Unerschütterliche Logik Taubenflügel

Taubenflügel
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„Romane sind wie Taubenflügel, die es uns erlauben, der Logik unseres eigenen Schicksals zu entkommen. Die Kunst besteht lediglich darin, den richtigen Roman zu finden – und zwar nicht erst, wenn es zu spät ist, sondern schon lange vorher.“ Das schreibt der polnische Autor und Philosoph Grzegorz Jankowicz und bezieht sich dabei auf die Werke von Franz Kafka. Kafkas Protagonisten stecken in verzwickten Lebenssituationen, gefangen vom Drang, das Leben richtig zu leben. Kommt euch das bekannt vor? Und was haben Taubenflügel damit zu tun? Grzegorz Jankowicz geht der Sache auf den Grund. 

Unmittelbar nach Franz Kafkas Begräbnis, das am 11. Juni 1924 auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag stattfand, baten die Eltern des Schriftstellers dessen Freund Max Brod, die Wohnung ihres Sohnes nach wertvollen Manuskripten und literarischen Dokumenten zu durchsuchen. Der Impuls dazu scheint von Brod selbst ausgegangen zu sein, doch ohne eine offizielle Genehmigung wäre der Nachlass des Schriftstellers wohl – zumindest für einige Zeit – unzugänglich geblieben.

Zwischen zahlreichen ungeordneten Notizen und einer stattlichen Sammlung von Manuskripten fand Max Brod auch zwei undatierte, an ihn gerichtete Testamente. In dem ersten, mit Tinte und Feder verfassten Dokument, bat ihn der Schriftsteller, sämtliche Texte, die sich in seiner Wohnung befanden, zu verbrennen. Das zweite, mit Bleistift geschriebene Dokument enthielt eine kurze Liste mit Werken, die Kafka selbst für „geltend“ erachtete: Das Urteil, Der Heizer, Die Verwandlung, Die Strafkolonie, Der Landarzt und Ein Hungerkünstler.

Die Geschichte von Kafkas Nachlass ist bekannt, doch vielleicht ist nicht allen bisher aufgefallen, dass die ersten drei der oben aufgelisteten Texte in dem kurzen Zeitraum zwischen Ende September und Anfang Dezember 1912 entstanden waren – offensichtlich einer ganzen besonderen Phase im Leben des Schriftstellers.

Ein Moment der Freiheit

Der Prager Schriftsteller erinnert dabei an den sprichwörtlichen Tausendfüßler, der, bevor er sich zum Tanzen anschickt, erst seine sämtlichen Beinchen sortieren muss. Sein Leben bestand zum großen Teil aus Zweifeln, deren Überwindung ihn viel Zeit kostete und die seine geistige und körperliche Gesundheit angriffen. Es gab nur wenige Momente in Kafkas Leben, in denen er sich vollkommen frei fühlte und in denen er davon überzeugt war, dass das, was er tat und wie er es tat, richtig war.

In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 gelang es ihm, sich in einen Zustand künstlerischer Erregung zu versetzen, als er in wenigen Stunden die Erzählung Das Urteil zu Papier brachte. Wenig später notierte er in sein Tagebuch, dass er nur auf diese Weise wirklich schreiben konnte. Was meinte er damit? Wohl in erster Linie eine Freiheit der Vorstellungskraft, die ihm immer weitere, sich aus sich selbst entwickelnde Konzepte vorgab. Der Text stieg wie von selbst in ihm empor und entwickelte sich gemäß einer eigenen Logik. Fast schien es, als schreibe nicht der Autor den Text, sondern als leite der Text den Autor von sich aus in die richtige Richtung. Korrekturen waren überflüssig, denn jeder Satz erschien augenblicklich in seiner endgültigen Gestalt: Es galt lediglich, sie aus den dunklen Kammern seines Bewusstseins zu befreien.

