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Ausgesprochen … gesellig
Liegen, Fallen, Taumeln, Treten

Hansa-Brunnen auf dem Hansaplatz im Hamburger Stadtteil St.Georg
Dieser Platz ist „eigentlich schön“ | Foto (Detail): Georg Wendt; © picture alliance/dpa

Maximilian Buddenbohm beschreibt einen Platz in einer deutschen Stadt, auf dem sich unterschiedliche Menschen aufhalten. Warum ist dieser Platz „eigentlich schön“? Und was wird dort bald passieren?

Von Maximilian Buddenbohm

Nicht weit von meiner Wohnung gibt es einen Platz, der, so sagt man allgemein, „eigentlich schön ist.“ Für dieses verlässlich eingeschobene „eigentlich“ gibt es Gründe, die erläutere ich gleich, vorher noch eben die Illustration zum Begriff „schön“. Der Platz ist recht groß für diese Stadt und es parken keine Autos darauf, das ist selten und wird als angenehm empfunden, jedenfalls wenn man nicht gerade ein Auto abstellen möchte. Es gibt einige schattenspendende Bäume, das ist auch nicht selbstverständlich und bei Hitze erfreulich. An zwei Seiten wird dieser Platz gesäumt von attraktiven Altbauten aus der Gründerzeit, an zwei weiteren von nüchternen oder auch hässlich zu nennenden Bauten aus der Nachkriegszeit und aus den architektonisch in Deutschland seltsam geratenen Achtzigern. Zwei Seiten schön also. Immerhin, kann man da denken und in die richtige Richtung gucken. In der Mitte des Platzes steht ein großer, hoher Brunnen, er funktioniert sogar. Wasser plätschert herab, und oben darauf sieht man eine prächtige Statue der Hansa, welche die Stärke des ehemaligen Hansebundes symbolisieren soll. Ich musste das allerdings auch kurz nachlesen. Eine Göttin, nur für diese Stadt erfunden, eine Darstellung der Herrlichkeit dieser Stadt, so ist es gemeint.

Eigentlich schön

Ein schöner Platz also. Ein eigentlich schöner Platz. Weil dort meistens die Menschen stören. Auf diesem Platz halten sich nämlich etliche Menschen auf, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und es sind Menschen dabei oder vielleicht auch in der Mehrheit, die nicht allen sympathisch sind, manche sicher nicht einmal sich selbst. Man sieht dort Typen aus diversen Drogenszenen, aus der Alkoholszene auch. Man sieht dort Prostituierte beiderlei Geschlechts, und es sind mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit welche darunter, die dort nicht freiwillig stehen. Man sieht Menschen, die man verschiedenen Herkünften zuordnen kann – oder meint, es zu können – und auch das ist nicht allen sympathisch. Das ist einigen gleich verdächtig, was stehen die da so in Gruppen herum. Man sieht, wenn man lange genug zusieht, wie sich hier und da Menschen streiten, auch unter Einsatz körperlicher Kräfte. Man sieht Opfer der diversen Drogen auf dem Boden liegen, man sieht sie vielleicht verdächtiges Zeug verkaufen oder herumreichen. Man sieht Typen lungern, die in jedem Film für die Rolle der Bösen gecastet werden könnten. Man sieht, um es abzukürzen, ein Klischee nach dem anderen. Das ist die eine Seite, so kann man es fraglos dort sehen, und so sehen es auch viele. „Kriminalitätsschwerpunkt“ nennt man es in den Zeitungen und amtlichen Berichten.

Andererseits sieht man da auch Menschen, die tagsüber nicht recht wissen, wo sie sonst hingehen sollen. Oder die da nur sind, weil die anderen dort sind, die sie kennen, aus keinem anderen Grund. Dort trifft man sich eben, immer schon. Menschen, die auf den Stufen zum Brunnen sitzen, vielleicht ein Bier aus der Dose trinken, rauchen, reden und warten, worauf auch immer. Nichts daran ist schlimm. Sie warten, dass ein weiterer Tag vergeht, dass irgendwas passiert, dass es irgendwie weitergeht, dass die Jahreszeit wechselt. Am Rand des Platzes sitzen währenddessen die Gäste einiger Restaurants und Kneipen vor ausgesuchten Antipasti und dem einen oder anderen Drink zum Feierabend, der für ihr Empfinden etwas anderes ist als das Dosenbier am Brunnenrand dreißig Meter weiter. Aber darüber müsste man so lange nachdenken und herumdefinieren, das passt hier gar nicht hinein, das wäre eine größere Aufgabe.

