Marius Goldhorn Oklahama, 3666
Von Franz Kafkas Fragment „Das Naturtheater von Oklahama“ vermuten viele, dass es als Abschlusskapitel des unvollendeten Romans „Amerika“ gedacht war. Der Autor Marius Goldhorn knöpft sich den Text vor. Er lässt „Amerika“ im Jahr 3666 weiterspielen und erzählt von einem Arbeitstag des Protagonisten Karl im 37. Jahrhundert, der mit Salbei und einem Roggenbagel beginnt.
Karl öffnete mit feuchtem Gesicht die Jalousien. Als Autor lebte er in einem der obersten Geschosse eines Hochhauses, ein Luxus, den er nie für möglich gehalten hätte. Er hatte nichts, als er nach Oklahama kam. Er sah über die Stadt, zwischen den gläsernen Türmen, in denen alle erwachten, die Schauspieler, Regisseure und Autoren, standen die Bohrtürme von Devon, sie waren immer in Betrieb. Große schwarze, spitze Konstruktionen aus Stahl, wie Obelisken, mit einer Fackel an der Spitze. Das viele Öl, tief in der Erde unter der Stadt, hatte Oklahama reich gemacht, und seine Position als Theaterstadt erst ermöglicht, ein Privileg, das nicht viele Städte hatten. Alle Bewohnerinnen arbeiteten für die Stadt, ganz Oklahama war ein großes Naturschauspiel. Vier Millionen Angestellte in einem Theater, ein altes Theater. Es wurde immerfort vergrößert.
Karls erste Rolle als Siebzehnjähriger war die Rolle eines Mittelschülers gewesen, kurz darauf dann Austauschschüler aus Europa, woher er ja wirklich kam. Aus Europa, dieser durch Bomben zerklüfteten Bergwelt. Später spielte er einen Jurastudenten an der Universität von Oklahama und dann einen Anwalt. Während eines Plädoyers für die Aufnahme von sechzig neuen Schauspielern war einem der fünf Produzenten sein erzählerisches Geschick aufgefallen, und er wurde zu einem Autor in einem Writing-Room ernannt. Er konnte sein Glück kaum fassen und er lebte immer noch vom Glück dieses Moments. Dieser Anfang hallte nach, auch wenn Karl gerne gewusst hätte, wie viel Zeit seitdem vergangen war.
Wie jeden Morgen zog sich Karl seinen grauen Anzug an und fuhr mit dem Aufzug hinunter. Er konnte zu Fuß zur Autorinnen-Zentrale gehen, einem hohen Gebäude aus Granit mit einer goldenen Statue von Häuptling John Ross davor.
Es roch wie jeden Morgen nach Benzin und Feuer auf der Straße. So roch es jeden Tag, das waren die Raffinerien. Menschen zogen vorbei, sie kamen ihm bekannt vor, ohne dass er jemals mit einem gesprochen hätte. Karl zog seine Maske auf. Noch vor tausend Jahren hatten Menschen in Öltürmen und Raffinerien und an Fließbändern gearbeitet, eigentlich gar nicht vorzustellen, dachte Karl, als er einer Lieferdrohne auswich.
Auf dem Polygon Plaza stand auch schon die Bäcker-Schauspielerin an ihrem Stand und verkaufte Karl einen Roggenbagel für 3,6 Millionen Dollar. Sie lächelte ihn an. Er versuchte auch zu lächeln. Er lief über die rote Stahlbrücke über den Skulpturenpark am Chickasaw-Kulturzentrum.
Dort unten machten sich die Schauspieler bereit, die jeden Tag eine Szene nachspielten, eine schreckliche Szene, in der der Leichnam eines erhängten Schwarzen von weißen Amerikanern gleichgültig betrachtet wird. Niemand sollte die Geschichte von Oklahama vergessen. Die vielen Schwarzen und vielen Cherokee, Creek, Seminolen, Choctaws und Chickasaws, die durch Weiße getötet worden waren, bevor das Naturtheater in Oklahama eingezogen war. Dafür sorgten die fünf Produzenten; dass bis in alle Ewigkeit das Morden der Weißen niemals vergessen wird. Karl war besessen von dieser Zeit und manchmal ganz heimlich wünschte er sich vor 2000 Jahren gelebt zu haben, aber nicht als er, sondern als Chickasaw auf einem rennenden Pferd, über dem zitternden Boden, bis er die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis er die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und er sah es vor sich, das Land als glattgemähte Heide, ohne Pferdehals und Pferdekopf. Aber so etwas hätte er natürlich nie geäußert, jemand anderes zu sein galt in Oklahama als Beleidigung. Jeder hatte seine Rolle, und jeder hatte seine Rolle zu erfüllen. Und Karls Rolle als Autor war nun mal zu schreiben, Plotlines für die Theaterstadt.