Alles, was in Kafka für gewöhnlich Gereiztheit hervorrief, was ihn ablenkte und an seiner Kraft zehrte, erreichte ihn dieses Mal nicht. Die Welt sendete zwar weiterhin Impulse (vor allem in der Nacht, in der selbst das leiseste Rascheln dem Ohr des Schreibenden wie ein Bombeneinschlag erscheint), doch all diese Impulse stießen gegen eine unsichtbare Wand, die den in seiner Arbeit versunkenen Schriftsteller umhüllte. Kafka erlebte in seinem Leben ähnlich intensive und sogar noch intensivere Phasen künstlerischer Schaffenskraft, doch als er in den letzten Wochen seiner Krankheit auf sein Werk zurückblickte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er lediglich in jenem kurzem Zeitraum zwischen September und Dezember 1912 das erreicht hatte, wovon er als Schriftsteller immer geträumt hatte und wessen er als fühlendes Wesen am dringendsten bedurfte.

Die sechs Texte, die Kafka in seinem an Brod gerichteten Testament erwähnte, sind allesamt kleine literarische Meisterwerke, doch in seinem Nachlass befanden sich zahlreiche bessere Texte. Weshalb überging sie der Schriftsteller? Es scheint mir, dass es Kafka bei der Auswahl der genannten Werke nicht so sehr um die literarische Qualität ging, sondern um eine im Wesentlichen unbestimmte Empfindung, die mit dem künstlerischen Schaffensprozess in Zusammenhang steht. Die sechs genannten Erzählungen sollten der Nachwelt erhalten bleiben, weil sie aus einem alchemistischen Prozess hervorgegangen waren, in dem sich die Substanz der Vorstellungskraft in das Bewusstsein ergoss und sich in – in jeder Hinsicht vollkommene – Sätze verwandelte. Zumindest nach Ansicht ihres Autors.

Gelenkt von zwei gegensätzlichen Uhren

Auch die Erfahrung der Zeit spielte eine wichtige Rolle. Kafka hatte ständig das Gefühl, um jeden Moment des Schreibens kämpfen zu müssen. Er plante akribisch seinen Tagesablauf, um sich jener Momente zu bemächtigen und sie vor den Verlockungen des Alltags zu bewahren. Die Arbeit, das Haus, die Familie, zufällige Ereignisse, deren Übermaß seine Nerven zerrüttete – wie sollte er unter dem Bombardement all dessen noch Worte aneinanderfügen? In welchem Rhythmus sollten sich diese Worte entwickeln, wo er doch ständig auf die Uhr schauen musste? Die Zeit verging entweder zu schnell oder zu langsam. In der Regel endete all das bei Kafka in einem Schuldgefühl, einem Gefühl vergeudeter Zeit, das den Rest seiner Lebensenergie auffraß.

Doch in jener Nacht (und noch einige Male während der folgenden Wochen und Monate) verhielt sich die Zeit ein wenig anders. Die Vorstellung von ihrer chronologischen Struktur trat hinter dem Eindruck zurück, dass alles in einem etwas langsameren, gemächlicheren Tempo ablief. In diesen Momenten musste Kafka nichts und niemandem hinterherjagen. Zehn Jahre später, am 16. Januar 1922, schrieb der Schriftsteller in seinem Tagebuch von der Unmöglichkeit, ein Leben zu ertragen, in dem die Uhren nicht übereinstimmten, in dem die innere Uhr in einer dämonischen oder jedenfalls unmenschlichen Art dahinjage, während die äußere stockend ihren gewöhnlichen Gang gehe.

Die Trennung dieser beiden Welten zerriss den Schriftsteller auch innerlich und verdammte ihn zu einem schrecklichen Schicksal. Die Wildheit des inneren Ganges resultierte vor allem aus einer intensiven Selbstbeobachtung, die die Vorstellung nicht zur Ruhe kommen ließ – und jede weitere Selbstbeobachtung belastete ihn zusätzlich. Das Leben erschien dem Schriftsteller als eine endlose Folge von Qualen, die in erster Linie aus dem Gefühl resultierten, man müsse, um zu überleben, irgendwelchen Herausforderungen begegnen, sofort etwas tun, irgendjemandem dringend etwas erklären, sich vor irgendjemandem rechtfertigen, äußeren Erwartungen gerecht werden, dem Druck standhalten.

