Demokratie und Diversitätsförderung „Das Handeln im Hier und Jetzt für die Gleichheit“

Eine beschriebene Wand. Wörter sind durchgestrichen und durch andere ersetzt.
Neue Perspespektiven schaffen - eines der Ziele des fluctoplasma-Festivals | © Thomas Byczkowski

Perspektiven für ein Zusammenleben in Vielfalt aufzuzeigen – diesen Anspruch haben sich die Macher*innen des interdisziplinären fluctoplasma-Festivals, das im vergangenen Oktober in Hamburg zum dritten Mal stattfand, selbst auf die Fahnen geschrieben. Im Gespräch berichten die Projektleiterin Nina Reiprich und der künstlerische Leiter Dan Thy Nguyen von den Lehren, die sie aus ihrer Arbeit ziehen, ihrem Verhältnis zum Optimismus und dem status quo der politischen Bildung in Deutschland.
 

Das Motto des vergangenen fluctoplasma-Festivals war #RetellingUtopia. In vielfacher Hinsicht erscheint die Lage demokratischer Gesellschaften weltweit aktuell eher dystopisch. Wie viel utopischen Optimismus tragen Sie in sich?

Nina Reiprich: Optimismus ist eher mein Feld. (lacht) Wir tragen genug Optimismus in uns, um eine Arbeit zu machen, deren Ur-Motor es ist, mit künstlerischer Auseinandersetzung einen Beitrag zum demokratischen Dialog in unserer Gesellschaft zu leisten. Ich muss aber auch sagen, dass die momentanen Lagen der Welten überall mich nicht besonders optimistisch stimmen. Gleichzeitig schafft unsere Arbeit oft im ganz Kleinen auch viele Momente, die verdeutlichen, dass es sich lohnt für Räume zu kämpfen, in denen Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen miteinander ins Gespräch kommen.

Dan Thy Nguyen: Als ich aufgewachsen bin, funktionierte Kunst immer nach einem Top-down-Modell. Der Regisseur – meistens ein Mann – hat erzählt, was gemacht wird und alle mussten folgen. In unserer Tätigkeit versuchen wir, durch Arbeitsgruppen und Austauschformate, per se demokratische Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln. Ob es uns alltäglich gelingt, diese auch zu leben, ist eine andere Geschichte, aber das gehört zum demokratischen Handeln wahrscheinlich auch dazu – es ist das Handeln im Hier und Jetzt für die Gleichheit. Eine biografische Anmerkung sei mir noch gestattet: ich habe relativ viel Optimismus, denn bei allem, was wir jetzt an dystopischem Potential in der Welt sehen, komme ich aus einer geflüchteten Familie und habe dadurch eine andere Form der Dystopie erlebt. Wir dürfen bei all unseren dystopischen Gedanken nicht vergessen, was für ein unglaubliches Potential auch in unserer Gesellschaft steckt, Utopien zu entwickeln.

Potential ist ein gutes Stichwort, wenn wir über Demokratie und Postkolonialismus sprechen: die Aufklärung gilt trotz ihres kolonialen Erbes noch immer als Wiege des modernen Europa. Wie kann es uns diesbezüglich gelingen, die Potentiale herauszukitzeln und europäisches Gedankengut im 21. Jahrhundert und im globalen Kontext neu zu verhandeln?

Dan Thy Nguyen: Ich glaube, dass die augenblickliche Diskussion widerspiegelt, wie man die Aufklärung im 21. Jahrhundert kontextualisiert und die Gedanken, die Europa und die Welt stark geformt haben, auf eine neue Ebene bringt. Was die Aufklärung zum Beispiel trotz allem hervorgebracht hat, ist der Gedanke der Gleichheit der Menschen und viele großartige Dinge, die daraus entstanden sind: Pädagogik, Philosophie, Menschenrechte. Ich glaube das Problem ist, dass im Namen der Menschenrechte sehr viel Unmenschliches getan worden ist. Das macht in meinen Augen aber eine Auseinandersetzung mit den Menschenrechten nicht obsolet, sondern vielmehr ist die Fragestellung eines radikalen Neuverhandelns der Menschlichkeit unsere jetzige Aufgabe per se.