Die Gäste sitzen da jedenfalls vor den Restaurants und Cafés und essen und trinken. Sie sehen auf die schönen Fassaden der Altbauten und auch auf den Trinker, der mit der bepissten Hose am Boden vor dem Brunnen liegt, sie denken vermutlich so etwas wie: „Eigentlich schön hier.“

In Teilen problematisch

Das Klientel gilt also in Teilen als problematisch und muss intensiv beobachtet werden, zumindest aus Sicht der Behörden, aber auch aus Sicht vieler Nachbarinnen und Nachbarn. Und auf diesem Patz, den Sie sich jetzt vielleicht vorstellen können, es gibt solche Plätze immerhin in vielen, wenn nicht in allen Städten, wird bald etwas Neues eingeführt. Dort beobachtet künftig eine Kamera mit KI-Unterstützung „atypische Bewegungsmuster“ der Menschen, die sich dort aufhalten, die also vielleicht herumlungern. Man bekommt es, ich erwähne es lieber noch einmal, nicht trennscharf hin festzustellen, wer sich dort aufhält und wer in verdächtiger Weise herumlungert. Ich gehe mehrmals am Tag über diesen Platz, das ist meine direkte Nachbarschaft. Ich halte mich dabei unweigerlich auch dort auf. Wenn ich kurz stehenbleibe, vielleicht um etwas zu notieren, bin ich einer von vielen, die unter fortwährender Beobachtung stehen.

Die neuen Kameras mit KI-Unterstützung filmen in Zukunft nicht nur unentwegt das Geschehen auf dem Platz, sie erkennen mittels ihrer Software auch besondere Verhaltensweisen, etwa „Liegen, Fallen, Taumeln, Treten, Schlagen, Schubsen, Anrempeln, auch eine aggressive oder defensive Körperhaltung“. Die Technik macht dann automatisch und anonymisiert Meldung an das nahegelegene Polizeirevier, wobei die Bilder der Menschen zu strichmännchenähnlichen Darstellungen umgewandelt werden. So heißt es in der Presse. Und dann wird von der Polizei nachgesehen, was auf dem Platz nun schon wieder los sein könnte, was die Strichmännchen oder -frauchen da treiben.

Besser also nicht zu defensiv aussehen, denke ich mir, wenn ich über diesen Platz gehe! Besser vor dem Betreten des Platzes überlegen, wie defensiv ich heute wieder drauf bin und daherkomme, nicht einfach unbedacht irgendetwas ausstrahlen. Ich frage mich, ob ich aggressive oder defensive Körperhaltungen für eine Software sauber definieren könnte, ich habe Zweifel daran. Könnten Sie das? Es ist eine Überlegung wert, und es ist auch interessant. Ich stehe auf dem Platz, ich sehe mich um. Da vorne ringen zwei miteinander, ob im Spaß oder im Ernst, ich kann es nicht sofort erkennen. Und da umarmen sich zwei stürmisch, halten Sie das mal auseinander, wenn es in Parametern ausgedrückt werden soll. Schwierig, schwierig.

Typische Bewegungsmuster

Wenn man jemandem etwas antun möchte, dann sollte man dies künftig vielleicht besser in einem „typischen Bewegungsmuster“ ausführen, damit es der Überwachungstechnik nicht gleich auffällt. Aber typisch für was eigentlich? Für Durchschnittsmenschen mit durchschnittlichen Absichten auf Durchschnittsplätzen?

Ich stelle mir vor, wie an einem eigentlich schönen Tag ein Regenschauer aufzieht, es schüttet auf einmal. Wie die Menschen dann schnell laufen, um sich irgendwo unterzustellen. Fünf Minuten später ist ein Großaufgebot an Polizei vor Ort. Erst einmal alle Personalien checken, dann weitersehen. Oder wenn die Leute bei Glatteis ins Rutschen kommen …

Und überhaupt die Sache mit dem Taumeln, sie betrifft künftig wohl zwei gleichermaßen, den einen, der in der Außengastro nach Feierabend einen Mojito zu viel getrunken hat und auch den am Brunnen, der drei Dosenbier mehr als üblich getrunken hat. Zwei Strichmännchen mit Schlagseite sind es dann einfach, zwei Meldungen laut Algorithmus.

Die Technik, so heißt es in den Zeitungsmeldungen, erkennt keine Hautfarbe oder Gesichter. Es muss sicher heißen: Sie bewertet vorerst keine Hautfarben oder Gesichter. Erkennen wird sie schon etwas können, möchte man meinen. Man weiß doch, dass das technisch geht, und dass es irgendwann schwarze und weiße Strichmännchen geben könnte, dafür braucht man nicht viel Fantasie.

Ich stelle mir vor, dass die Technik nicht billig ist. Die Hardware nicht, die Software nicht, die Anbindung an das Polizeirevier auch nicht, die Wartung und die Updates nicht. Alles wird gemacht, damit die Polizisten 500 Meter weiter in ihrem Revier etwas auf den Bildschirm bekommen. Warum sind sie nicht einfach vor Ort, warum stehen sie nicht auf dem Platz. Warum gehen sie nicht Streife, wie man es früher nannte. War es denn kein bewährtes Konzept?

Aber vermutlich frage ich mich das nur, weil ich allmählich aus der Zeit falle oder taumele.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im Wechsel Maximilian Buddenbohm und Susi Bumms. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.

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