Es war keineswegs so, dass Kafka diese schreckliche Metamorphose im Januar 1922 durchlaufen hätte. Sein Leben hatte nie anders ausgesehen. Mit Ausnahme jener kaum drei Monate, in denen er Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung geschrieben hatte. In diesem kurzen Zeitraum liefen die beiden Uhren im Einklang.

Der Konflikt zwischen der inneren und äußeren Zeit bestimmt auch das Schicksal vieler Kafkascher Helden – mit Sicherheit auch jener seiner drei Romane. Karl Roßmann, Josef K. und K. leiden allesamt unter den Konsequenzen von Handlungen, die unter dem Einfluss jener inneren Spannung begangen wurden. Doch jeder der Protagonisten erhält von Kafka zumindest eine Chance, seine existenziellen Parameter zu verändern. Wie aus dem Nichts heraus eröffnet sich ihnen plötzlich eine Gelegenheit, die es ihnen ermöglichte – wären sie nur imstande, sie zu erkennen und zu nutzen –, ihrer scheinbar hoffnungslosen Lage zu entkommen. Ich führe an dieser Stelle ein Beispiel für eine solche Gelegenheit an – nur eines, aber dafür aus einem Werk, das Kafka selbst für „geltend“ erachtete.

Der Heizer

Der Heizer ist das erste Kapitel des Romans Der Verschollene (der von Max Brod postum unter dem Titel Amerika veröffentlicht wurde). Kafka hatte nur wenige Tage nach Vollendung der Erzählung Das Urteil mit der Arbeit an dem Roman begonnen. Etwa ein halbes Jahr später – in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1913 – schrieb er in einem Brief an Felice Bauer, dass lediglich das erste Kapitel des Romans einen gewissen Wert habe, weil es aus einer „inneren Wahrheit“ heraus entstanden sei.

Man muss den Kontext dieser Aussage rekonstruieren. Kafka beginnt den Brief mit dem Geständnis, er führe ein unvernünftiges und schlaffes Leben. Die Zeit rinnt ihm durch die Finger, und auch wenn auf den ersten Blick keine größeren Risse in seiner Existenz sichtbar sind, spürt er doch ständig „irgendeine Faust (…) im Nacken“. Weiter schreibt Kafka, er habe am Abend zuvor eine schreckliche Entdeckung gemacht, die ihn jedoch merkwürdigerweise fast erleichtert habe.

Durch irgendeinen Zufall seien die Hefte, in denen er zwischen Ende September 1912 und Januar 1913 die einzelnen Kapitel seines Romans Der Verschollene niedergeschrieben und die er seit zwei Monaten nicht mehr in die Hand genommen hatte, plötzlich „in die Höhe gekommen“, also habe er begonnen, sie zu lesen und sei zu dem Schluss gekommen, dass lediglich das erste Kapitel als gelungen gelten könne und die übrigen 550 großen Heftseiten lediglich „in Erinnerung an ein großes aber durchaus abwesendes Gefühl hingeschrieben“ und daher zu verwerfen seien.

Der Protagonist der Erzählung Der Heizer (und des gesamten Romans Der Verschollene), der sechzehnjährige Karl Roßmann, fährt zu Beginn der Erzählung an Bord eines Transatlantik-Schiffes in den Hafen von New York ein. Wir erfahren, dass er von seinen Eltern aus dem Haus geworfen wurde, nachdem ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen habe. „Zur Vermeidung der Alimentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbst heranreichenden Skandals“ hätten seine Eltern ihn die USA geschickt.

