Solidarität Wessen Welt ist die Welt?

Key art Gegenüber Article Solidarity Song showing a Collage with Eisler, LP Record and Notes
© Ricardo Roa

Das für den Film „Kuhle Wampe“ geschriebene „Solidaritätslied“ gilt als zeitlose Hymne der Arbeiterbewegung. Im Film bezieht sich Solidarität auf die Einheit der Arbeiterklasse. Aber was bedeutet der Begriff heute? Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Aktualität des Lieds.

Das „Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“ gehört seit 2014 offiziell zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands. Dies schließt auch das Singen des Solidaritätslieds aus dem 1932 uraufgeführten Film Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? ein – ein Film, zu dem der Publizist Siegfried Kracauer 1947 in seinem Buch Von Caligari zu Hitler vermerkte, es sei dies „der erste und letzte deutsche Film, der offen einen kommunistischen Standpunkt einnahm“. Kuhle Wampe, als Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm unter der Regie des bulgarischen Regisseurs Slatan Dudow entstanden und unter anderem mithilfe des Dramatikers Bertolt Brecht geschrieben, zählt unter den Werken der Weimarer Republik, die die Arbeiterklasse für den Sozialismus mobilisieren wollten, zu den eindrücklichsten.

Kuhle Wampe

Die Handlung des Films ist so leicht verständlich wie ideologisch eindeutig: Eine Berliner Familie, die unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 leidet, verliert ihre Wohnung und zieht auf den Zeltplatz „Kuhle Wampe“ am Rande der Stadt. Die Tochter findet Halt in einem kommunistischen Verband und engagiert sich in der Organisation eines Arbeitersportfestes. Besonders nachdrücklich in Szene gesetzt sind Filmmomente wie jener, bei dem hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen während des Festes im Chor singen sowie die kollektive Rückfahrt in einer S-Bahn, bei der es zu einem ideologischen Schlagabtausch mit anderen, nicht kommunistisch gesinnten Fahrgästen kommt. Als zum Genre des „proletarischen Films“ gehörendes kommunistisches Propagandawerk aus der krisengeschüttelten Spätzeit der Weimarer Republik wurde der Film nach Erscheinen in Deutschland – die Uraufführung fand in Moskau statt – schnell von der Zensurbehörde verboten.
Ernst Busch - Solidaritätslied Arbeiterlieder Lyrics Channel auf Youtube
Das von Brecht für den Film getextete und von dem Komponisten Hanns Eisler vertonte Solidaritätslied ist zentral für Kuhle Wampe. Wie ein Leitmotiv zieht es sich durch den Film.

Arbeiterlieder

Seitdem gehört das Lied zur Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung, die seit Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem von ebensolchen „Arbeiterliedern“ geprägt wurde. Diese Lieder, darunter Die Internationale oder Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, sollten Solidarität unter Arbeitern und Arbeiterinnen stärken und gemeinsame Gegner – den „Klassenfeind“ – benennen. Bei Versammlungen wurden sie im Chor gesungen und später auf Tonträgern verbreitet.

Auch das Solidaritätslied ruft – selbstredend – zur Solidarität auf: Es fordert eine Einheit der Völker weltweit, um, im Sinn kommunistischer Ideologie, kapitalistische und damit auch kriegstreibende Herrschaftsverhältnisse revolutionär zu stürzen. Seine Kernfragen greifen zentrale Themen marxistischer Theorie auf, Fragen etwa nach dem Eigentum an Grund, Boden und Produktionsmitteln sowie die Verfügung über Zeit, Geschichtsauffassung und Zukunft: „Vorwärts und nie vergessen / die Frage an jeden gestellt: / willst du hungern oder essen? / Wessen Morgen ist der Morgen? / Wessen Welt ist die Welt?“. Das beharrlich an den Beginn des Refrains gesetzte „Vorwärts“ steht dabei für Aufbruch, Massenmobilisierung, Fortschritt und die Vision einer kommunistischen Gesellschaftsordnung.
Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität
Das klassische Arbeiterlied in Deutschland wurde, nachdem es im Nationalsozialismus verboten und durch Propaganda- und Kampflieder der NSDAP ersetzt wurde (das Prinzip internationalistischer Solidarität durch das der „Volksgemeinschaft“ pervertierend), in der DDR wieder öffentlich gepflegt. In der sozialdemokratischen Tradition der Bundesrepublik verlor es hingegen an Bedeutung. In den 1970er-Jahren wurde es in der westdeutschen Linken neu belebt, modernisiert und an zeitgenössische Themen angepasst, etwa im Song Solidarität (1971) der West-Berliner Band „Ton Steine Scherben“: „Wir haben keine Angst zu kämpfen / Denn die Freiheit ist unser Ziel /Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität“, heißt es da. Das Solidaritätslied selbst blieb in der DDR fester Bestandteil des politischen Kanons, während es in der Vorwende-Bundesrepublik vor allem von linken Liedermachern wie Hannes Wader (1977) gesungen wurde. Seit der Wiedervereinigung ist es jedoch weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden und taucht, wenn, dann nur als Phantom auf: „What’s on my plate? Die Solidaritate! Oh, I’m so hungry!“, heißt es etwa in einem House-Track von Marc Ushmi und Reverend Galloway (Marcus Schmickler und Stephen Galloway) aus dem Jahr 2002.