Nina Reiprich: In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage: Was zählt denn als europäisches Gedankengut? Sehr viele postkoloniale und dekoloniale Strömungen kommen ja auch aus dem europäischen Kontext heraus. Und dadurch stellen sich weitergehende Fragen: Wer ist denn eigentlich dieses europäische „Wir“, von dem immer die Rede ist. In welchen Dialogen sind all diese Theorien entstanden? Auch Kant hat nicht im luftleeren Raum geschrieben. Daher halte ich es einerseits für wichtig, das Dialogische jetzt zu schaffen, aber andererseits auch immer wieder drauf zu verweisen, dass es schon immer eine globale Befruchtung und weltweite Vernetzung postkolonialen Denkens gab.

Dan Thy Nguyen: Alle großen Vordenker*innen des Postkolonialismus standen in einem hybriden Dialog. Ich glaube, ein großer Fehler, den wir machen, ist einerseits über die Aufklärung mit Bestimmtheit zu sagen: „Die waren so“ und andererseits in Bezug auf postkoloniale Bewegungen so zu tun, als seien diese authentisch, originär und ohne einen Dialog mit dem Rest der Welt entstanden. Wir müssen aufpassen, dass wir keine falsche Form der Authentizität erzeugen und glauben, dass sei alles im luftleeren Raum entstanden. Auch das sind alles Geister ihrer Zeit und müssen weitergedacht werden. Und das ist das Schöne am Menschsein.


Vier Menschen sitzen auf der Bühne um einen Tisch herum und diskutieren miteinander. Austausch auf Augenhöhe beim fluctoplasma-Festival 2022. | © Thomas Byczkowski
Ihr Festival versteht sich als Ort von meinungsstarkem, aber kompromissbereitem und respektvollem Austausch. Haben wir es durch die immerwährende Lautstärke des Diskurses in den sozialen Medien verlernt, Widersprüche auszuhalten und auch auf die leisen Töne zu achten?

Nina Reiprich: Formate, in denen ich mich anonym irgendwo beteiligen kann, haben diese Entwicklung sicher unterstützt. Aber ich glaube auch – ganz konkret auf Deutschland bezogen – dass es fast keine demokratische Bildung gibt und damit das gemeinsame, konstruktive, demokratische Streiten nicht im Bildungssystem verankert ist. Und dann ist es auch keine Überraschung, wenn 20 Jahre später keine erwachsenen Menschen herauskommen, die es gewohnt sind, wirklich miteinander im Respekt zu streiten. Grundsätzlich stimme ich zu: ich glaube, dass laute Stimmen momentan sehr viel erfolgreicher sind, vollkommen unabhängig davon, ob sie lauter sind für ein friedliches Miteinander für alle. Und dass die leiseren Töne, die versuchen, auf Dialog zu setzen, sehr schnell niedergebügelt werden ist eine Schwierigkeit, die auch uns häufig begegnet.

Dan Thy Nguyen: Allein, dass wir jetzt darüber sprechen und dieses Phänomen einer antrainierten Kultur des Extrovertierten erkannt haben, offenbart doch, dass laute Stimmen nicht unbedingt immer die intelligenteren sind. Zusätzlich glaube ich, dass alle wichtigen demokratischen Strömungen immer sehr passionsreich waren. Die Entstehung der Demokratie war ein leidenschaftlicher Kampf und auch jegliche Weiterentwicklung von Demokratie musste erkämpft werden. Das Interessante an einer Demokratie ist, dass sie Kämpfe aushalten kann und aushalten muss, wenn sie genug innere Abwehrkräfte hat. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen. Haben wir genügend Instrumente in der Demokratie implementiert? Haben wir eine demokratische Kultur der politischen Bildung, die von klein auf beginnt, um zu verstehen, dass der Dialog, das Streiten, auch der Konflikt Teil der demokratischen Gesellschaft sind. Ich glaube wir sind mitunter als Demokrat*innen noch sehr schlecht im demokratisch sein.