Als unfreiwilliger Einwanderer, voller Energie und Unbeherrschtheit, aber auch naiv und leicht beeinflussbar, nähert sich Karl seiner neuen Welt. Hinter ihm liegt eine kurze europäische Vergangenheit, die kaum für eine ganze Geschichte taugt, auch wenn sie eine erzwungene Ablehnung der Vaterschaft beinhaltet (der emotionale Aspekt dieses Erlebnisses scheint dem Protagonisten völlig zu entgehen). Vor ihm liegt eine Zukunft, vor der er verständlicherweise ein wenig Angst hat, insbesondere da die Freiheitsstatue, die bereits im ersten Absatz der Erzählung erwähnt wird, keine Fackel als Symbol der Erleuchtung in der Hand trägt, sondern ein Unheil verkündendes Schwert.

Der Erzähler gibt uns zu verstehen, dass Karl gar nicht daran denkt, das Schiff zu verlassen (es bleibt ungewiss, ob aus Angst oder einem Mangel an Eile). Erst die Begegnung mit einem anderen Passagier, den er während der Fahrt flüchtig kennengelernt hat, bringt ihn zum Handeln. Der junge Mann fragt ihn, ob er denn noch keine Lust habe, auszusteigen, worauf Karl antwortet, er sei doch fertig, doch im nächsten Moment bemerkt er, dass er seinen Regenschirm im Innenraum des Schiffs vergessen hat.

Er läuft unter Deck, um seinen Schirm zu holen, doch zuvor bittet er seinen Bekannten, einen Augenblick auf seinen Koffer aufzupassen. Ein merkwürdiges Verhalten. Karl vertraut sein ganzes Hab und Gut einem flüchtigen Bekannten an, nur um seinen Regenschirm zu holen? Offensichtlich gibt uns Kafka zu verstehen, dass der Schirm eine besondere Bedeutung für den Protagonisten hat. Man hält ihn in den Händen wie eine Fackel oder ein Schwert. Er dient selbstverständlich zum Schutz, und wenn man ihn vor sich hält, wirkt er fast wie ein Schild.

Möglicherweise ist dieser ganze Abschnitt symbolisch zu verstehen. Karl handelt aus Angst. Er läuft unter Deck, um sein apotropäisches Artefakt zurückzugewinnen, das ihm in seiner neuen Welt ein wenig Sicherheit bieten soll. Und setzt damit eine Abfolge von Ereignissen in Gang, von denen eines den Übergang in eine andere Wirklichkeit markiert.

Wo finde ich gleich einen besseren Freund?

Karl verirrt sich in der labyrinthischen Struktur des Schiffes. Die Treppen im Inneren erinnern an ein kompliziertes, undurchdringliches Gewirr, dessen Beschreibung das 41 Jahre später entstandene Werk Relativität des niederländischen Künstlers M. C. Escher vorwegnimmt (die auf diesem Bild dargestellte Welt hat drei, voneinander unabhängige Gravitationszentren – die drei Treppenkomplexe sind zwar grafisch miteinander verbunden, bilden jedoch eine – unter normalen physikalischen Bedingungen – paradoxe architektonische Struktur).

„In seiner Ratlosigkeit“, schreibt Kafka über seinen Protagonisten, „und da er keinen Menschen traf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der Ferne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschinen merkte, fing er, ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Tür zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte.“

Dies ist womöglich eine der ikonischsten Szenen aus dem Kafkaschen Universum: Eine Person versucht, in irgendein Gebäude hineinzugelangen, was sich aus unterschiedlichen Gründen als unmöglich erweist. Doch dieses Mal ist es anders: Eine Stimme aus dem Inneren der Kabine gibt ihm zu verstehen, dass die Tür ja offen sei, und es keinen Sinn habe, so verrückt dagegenzuschlagen. Der Mann in der Kabine erweist sich als der Schiffsheizer. Er fordert Karl auf, seine Kabine zu betreten, obwohl diese sehr klein ist. Als Karl seiner Gewohnheit nach zögert, zieht ihn der Heizer einfach in die Kabine hinein und weist ihm einen Platz auf seinem Bett an.

