Bahía Blanca Geschichten vom Ab- und Anlegen
Die argentinische Dichterin Lucía Bianco ist Direktorin des Hafenmuseums von Ingeniero White im Großraum der Stadt Bahía Blanca. Sowohl in ihren Gedichten als auch in ihrer Funktion im Museum erforscht sie Geschichten von Hafen und Meer.
„Ich verbinde das Meer mit meinen Vorfahren, die wie so oft bei uns Argentiniern aus Italien und Spanien kamen. Neben ihrer Arbeit gingen sie gern fischen, weshalb sie mir von klein auf das Fischen beibrachten. Und ich verbinde das Meer mit Nachbarn, die Netze knüpfen, Freunden, die fischen gehen, einer Familie, die das Netz auswirft“, sagt die Dichterin und Museumsdirektorin Lucía Bianco. Sie sitzt gerade am Hafen von Ingeniero White, nur wenige Meter vom Wasser entfernt.Das stille Zeugnis alter Fischerboote
Die Sonne taucht Hafenpromenade, Lokale und das Standbild von San Silverio, dem Schutzpatron der Fischer, in sanftes Licht. Als Kind ging Lucía nachmittags oft an einen Strand, der nicht aus Sand, sondern aus Schlamm besteht: „Dort tummelten sich Krebse und Möwen. Und wir sahen den Schiffen zu, die aus dem Hafen von Ingeniero White ausliefen.“Diese „schwer zu verstehende Meeresbucht“ brachte Lucía dazu, ihren letzten Gedichtband mit dem Titel Paleo río (N Direcciones, 2022) zu schreiben: „Zehntausend Jahre, ein Fluss (Colorado), der nicht mehr da ist, aber trotzdem gibt es Dinge, die immer noch da sind und die mich als winziges Subjekt ausmachen.“ Lucía geht am Hafen entlang und weist darauf hin, dass es fast keine traditionelle Fischerei mehr gibt. Nur das stille Zeugnis alter Fischerboote, die nach einem Sturm auf ihre Instandsetzung warten. Ein weiterer ihrer Gedichtbände heißt Preinsectario. Lucía sagt, dass die Gezeiten in der Bucht von Bahía Blanca besonders stark ausgeprägt seien und es daher auf einen scharfen Geruchssinn ankomme: „Ob Ebbe, Südwind oder Nordwind – die Gerüche ändern sich. An manchen Tagen riecht es nach Algen, an anderen nach Schlamm. Oder es riecht nach Getreide, das exportiert wird. Oder es riecht nach etwas, was von der Petrochemie herkommt.“
Auffällig ist auch das Kreischen der Möwen, die wie graubraune Tupfen über dem Meer fliegen. „Ich kann mir kaum vorstellen, an einem anderen Ort als diesem hier zu leben“, sagt sie, die als erste Frau das Hafenmuseum von Ingeniero White leitet. Im Wind flattern die Fahnen der ankernden Schiffe. „Diese Art von Horizont, die Gerüche, das, was beim Blick in die Ferne ins Auge fällt…
„…Wer hat keinen Schreiner zum Großvater
der am Trockendock mitgebaut hat, zum Beispiel.
Oder jemanden, der Bauer, Schneiderin, Bäcker war.
Oder einen gebürtigen Jugoslawen oder Anarchisten oder Gewerkschaftsführer
oder alles zusammen.
Wer hat nicht etwas, was er vergessen hat und doch wiedererkennt,
wenn er das Holz einer hundertjährigen Tür berührt, sodass ihm plötzlich
nach Weinen zumute ist, die Hand auf der glatten Oberfläche.“
Das hundertjährige Holz könnte zum Hafenmuseum von Ingeniero White gehören. Das Museum befindet sich im ehemaligen Lager des Zollamtes, das 1907 von einem englischen Unternehmen errichtet wurde.
Wenn keiner kocht, steht der Hafen still
Über den benachbarten Häusern aus Blech und Holz geht nun die Sonne unter. Die heiße Schokolade der Asociación de Amigas („Freundinnenverein“) ist eine willkommene Köstlichkeit für die Besucher und Besucherinnen des Museums sowie des Centro Murga Vía Libre (Sitz der murga, der Karnevalsgruppe, Vía Libre). Jeden Sonntag bereiten verschiedene Kollektive oder Köchinnen aus dem Stadtteil ihre Gerichte zu und es spielt Livemusik. Diesmal teilen sie sich die Tische unter den Bannern und applaudieren begeistert. Eine Dame gesteht leise: „Ich hatte vorher noch nie eine Murga gesehen.“Das Hafenmuseum wurde im Jahr 1987 gegründet, und Bianco, Absolventin der Hochschule für Visuelle Künste in Bahía Blanca, leitet es seit 2019. Davor arbeitete sie im „Küchenbereich“ des Museums und erforschte diese „Gegend voller charakteristischer, jahrelang geringgeschätzter Geschmacksrichtungen. Wenn keiner kocht, steht der Hafen still. Dieser Gedanke treibt das Museum an.“ Für den Badezimmer-Saal, den letzten, der eingerichtet wurde, „stellten wir uns Tabuthemen wie den Veränderungen des Frauenkörpers, Gewalt, Dissidenzen im Hafen.“ Die pittoreske Sammlung von Gegenständen in den bunten Museumsräumen kam durch Spenden zustande. Neben der Sammlung geben das fotografische, das dokumentarische und das Oral-History-Archiv des Museums einen umfassenden Einblick ins Leben der Menschen vor Ort.
Besonders stolz ist Bianco auf das Oral-History-Archiv mit über tausend Tonaufnahmen von Arbeitern, Köchinnen und Fischern. „Wenn wir einen Saal neu einrichten, sammeln wir nicht nur Dokumente und gehen ins Archiv, sondern führen auch Interviews zu dem Thema, das wir zeigen wollen. Denn von der Geschichte gibt es viele Versionen, und die möchten wir hören.“
Gabriela Mayer hat die Geschichte aufgezeichnet. Ein großes Dankeschön geht an Lucía Bianco, die ihre Hafengeschichte mit uns geteilt hat.