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Ingo Schulze im Gespräch
„Das Problem beginnt schon da, wenn von 30 Jahren Mauerfall die Rede ist“

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Ingo_SchulzeFrankfurIngo Schulze auf Frankfurter Buchmesse 2017terBuchmesse2017_1150x500.jpg | © Udoweier, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International

2008 erschien Adam und Evelyn, der Wenderoman von Ingo Schulze, der über den außergewöhnlichen Spätsommer des Jahres 1989 berichtet, als Ungarn die Grenze gegen Westen öffnete. 2018 wurde der Roman von Regisseur Andreas Goldstein verfilmt. In unserem Interview fragen wir Ingo Schulze, wie er von heute aus die Zäsur des Mauerfalls bewertet.
 

Adam und Evelyn ist Ihr erster Roman, der verfilmt wurde. Was verändert sich für einen Schriftsteller dadurch?

In diesem Fall ergänzen sich Buch und Film auf eine wunderbare Weise. Das Buch besteht zum Großteil aus Dialogen, der Film verwendet den Dialog sehr sparsam, er arbeitet vor allem mit Bildern. Adam ist im Film ganz anders gedeutet, weniger auf die aktuelle politische Lage bezogen, eher grundsätzlich, das gefällt mir. Ich hätte, wäre ich dazu in der Lage, einen völlig anderen Film gedreht, aber dieser Film ist ein Geschenk für mich. Sein langsamer Rhythmus überträgt sich regelrecht physisch auf die Zuschauer. Ich habe ihn jetzt ca. zehn Mal gesehen und sehe ihn immer wieder mit der größten Freude. Natürlich wünscht man sich, dass andere Bücher mit derselben Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit verfilmt werden würden.
 
Warum sind Themen wie Mauerfall und Wendezeit immer noch so wichtig? Und was ist jetzt nach 30 Jahren die Aktualität?

Was damals geschah, prägt unsere Welt bis heute. Die Jahre 1989/90 waren eine Zäsur für die Welt, nicht nur für Deutschland oder Osteuropa und die Sowjetunion. Denken Sie an China, Indien, die arabische Welt, die afrikanischen Staaten. Aber auch die Parteienlandschaft in Westeuropa und damit die Machtverhältnisse wurden völlig verändert. Im Osten hat sich alles verändert, die Veränderungen im Westen waren aber noch einflussreicher. Die Selbstverständlichkeiten haben sich verändert. Insofern würde ich sagen, fangen wir gerade erst an zu begreifen, was damals geschah.
 
Können Sie sich heute vorstellen, dass die Ost-West-Herkunft in Deutschland einmal irrelevant wird? Und wenn ja, wann?

Für mich sind die Unterschiede Ost/West nicht die entscheidenden. Der Beitritt hat viele Menschen in Ost und West regelrecht reich gemacht und den Unterschied zwischen Oben und Unten vergrößert. Die selbsterrungenen Freiheiten gingen nach dem Beitritt einher mit großer sozialer Unsicherheit. Die Angst „abzustürzen“, ist bis heute für viele bestimmend. Ost/West hat lange verdeckt, dass der Unterschied Nord/Süd gravierender ist.
 
2019 jährt sich der Mauerfall zum dreißigsten Mal. Sind Ihre Romane für Sie denn auch eine Möglichkeit, gewisse Themen aus ostdeutscher Sicht aufzuarbeiten?

Das Problem beginnt schon da, wenn von 30 Jahren Mauerfall die Rede ist. Diese Verkürzung hat sich so eingeschliffen. Der Mauerfall war ein Meilenstein der Selbstbefreiung, viele lagen davor und kamen danach. Die Fragen nach der Wirkung von Literatur beantworte ich lieber aus meiner Sicht als Leser. Insofern müssen das andere beantworten. Im Osten hat sich alles verändert, das lässt sich relativ leicht darstellen. Schwieriger ist es zu fragen, wie hat 89/90 den Westen bzw. die Welt verändert. Denn obwohl das offensichtlich ist, schaut man da nicht hin.
 
Welches Kapitel der Ost-West-Geschichte möchten Sie noch erzählen?

Zum einen wären da die vielen alternativen Entwürfe, die im Herbst 89 und Winter 90 entstanden, über die heute nicht mehr gesprochen wird. Zum anderen geht es um die Zusammenhänge der mittel- und osteuropäischen Ereignisse mit denen der Welt. Ich werde im November ein Festival leiten dürfen, dem ich den Titel gegeben habe: Einübungen ins Paradies – Fragen an die Welt nach 1989. Das ist so ein Versuch, Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt darüber erzählen zu lassen.

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