Die beiden beginnen eine Unterhaltung, die gleichermaßen an ein erstes Kennenlernen wie an ein philosophisches Streitgespräch erinnert, das um eine existenzielle Entscheidung kreist – auch wenn dies wohl keinem der beiden Männer wirklich bewusst ist. Worum geht es? Der Heizer zeigt sich besorgt um Karls Schicksal, was diesen dazu bringt, den folgenden unausgesprochenen Gedanken zu formulieren: „Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten. Wo finde ich gleich einen besseren Freund.“

So wie er gerade eben aus einem Impuls heraus einem Unbekannten sein gesamtes Hab und Gut anvertraut hat, kommt er auch jetzt gänzlich unvermittelt zu Schlüssen, die unter solchen Umständen geradezu absurd erscheinen. Doch auf eben diese Weise entwickelt Kafka seine Geschichten: Er überrascht den Leser mit plötzlichen, unerwarteten Wendungen, die scheinbar alles zuvor Geschehene für nichtig erklären und gleichzeitig in keiner Weise auf eine logische Fortführung hindeuten.

Wir sind geneigt, die Abruptheit, mit der Karl seine Schlüsse formuliert, seiner Jugend, seiner emotionalen Unreife oder seiner erschreckenden Naivität zuzuschreiben, doch wer mit den Regeln der Kafkaschen Welt vertraut ist, enthält sich nach Möglichkeit derartiger Urteile. Möglicherweise könnte der Heizer – der kein leichtes Leben auf dem Schiff hat, weil er als Deutscher ständig von dem Obermaschinisten, einem Rumänen namens Schubal schikaniert wird – Karl tatsächlich die nötige Unterstützung bieten, vielleicht könnte er allein schon durch seine Anwesenheit das Leben des jungen Mannes in die richtigen Bahnen lenken.

Karls Übertreten der Schwelle der kleinen Kabine erscheint als eine logische Konsequenz seines unbewusst gefassten Plans: Er ist auf der Suche nach seinem Regenschirm, nach einem Schutzschirm, nach Sicherheit, und eben deshalb gelangt er an einen Ort, an dem er einen Menschen findet, der bereit ist, ihm zu helfen. Der Protagonist erkennt diese Möglichkeit, doch um sie zu wahren, muss er versuchen, sich in ihrem Einflussbereich aufzuhalten. Leichter gesagt als getan. Der Heizer befindet sich auf der untersten Stufe der Schiffshierarchie, auch wenn seine Arbeit von fundamentaler Bedeutung für die übrigen Crewmitglieder und die Passagiere ist. Er ist ständiger Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft und vor allem aufgrund seines Berufs ausgesetzt – er gilt als ein billiger Handlanger, der die niedrigsten Arbeiten an Bord verrichtet. Der Heizer ist in einem sozialen System gefangen, dessen Regeln zwar ein wenig verschwommen sind, das jedoch rücksichtlos funktioniert.

Karl entwickelt den Wunsch, seinem neuen Bekannten zu helfen und ihm Gerechtigkeit zu verschaffen. Als die beiden wieder an Deck gelangen, geraten sie augenblicklich in die Fänge des Systems, und Karl verstrickt sich in eine Auseinandersetzung mit den Schiffsoberen. Zusätzlich erscheint wie aus dem Nichts – wie so oft bei Kafka – plötzlich sein Onkel, der von dem bereits erwähnten Dienstmädchen brieflich von der Ankunft seines Neffen informiert wurde.

Karls Absicht, sich mit dem Heizer zusammenzutun, in jener eigentümlichen Welt des Schiffes zu verweilen, sich an einem Ort einzurichten, dem man in Wirklichkeit nicht ständig zugehören kann, und der dennoch eine gewisse existenzielle Verlockung entfaltet, schwindet plötzlich oder wird vielmehr von einem anderen Gedanken, einer weiteren Beobachtung, einem neuen Wunsch verdrängt. Die innere Uhr beginnt zu galoppieren, und dämonische Kräfte treiben den Protagonisten in die Arme der Zukunft.