Nina Reiprich: In diesem Punkt möchte ich ein bisschen widersprechen. Klar, die Demokratie wurde erkämpft, aber das war in einem klaren Gegenüber zu einer noch nicht existierenden Demokratie. Innerhalb der Demokratie fehlt heute aber gewissermaßen der natürliche Gegner wodurch der Kampf zu einer sehr bürokratischen Auseinandersetzung geworden ist, die viele Menschen verloren hat, weil gar nicht mehr klar formuliert ist, worum es eigentlich geht. Da müssen wir sowohl in der kulturellen und politischen Bildung, aber auch in der Form unserer Administration und der politischen Teilhabe ansetzen. Nach dem Motto: „Wo haben wir denn tatsächlich auch Möglichkeiten, etwas zu tun?“

Dan Thy Nguyen: Was uns fehlt ist die Überwindung des Bürokratischen, denn wir müssen alle passionierte demokratische Menschen sein, um eine gelebte Demokratie zu erreichen. Wir haben die Instrumente, die uns die Hände gelegt worden sind für eine gelebte Demokratie. Wir nutzen diese aber nicht zu Genüge aus.

Eines ihrer wichtigsten Anliegen ist es, Themen wie Diversität, Gleichberechtigung und Antirassismus nicht nur innerhalb soziokultureller Filterblasen zu verhandeln, sondern gesamtgesellschaftlich und barrierearm. Braucht es auch diesbezüglich einen Prozess der Demokratisierung des Zugangs zum politischen und kulturellen Diskurs?

Beide: Ja. (lachen)

Dan Thy Nguyen: Es gibt aber noch etwas hinzuzufügen zu diesem simplen „Ja“. Nämlich, dass wir auch die Kultur und die Kunst als demokratische Kräfte nicht überschätzen sollten. Sie können nur im Zusammenspiel mit den anderen Feldern des Demokratischen, des Sozialen, des Politischen, der Bildung gut funktionieren. Es ist so: Kunst ist ein Baustein. Deswegen ist auch unser Festival aus diesen unterschiedlichen Elementen gebaut. Es ist eben nicht nur Kunst, sondern auch Diskurs.

Nina Reiprich: Ich habe zuvor in einem Projekt gearbeitet, bei dem aus der Stadtteilarbeit heraus Bedarfe eruiert und künstlerische Projekte entwickelt wurden. Dabei wurde häufig extrem deutlich, wie wichtig soziale und politische Veränderungen sind. Ich kann noch so häufig Menschen auf eine Bühne stellen – wenn diese Menschen keine Arbeitserlaubnis und keine Wohnung haben, in der Kinder in Ruhe in ihrem eigenen Zimmer ihre Hausaufgaben machen können; wenn diese Menschen drei Jobs haben, damit sie ihre Kinder ernähren können, dann müssen wir nicht darüber reden, ob sie einen Zugang zum Deutschen Schauspielhaus haben. Das ist auch eine relevante Frage. Und es ist auch wichtig, dass diese Geschichten auf den Bühnen des Deutschen Schauspielhauses erzählt werden und dass alle Menschen das Gefühl haben, dort willkommen zu sein. Aber es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung als Gesellschaft, ein Miteinander zu schaffen, in dem Kinder ausreichend Essen haben, zur Schule gehen können und gefördert werden; in dem Eltern Anlaufstellen haben, wenn sie nicht mehr weiter wissen und in dem Menschen arbeiten dürfen, die arbeiten wollen. Das ist die Basis dafür, dass sich Menschen überhaupt mit Fragen beschäftigen können wie: „Welche Parteien gibt es und welche soll ich wählen?“ Deswegen kann die Kunst Themen setzen und sie kann Aufmerksamkeit lenken. Aber ändern muss sich an anderen Stellen etwas.