Es war schon besonders, dachte Karl, dass er als weißer Mann eine solch hohe Position in der Theaterstadt einnehmen konnte. Er war ja sogar in doppelter Minderheit, als Weißer und als Europäer. Er liebte Oklahama, Beruf, Freiheit, Rückhalt, Heimat, all das war wie in einem paradiesischen Zauber zusammengeschaltet, aber irgendetwas verfolgte Karl, ein Schatten. Wirklich als Weißer fühlte er sich nicht, dachte er, aber wie er so auf seine Hände sah, als er die Schildplatt-Dose mit den Zigaretten öffnete, dachte er, ja, es ist wie es ist, die sind weiß. Aber da war diese seltsame Verbundenheit, die er spürte, sehr alt.
Er stand vor der goldenen Statue des Häuptlings John Ross und rauchte. Wie jeden Morgen polierte der Reinigungs-Schauspieler Ben die Statue mit einem Ledertuch, dass auch kein Ruß sich auf das Gold legte.
Karls Augen wurden gescannt, er durfte passieren, nahm den gläsernen Aufzug in die zwölfte Etage, zum Writers-Room. Die anderen Autoren Kyla, Thebe und Daniela warteten wie jeden Tag schon auf ihn, und Karl kam mit einem Teller, auf den er den Roggenbagel gelegt hatte, in den Raum. Er setzte sich an den runden Tisch.
„Was schreiben wir heute?“, fragte Thebe wie jeden Tag.
„Ja, was sollen wir heute schreiben“, fragte Daniela. Karl dachte an seinen Tod.
„Ich habe überlegt“, sagte Karl leise: „Wir sollten mal jemanden sterben lassen, natürlich nur im Skript, also nur auf der Theaterbühne. Wäre das nicht vielleicht mal etwas anderes, oder?“
Thebe räusperte sich verlegen.
„Aber Karl, wir sind doch alle schon tot.“
Die drei sahen Karl fragend an. Karl überlegte einen Moment. Seine Stirn war heiß. Er breitete die Nasenlöcher und unterdrückte den Hustenreiz. So wirklich wusste er nicht, was er darauf antworten sollte.
„Nein, Karl, wir sollten etwas ganz Alltägliches machen, wie immer“, sagte Daniela.
„Wann hatten wir denn das letzte Mal einen weißen Protagonisten, Kyla?“, fragte Thebe.
„Ich weiß nicht, Thebe, ich muss im Verlauf nachsehen“, sagte Kyla.
Kyla legte die Arme auf den Tisch und fiel in den Archiv-Schlaf. Es sah aus, als ob er ohnmächtig sei. Alle schwiegen, und Karl trank von seinem Tee. Was war nur aus ihm geworden, dachte Karl, dass andere für ihn arbeiteten.
Nach ein paar Sekunden kam Kyla wieder zu sich: „Schon lange nicht mehr.“
„Ein Protagonist genau wie du Karl. Fällt dir da nicht etwas ein?“, sagte Thebe.
„Können wir denn nicht vielleicht einen Weißen sterben lassen?“, fragte Karl und flüsterte: „Bitte.“
„Fangen wir morgens an, wie immer“, sagte Kyla genervt.
„In Ordnung, in Ordnung.“ Karl sah auf die Uhr. Es waren noch einige Stunden, bis die Teufel über der Stadt schwebten und die Bewohnerinnen in den Schlaf gesungen wurden. Er wollte auf gar keinen Fall Überstunden machen und einen Schlaf-Pod hier im Büro benutzen. Er hasste diese Sharing-Pods, nur die Vorstellung, dass jemand anderes darin im Schlaf gesprochen hatte, machte ihn wahnsinnig. Und er hätte morgens keinen Salbei.
„Also“, sagte Karl und räusperte sich.
„Ich schreib mit“, sagte Thebe und klappte ein Display auf. Karl nahm kurz Luft, so, dass er nicht husten musste:
„Ich wachte in meinem Schlaf-Pod auf und aß mein Insektenfrühstück.“