) vorgenommen. Bei ihnen wirkt angesichts des bunten und freundlichen Zeichenstils alles weniger niederdrückend. Kleine visuelle Gags lockern die Geschichte auf – Joseph K. arbeitet in der Brod Bank, wo es vielfache Beschriftungen mit dem Buchstaben „K“ gibt, er trifft einen Priester mit am Kopf befestigtem Heiligenschein aus Draht und erhält schließlich einen Kranz von Max Brod zur Hinrichtung. Trotzdem kommt die Absurdität des rätselhaften Prozesses, dem K. schließlich zum Opfer fällt, nicht zu kurz, verdeutlicht durch ausufernde Aktenberge, verwirrende Gebäude mit großen Sälen und verwinkelten Treppenhäusern und der Schlussszene, in der Joseph K. seinen abgetrennten Kopf unterm Arm trägt.

Eine andere Atmosphäre breiten Sylvain Ricard und Maël, beide langjährige Profis, in Dans la colonie pénitentiaire (In der Strafkolonie) vor uns aus. Ein Abgeordneter aus dem Mutterland besucht eine in der Wüste liegende Strafkolonie und wird dort als Zeuge zur Vollstreckung einer Hinrichtung aus geringfügigem Anlass gebeten. In diesem aufs Wesentliche konzentrierten Kammerspiel voller eindringlicher Bilder in Ockerfarben wird mit lebhaftem Mienenspiel die Obsession des diensthabenden Offiziers und die Grausamkeit der Bestrafungsmethode gezeigt. Am Ende kommt der Beschuldigte frei und der Offizier stirbt selbst durch die Foltermaschine. Allerdings ist die Gefahr noch nicht gebannt, denn die Anhänger der grausamen Bestrafung lauern auf einen günstigen Moment zur Rückkehr.
Alexandre Kha: Les monstres aux pieds d’argile Alexandre Kha: Les monstres aux pieds d’argile | Courtesy / © Éditions Tanibis Alexandre Kha verarbeitet mehrere Erzählungen deutschsprachiger Klassiker in dem Band Les monstres aux pieds d’argile (nicht auf Deutsch übersetzt, wörtlich: Die Monster auf tönernen Füßen). Darunter sind auch drei nach Texten von Kafka (Ein Bericht für eine Akademie, Die Verwandlung, Ein Hungerkünstler). Arthur, eine von Khas wiederkehrenden Figuren, trifft in einer großen Stadt auf verschiedene von ihren Mitmenschen als „Monster“ angesehene Wesen, die ihm ihre Geschichten erzählen. In zweifarbig schwarz-grünen Bildern voller Charme und schräger Melancholie zeigt der Autor seine Sympathie für diese Außenseiter wider Willen.

Daniel Casanave und Robert Cara setzen in ihrer umfangreichen Graphic Novel L’Amérique Kafkas unvollendeten Roman Amerika in dynamischen Schwarz-Weiß-Bildern voller Schraffuren um. Die verwirrende neue Welt, in der sich der junge Karl Roßmann zurechtfinden muss und nicht jedem trauen kann, wird eindringlich dargestellt in großartigen (Stadt-)Landschaften und mit ausdrucksstarken Figuren.

Auch der umtriebige Szenarist Corbeyran (Éric Corberand), bekannt für so unterschiedliche Werke wie Le Chant des stryges (Fantasythriller) oder Zélie et compagnie (Kindercomic), und der Zeichner Horne (Horne Perreard) beschäftigen sich mit Kafka. In ebenso klaren wie düsteren Bildern in gedeckten Farben schildern sie Gregor Samsas Verwandlung (La Métamorphose) in ein hilfloses Insekt.

Metamorphosen allerorten

La metamorfosis aus der Reihe Manga de dokuha | Bargain Sakuraichi (Toshifumi Sakurai): La métamorphose La metamorfosis aus der Reihe Manga de dokuha | Bargain Sakuraichi (Toshifumi Sakurai): La métamorphose | Courtesy / © Herder Editorial und Akata Editions Überhaupt ist Die Verwandlung der Spitzenreiter unter den adaptierten Werken Kafkas. Auch drei japanische Comicautor*innen haben sich daran versucht.

Da ist zum einen Bargain Sakuraichi (Toshifumi Sakurai), in dessen Manga Gregor Samsas perverser alter Vater die Hauptrolle spielt. Aus seiner Sicht wird die Geschichte geschildert. Der finanziell ruinierte und eher faule Rentner muss wieder arbeiten gehen nach der Verwandlung seines Sohnes, der bisher die Familie ernährt hat. Sakuraichi inszeniert eine schwarze Komödie, deren Protagonisten zumeist durch grotesk verzerrte Gesichter charakterisiert sind. Abstoßender als das Insekt Gregor sind die berechnenden und lieblosen „normalen“ Menschen innerhalb und außerhalb seiner Familie.

In schlichten, auf das Wesentliche reduzierten und leicht karikierenden Bildern schildert Hiroyuki Sugahara die Metamorphose von Gure Gôru („Gregor“ in japanischer Aussprache). Der Humor kommt nicht zu kurz, und das Ganze kann auch als Kritik an der Arbeitswelt mit ihren harten Anforderungen an die Arbeitnehmer*innen gelesen werden.

Bei meinen Recherchen fand ich auch einen anonymen Comic im Stil älterer Mangas à la Astro Boy aus der Reihe Manga de dokuha (まんがで読破 = Mit Mangas lesen) des japanischen Verlags East Press, der Klassiker der Literatur einem breiten Publikum vermitteln will. In die Erzählung der Verwandlung sind hier auch Elemente aus Kafkas Leben und Verweise auf andere seiner Werke verwoben.