Dan Thy Nguyen: Wir müssen Gleichberechtigung schaffen und diese klassisch von unten betriebenen Kämpfe weiter führen. Aber auch die großen Institutionen müssen ihrer demokratischen und gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Deswegen ist fluctoplasma bestrebt, auch mit großen Institutionen zu arbeiten und sie daran zu erinnern: „Ihr setzt Themen und ihr bekommt Fördergelder – das sind demokratische Gelder, deswegen habt ihr die Verantwortung, auch etwas für die Demokratie zu schaffen.“

Dan Thy Nguyen, Sie haben die Ästhetik von fluctoplasma einmal mit einem futuristischen Kaugummiautomaten verglichen. Drehen wir gemeinsam am Rädchen des Automaten – was befindet sich in den kleinen Kapseln, das zur Entstehung einer demokratischen Gesellschaft der Zukunft beitragen kann?

Nina Reiprich: Vielleicht eine Art Beruhigungsmittel, damit wir in der Lage sind, einander besser zuzuhören.

Dan Thy Nguyen: Ich glaube, diese ganzen Anerkennungskämpfe, in denen wir stecken sind sehr wichtig. Die entscheidende Frage ist, was machen wir daraus? Welche Instrumente entwickeln wir jetzt für diese Kapsel? Ohne Formen des Verzeihens und des Verarbeitens werden wir nicht weiterkommen. Der Streit selbst ist wichtig als Form von Vergesellschaftung, aber es ist auch wichtig, Brücken zu bauen und darüber zu gehen. Und vielleicht ergänzend: die Probleme sehen von außen oft größer aus als sie eigentlich sind und manchmal muss man tiefer schürfen, um herauszufinden, was für Handwerkszeug wir für unsere Zukunft brauchen.

Dann hilft uns vielleicht auch diesbezüglich das Bild des Kaugummiautomaten wieder, um die Dinge in die Perspektive zu rücken und sie nicht größer zu machen, als sie sein müssen?

Dan Thy Nguyen: Viele der heute diskutierten Themen sind Scheinriesen, wie bei Momo. Je näher man herankommt, desto kleiner werden plötzlich die Probleme. Wenn man direkt davorsteht, wirken sie so groß, dass man das Gefühl bekommt, man könne sie nicht bewältigen. Aber es bleibt uns keine andere Wahl. Wir müssen sie bewältigen, wollen wir auf dieser Welt alle in Würde zusammenleben.

 

Über das Projekt

fluctoplasma – Deutschlands interdisziplinäres Festival für Kunst, Diskurs und Diversität findet zum vierten Mal vom 26. bis 29. Oktober 2023 statt. An der Schnittstelle ästhetischer und gesellschaftlicher Reflexionen werden Perspektiven für ein Zusammenleben in Vielfalt vorgestellt, sowohl als unmittelbares Erlebnis, in äußerst verschiedenen Orten der Hamburger Kulturszene, als auch online via Live-Streaming. Das Ziel der viertägigen Veranstaltungsreihe: Politische Bildung, soziale Bindung und kollektive Bewegung anhand künstlerischer Mittel zu fördern, um ein solidarischeres, pluralistischeres und gerechteres Miteinander zu gestalten. Im Rahmen von Ausstellungen und Konzerten, Filmvorführungen und DJ Sets, interaktiven Installationen und Spoken-Word-Performances, Talks, Panels und Workshops, werden Antworten auf dringende Zukunftsfragen skizziert: Welche Utopien von Gemeinschaft haben ausgedient, vertragen ein Update oder verlangen nach inklusiveren Grundgedanken als die der europäischen Aufklärung? Welche neuen Realitäten müssen wir entwerfen und wie schaffen wir das zusammen mit den immer perfektionierbaren Werkzeugen der Demokratie?