Dass das Ende der Ära des Staatssozialismus in Europa ausgerechnet durch eine sich selbst „Solidarität“ nennende Bewegung eingeläutet wurde, stellte auch die Prämissen des Solidaritätslieds als Ausdruck jenes proletarischen Bewusstseins auf den Kopf, nach dem eine Staatspartei als Garant der Interessen der Arbeiterklasse jegliche Solidaritätsversprechen einlöst: als 1980 in Polen mit dem „Danziger Abkommen“ erstmals in einem sozialistischen Land eine unabhängige Gewerkschaft zugelassen wurde – die „Solidarność“ –, warf vehement eine Frage auf, die bis heute nicht an Gültigkeit verloren hat: Wem gehört überhaupt die Solidarität?

Solidarität als politisches Konzept

War sie in Kuhle Wampe eindeutig auf die Einheit der Arbeiterklasse bezogen, hat sich Solidarität mittlerweile zu einem politischen Konzept entwickelt, das nicht mehr nur auf die Ideologie des Klassenkampfs beschränkt ist. Solidarität findet sich heute als Motiv verschiedener gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die mit Begriffen wie soziale Gerechtigkeit, Antirassismus, Klima- oder Gendergerechtigkeit bei weitem nicht abschließend aufgezählt sind, zumal sich diese Anliegen im Zeichen intersektionaler Theorie und Praxis überschneiden. Die Arbeiterklasse als revolutionäres, in die Geschichte des Internationalismus eingebettetes „Subjekt der Geschichte“ kommt hierbei kaum vor. Und die etwa in Empire (2000), Antonio Negris und Michael Hardts Standardwerk der damaligen Antiglobalisierungsbewegung erhoffte Vorstellung einer „Multitude“ als Zusammenschluss von „Singularitäten, die gemeinsam handeln“ und so zu Solidarität finden, hat sich nicht zuletzt aufgrund von Gemeinschaftsdenken schwächendem neoliberalen Individualismus kaum eingelöst.

Zusätzlich setzen derzeit auch mit entsprechenden Liedern einhergehende rechte Konzepte wie das eines „solidarischen Patriotismus“ als Verknüpfung von sozialpolitischen mit nationalistischen Positionen den im Solidaritätslied gemeinten internationalistischen Parolen zu, von aktuellen Polarisierungen des Begriffs der Solidarität als Folge etwa des Überfalls der Hamas auf Israel und des Gaza-Krieges ganz zu schweigen. Für Lieder bleibt da, zumal in den Echokammern des Netzes, sowieso wenig Platz.

Dabei wären Fragen zu Eigentum oder zur Verfügung über Zeit und Zukunft gerade auch aufgrund einer algorithmisch grundierten Gegenwart, die auch genau diese Polarisierungen bedingt, dringlich zu beantworten. Wer wissen möchte, ob generative KI das Solidaritätslied aktuellen politischen Gegebenheiten anpassen und dabei eine adäquate, zukunftsgerichtete Vorstellung von Solidarität entwickeln kann, möge gerne den Versuch starten. Vorwärts und nie vergessen / Die Frage an jeden gestellt!