Deutsch-deutsche Geschichte Ein Ossi im perfekt wiedervereinigten Land

Der Schriftzug „OST“ auf dem Dach der Volksbühne in Berlin wir mit einem Kran entfernt
Der Schriftzug „OST“ auf dem Dach der Volksbühne in Berlin wurde am 24.06.2017 während der letzen Vorstellung von „Die Brüder Karamasow“ abgebaut. | Foto (bearbeitet): © picture alliance | Jörg Carstensen

Mauern, die das Land trennen, kennt die Autorin Valerie Schöninan, die 1990 – wenige Tage vor der Wiedervereinigung – in Sachsen-Anhalt geboren wurde, nur aus Filmen. Dennoch bezeichnet sie sich bewusst als Ostdeutsche und schreibt darüber, wie die unterschiedlichen Perspektiven in Ost und West als Gewinn begriffen werden können.

Vor ein paar Wochen ist mir aufgefallen, dass sich die Frage verändert hat. Früher lautete sie: Waren wir nicht einmal weiter? Nun heißt es: Ist es nicht langsam mal gut? Gemeint ist das Reden über Ostdeutschland. Ich möchte, wenn ich so etwas lese, immer gern antworten: Nein, ist es nicht. Eigentlich könnte man sogar sagen: Wir haben gerade erst angefangen. Und überhaupt, glaube ich: Gerade, weil wir jetzt so viel darüber reden – das zeigt, dass wir weiter sind.

Ich bin im Herbst 1990 geboren, in Gardelegen in Sachsen-Anhalt, das damals noch wenige Tage zur DDR gehörte. Aufgewachsen bin ich in Magdeburg. Damit bin ich ziemlich genauso alt wie das wiedervereinigte Deutschland. Mauern, die das Land, in dem ich lebe, trennen? Das kenne ich nur aus Filmen. Lange habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, dass ich aus Ostdeutschland komme oder über meine Ost-Identität. Das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, bestand einfach aus sechzehn Bundesländern. Ost und West waren für mich Himmelsrichtungen. Die DDR-Geschichte wie das Römerreich – abgeschlossen, und vorbei.

Ossi-Werdung

Geändert hat sich das, als ich nach München zog. Das war im Jahr 2014, dem Jahr, als Pegida begann in Dresden zu marschieren. Ich stand in München auf einer Gegendemo. Doch etwas unterschied mich von den Leuten um mich herum. Ich sah in den Menschen, die in Dresden demonstrierten vor allem Wütende. Die anderen, so hatte ich das Gefühl, sahen zuallererst Ostdeutsche. Da wurden Klischees aus der Schublade gekramt, von denen ich zuvor dachte, es sei ein Klischee, dass es die noch geben würde. Eine Freundin gestand mir, dass sie wegen Pegida in ganz finstere Klischees zurückfalle und denke: „Scheiß Ossis! Ihr Jammerlappen, dass ihr euch immer noch benachteiligt fühlt!“

Damals begann das, was ich später meine Ossi-Werdung genannt habe. Das war erst noch ein unterbewusster Prozess, der auf ziemlich viel Trotz beruhte. Ich begann die Lieder ostdeutscher Bands auf die Playlist von WG-Parties zu schmuggeln (Kling Klang von Keimzeit!) und bestand vor dem Sekt-Regal darauf Rotkäppchen zu kaufen. Bewusster wurde das Ganze, als ich zurück nach Berlin zog, wo ich zuvor bereits studiert hatte – und begann, mich immer mehr mit Ostdeutschland auseinanderzusetzen. Und je mehr ich mich mit der Geschichte, Perspektive, der Erfahrung beschäftigte, desto mehr wurde mir bewusst, wie wenig sie gesamtgesellschaftlich eine Rolle spielt, und desto mehr wollte ich darüber wissen.

Das Erstarken des Rechtspopulismus

Aber neben meinem eigenen Erkenntnisbedürfnis gab es noch eine andere Entwicklung: das Erstarken des Rechtspopulismus in Ostdeutschland. Im Jahr 2016 wurde in Sachsen-Anhalt, meinem Heimatbundesland, die AfD das erste Mal zweitstärkste Kraft. Heute gehört das schon zur Regelmäßigkeit, damals war es das erste Mal.

Nach der Wahl fühlte ich viele Dinge auf einmal. Ich war fassungslos über das Wahlergebnis, natürlich. Aber ich war auch fassungslos darüber, wie Deutschland plötzlich auf mein Heimatbundesland zu schauen schien und pauschal alle Menschen dort in eine Schublade steckte. „Schäm dich, Sachsen-Anhalt“ und „Tja, was machste mit so Leuten“– so etwas schrieben Menschen, die ich in den vergangenen Jahren in Hamburg, Berlin, oder München kennengelernt hatte, in meiner Facebook-Timeline.