Mit Kafka nach Amerika


Der US-amerikanische Comicautor Peter Kuper hat sich ausgiebig mit Kafka beschäftigt und die drei Kurzgeschichten-Bände The Metamorphosis, Give It Up! und Kafkaesque (nicht auf Deutsch erschienen) veröffentlicht. In expressiv-dynamischen Schwarz-Weiß-Kontrasten entwirft er knapp auf den Punkt gebrachte düstere Bildwelten. Kafkas Erzählungen (unter anderem Die Verwandlung, Ein Hungerkünstler und Gib auf!) werden dabei teilweise bildlich übertragen auf das heutige Amerika mit seinen modernen Großstädten statt dem beschaulichen Prag der Jahrhundertwende.

Réal Godbout, ein kanadischer Künstler, der entscheidend zum Erstarken der Comicszene in Québec beigetragen hat, liefert uns L’Amérique ou Le Disparu (nicht auf Deutsch erschienen = Amerika oder der Verschollene). Im Stil der Ligne claire folgen wir der Reise des etwas naiven Karl Roßmann nach New York und ins Innere Amerikas. Seine tragikomischen Abenteuer zeichnen ein ungewöhnliches, aber gleichzeitig seltsam reales Bild Amerikas. Es gibt mehrere visuelle Verweise auf Filme von Charly Chaplin und Orson Welles, und auch Kafka selbst leiht einer Nebenfigur seine Gesichtszüge.

In Kafkas Muttersprache

Moritz Stetters Comic Das Urteil wird im Nachwort ausdrücklich vom Kafka-Experten Reiner Stach als ein gangbarer Weg zur visuellen Deutung des Prager Autors gelobt. Der Künstler, den man für seine Graphic Novels Bonhoeffer und Luther kennt, entwirft ein geradezu expressionistisches Kammerspiel. Er jongliert mit den visuellen Elementen – der Vater des Protagonisten schrumpft einmal auf die Größe eines Babys und wird dann kurz darauf zum Riesen. Der Bart von Gregors Freund in St. Petersburg wuchert fort in eine Art undurchdringlichen Dschungel. Gegen Ende des Buches zerfällt die bisher geradlinige Struktur der Panels wie in verstreute Spiegelscherben – bis zum Sturz Gregors in den Fluss, als sich der Protagonist ebenso wie die Bildstruktur vollends auflösen.
Ebenfalls von Stach offiziell gutgeheißen wurden auch Die Aeroplane in Brescia von Moritz von Wolzogen. Dieser 2022 erschienene Comic widmet sich in lebhaften, farbenfrohen Bildern einem der weniger bekannten Texte Kafkas, einer Reportage über eine Flugschau in Norditalien, an der der junge Autor mit seinen Freunden Max und Otto Brod teilnahm. Wir erleben ihre Reise und die Welt der frühen Luftfahrt im umtriebigen Brescia als unbeschwertes Abenteuer – und sehen somit auch Kafka selbst in einem leichteren, positiveren Licht als sonst üblich.

Martin Freis kafkaesker Sci-Fi-Thriller

Keine Adaption, sondern eine von Kafka inspirierte Geschichte eigener Art bringt der vielseitige Martin Frei, der in so unterschiedlichen Genres wie Krimi (Kommissar Eisele), Western (Die Frau mit dem Silberstern) und Superheldenparodie (Superbabe) unterwegs ist. In Gregor Ka im 21. Jahrhundert haben die „Zehn“, ein Konglomerat mächtiger Konzerne, in Deutschland die Macht übernommen und regieren autoritär. Der unbescholtene Versicherungsangestellte Gregor Ka wird gegen seinen Willen in eine Rebellion gegen die neuen Herrscher verwickelt. Virtuelle Realität, Genmanipulationen und außerirdische Technologie spielen eine Rolle. Gregor Ka ist nicht nur optisch ein Wiedergänger Kafkas, sondern hat auch eine Geliebte namens Felice Bauer und ein Faible für eine Datendiebin namens Dora. Die ihn verfolgenden Schreckensvisionen, sein zögerliches Wesen, die zeitweise „Verwandlung“ in ein Monster und die erdrückende Bürokratie der „Zehn“ machen das Kafkaeske komplett.

Zum Abschluss


Am Rande erwähnt sei noch, dass der bekannte spanische Comicautor Paco Roca (Kopf in den Wolken, Der Winter des Zeichners, La Casa) einen Band mit Erzählungen von Kafka illustriert hat: La metamorfosis y otros cuentos. In teils realistischen, teils fantastischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit vielen Schraffuren erweckt er Kafkas Welt zum Leben.

Als Fazit kann man sagen, dass Kafkas zeitlose Themen aktuell bleiben und weiterhin Comickünstler*innen aus verschiedenen Teilen der Welt faszinieren. Alle seine Hauptwerke sind mindestens einmal, wenn nicht mehrmals als Comic adaptiert worden mit der Verwandlung – als Kafkas vielleicht bekanntestem und frappierendstem Werk – als Spitzenreiter. Die hier besprochenen Umsetzungen als Comics zeigen die ganze Bandbreite des Genres auf und sind ebenso kreativ wie gelungen. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Großer Dank geht an die wunderbaren Verlage und Autoren für die schönen Bilder des Artikels: Filip (Reprodukt), Emma (SelfMadeHero), Claude (Éditions Tanibis), Jean-Philippe (6 pieds sous terre éditions), Cindy (Akata Editions), Alba (Herder Editorial), Peter Kuper, Valérie (La Pasteque), Victor (Astiberri) und Moritz von Wolzogen.