Am Ende geht es darum, loszulassen.

Um zu einer Entscheidung zu gelangen, die es uns erlaubt, unserem vorgezeichneten Schicksal zu entfliehen, benötigen wir einerseits Kraft und andererseits eine schwer zu definierende Weisheit. Wir erkennen diese Weisheit, wenn sie in unserem Denken auftaucht und unser Handeln beeinflusst. Jenes „große Gefühl“, das Kafka in seinem Brief an Felice Bauer erwähnte, lässt sich möglicherweise als ein Reservoir an Kraft verstehen. Einige Monate lang hat der Schriftsteller mit vollen Händen aus diesem Reservoir geschöpft. Doch Energie allein reicht nicht aus, um einen Zustand aufrechtzuerhalten, in dem die innere und die äußere Uhr im Einklang laufen.

Gegen Ende des Romans Der Prozess fällt der folgende Satz: „Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht.“ Es sind die letzten Szenen des Romans. Der Steinbruch am Rande der Stadt liegt im Dunkel der Nacht. Josef K. lehnt an einem Stein, über ihm reichen zwei Herren in Gehröcken und Zylindern sich gegenseitig das Fleischermesser zu, mit dem er getötet werden soll. Er sieht eine Gestalt im Fenster eines an den Steinbruch angrenzenden Hauses und fragt sich, ob es nicht doch noch eine Möglichkeit gibt, irgendeinen Trick, um seinem schrecklichen Schicksal zu entrinnen.

Und in eben diesem Moment fällt der oben zitierte Satz, der eine zutiefst ironische Aussage trägt. Um des Lebens willen – eines besseren Lebens willen – preschen wir ständig voran. Erinnert ihr euch noch? Man muss, um zu überleben, irgendwelchen Herausforderungen begegnen, sofort etwas tun, irgendjemandem dringend etwas erklären, sich vor irgendjemandem rechtfertigen, äußeren Erwartungen gerecht werden, dem Druck standhalten. Doch in eben jenen Momenten, in denen es uns scheint, als folgten wir dem lebendigsten unserer inneren Impulse, laufen wir Gefahr, uns selbst zu verlieren.

Je mehr wir leben wollen, desto mehr unterliegen wir dem Druck der symbolischen Ordnung, die uns in blinde Ehrgeizlinge verwandelt. Unablässig scheint es uns, als müssten wir mehr leisten, um Anerkennung zu verdienen und unserer Existenz eine Berechtigung zu geben. Je mehr wir diese Logik in uns aufsaugen, desto größer ist das Ausmaß der Zerstörung in uns selbst und um uns herum. Ich schrieb oben, das genannte Zitat sei ironisch zu verstehen, denn wir tun all das aus einem Willen zum Leben heraus, während es doch eigentlich eher darum geht, loszulassen.

Der deutsche Literaturwissenschaftler Reiner Stach hat einen ausgezeichneten Kommentar zu diesem Zitat verfasst. Er schreibt, dass es für die Kafkaschen Protagonisten immer „einen Roman zu spät“ ist. Hätten Karl Roßmann, Josef K. Und K. die Romane beizeiten gelesen, in deren Mittelpunkt sie stehen, wären sie vielleicht imstande gewesen, jenen radikalen Schritt zu tun und in einen Seitenweg der Wirklichkeit einzubiegen, in dem die Uhren ein wenig anders laufen. So wie in Psalm 55, in dem Herzensangst und Todesfurcht bei dem Psalmbeter den Wunsch nach Flucht wecken: „Ich sprach: O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!“ Auf eben diese Zeile verweist Henry James im Titel seines Romans Die Flügel der Taube.

Romane sind ebensolche Taubenflügel, die es uns erlauben, der Logik unseres eigenen Schicksals zu entkommen. Die Kunst besteht lediglich darin, den richtigen Roman zu finden – und zwar nicht erst, wenn es zu spät ist, sondern schon lange vorher.