Ein paar Tage nach der Wahl sprach ich mit einem Westdeutschen, der vielleicht 30 Jahre älter als ich ist, über das Wahlergebnis. Ich versuchte ihm zu erklären, was ich selbst erst gerade begann zu verstehen: die falschen Versprechungen, die ganze Wut, den ganzen Frust, all das, was in den vergangenen Jahrzehnten, seit der Wiedervereinigung, schief gelaufen ist. Und dieser Mann sagte dann: Einen Bogen zwischen all dem und den Wahlergebnissen herzustellen, das sei Ossi-Gejammer. Wenn ich gezwungen wäre, einen einzigen Moment bestimmen zu müssen, der mich zum Ossi gemacht hat, dann war es dieser. Da merkte ich: Er und ich haben offenbar eine völlig andere Perspektive. Einen anderen Blick auf die DDR-Zeit und die Nachwendejahre. Nicht weil einer von uns dumm ist, oder ignorant, oder völlig falsch liegt. Sondern weil er Wessi ist und ich Ossi. Seitdem fühle ich mich ganz bewusst als Ostdeutsche, seitdem will ich es auch sein und eigne mir auch den Begriff „Ossi“ an. Weil ich ihn positiv besetzen will. Da er positiv für mich ist.

Aber es geht bei dem ganzen Thema nicht nur um den Bogen zur DDR und die Nachwendezeit. Natürlich, deswegen ist der Osten so geworden, wie er ist, aber doch ist beides eben Geschichte. „Der Osten“ heute ist viel mehr als das, er hat nicht einfach mit der DDR aufgehört zu existieren. Deswegen hat er auch noch mit mir zu tun, auch wenn ich erst 1990 geboren bin.

Ich bin mit anderen Selbstverständlichkeiten als meine westdeutschen Altersgenossinnen aufgewachsen (arbeitende Mutter), anderen Strukturen (kein Erbe), in einer anderen Umgebung und anderen Bezügen (Plattenbauten am Horizont lösen in mir heimatliche, wohlige Gefühle aus). Und natürlich habe ich einen anderen Bezug zur ostdeutschen Geschichte. Denn sie ist auch meine. Ich fühle mich der ostdeutschen Erfahrung, wenn man so will, solidarisch verbunden. Denn alles, was daraus entstanden ist, ist der Raum, in dem ich groß geworden bin. Mit all seinen Herausforderungen (so viel Wegzug), und all seinen Großartigkeiten (so viel Freiraum). All das prägt, wie ich, wie wir ostdeutschen Nachwendekinder, aufs Leben blicken, auf die Politik, und die Gesellschaft. Und deswegen muss unser Blick, muss der ostdeutsche Blick Platz finden in der gesamtgesellschaftlichen Erzählung.

Unterschiede müssen nichts Trennendes sein

Identitätspolitik kann wie eine Art Brille sein, die man sich aufsetzt, um gewisse Dinge zu sehen, die vorher unsichtbar waren. Um die Machstrukturen, die in dieser Gesellschaft verborgen wirken, zu erkennen und daran zu rütteln. Da sieht man zum Beispiel, dass die Diskursmacht, die politische, die wirtschaftliche Macht, die historische Haupterzählung – das alles ist westdeutsch geprägt. Das ist schon seit 35 Jahren so, aber jetzt bekommen es immer mehr Menschen mit, weil wir mehr darüber reden.

Ich glaube, es darf ein Umdenken stattfinden. Lange haben alle gedacht, dass es eine tatsächliche Einheit irgendwie bedeuten würde, nicht mehr über Ost und West zu reden. Ich finde, das ist ein Gedanke, von dem wir uns verabschieden sollten. Natürlich können wir über Ost und West reden. Warum denn nicht? Erstens tun wir das doch erst seit ein paar Jahren verstärkt. Zweitens redet doch auch jeder über die Bayern und die Schwaben, ohne infrage zu stellen, dass sie zur gesamtdeutschen Gesellschaft gehören. Drittens können wir nur so die fehlende Augenhöhe immer wieder thematisieren. Und viertens sind unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven doch schlicht spannend und gewinnbringend. Was es dabei einfach braucht, ist, dass wir uns als Gesellschaft ins Gehirn prügeln, und das am besten auch über die Ost-Debatte hinaus, dass Unterschiede nichts Trennendes sein müssen. Dann kann ich auch ein Ossi in einem perfekt wiedervereinigten Land sein, mit meinen Platten, meinem Rotkäppchen, meinem Kling Klang.