Kriegsversehrte  Die Ukraine ist jetzt ein Zentrum für Amputationen

Olena Viters Beinprothese
Olena Viters Prothese Foto: © Anna Luhovaya

In der Ukraine mussten sich bereits über zehntausend Menschen einer Amputation unterziehen. Die Zahl der Patient*innen, die Prothesen benötigen, steigt weiter an. In der Regel können die Betroffenen selbst wählen, wo sie mit Prothesen versorgt werden wollen – in der Ukraine oder im Ausland. Wir stellen einige Menschen vor, die durch den Krieg ein Körperteil verloren haben und nun lernen, mit einer Prothese zu leben.

Ich entschied mich für den Orthopädietechniker Iwan, weil er den gleichen Namen wie mein Sohn hat.

Am 24. Februar 2022, um 16.00 Uhr befand sich Olena Viter an ihrem Arbeitsplatz in Iwankiw, 40 Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt. Ihre Schwägerin rief an und sagte, russische Panzer stünden in ihrem Garten. Olena packte zusammen, was sie konnte. Zu dritt – Olena, ihr Mann Wolodymyr und ihr 12-jähriger Sohn Iwan – fuhren sie in das Dorf Roswaschiw in der Region Kyjiw, wo früher Olenas Eltern gelebt hatten. Iwankiw wurde noch am selben Tag besetzt. In Roswaschiw blieb die Familie bis zum 14. März. Sie wollten weiterreisen: nach Malyn, dann nach Zhytomyr und von dort über Polen zu Olenas Tochter in die Türkei. Gerade als sie aufbrechen wollten schlug eine Granate in ihren Hof ein und explodierte einen Meter neben Olena. Ihr Sohn Iwan war sofort tot – ein Splitter hatte sein Herz getroffen. Olenas Mann brachte sie ins Krankenhaus in Iwankiw. Die Russen an den Kontrollpunkten ließen sie durch. Zu dem Zeitpunkt war es nicht mehr möglich, nach Kyjiw zu fahren.
 

Eine Granate schlug in ihren Hof ein und explodierte einen Meter neben Olena. Ihr Sohn Iwan war sofort tot – ein Splitter hatte sein Herz getroffen.

Im Krankenhaus im besetzten Iwankiw musste Olenas linkes Bein amputiert werden. Es hatte zunächst der Verlust beider Beine gedroht, aber das rechte Bein konnte trotz einer offenen Fraktur gerettet werden. Insgesamt hatte Olena mehr als 50 Granatsplitter in ihren Beinen. Sie blieb im Krankenhaus von Iwankiw, bis die Russen abzogen. Dann wurde sie in das Kyjiwer Regionalkrankenhaus verlegt: „Dort gibt es zwei Gebäude für Chirurgie. Unsere verwundeten Soldaten haben sogar auf den Fluren gelegen.“ In Kyjiw wurde sie zwei Monate lang behandelt. Die Prothese sollte für sie in der Ukraine angefertigt werden – im Rahmen eines staatlichen Programms für eine „Person, die im Kriegsgebiet gewohnt hat“.

Olena Viter will für eine beweglichere Prothese sparen, damit sie sich auf ihrem Hof, der an einem Hang liegt, besser bewegen kann. Olena Viter will für eine beweglichere Prothese sparen, damit sie sich auf ihrem Hof, der an einem Hang liegt, besser bewegen kann. | Foto: © Anna Luhovaya „Zuerst muss man einer Behindertengruppe zugeordnet werden“, erzählt Olena. „Dann wird ein individuelles Rehabilitationsprogramm erstellt: die Ärzte verschreiben einem eine Prothese und einen speziellen Sitz. Mit diesem Schreiben geht man zum Sozialamt am Wohnsitz. Dort wird der Antrag digital eingereicht. Organisationen, die sich mit Prothesen beschäftigen, nehmen Kontakt mit der Person auf und stellen die Prothese auf öffentliche Kosten her. Viele Vertreter dieser Organisationen haben mich angerufen. Zwei Orthopädietechniker – aus Kyjiw und aus Zhytomyr – kamen sogar zu mir. Ich entschied mich für den Orthopädietechniker Iwan, weil er den gleichen Namen wie mein Sohn hat. Er sagte, man würde meine Prothese anfertigen, sobald der Staat das Geld überweise. Wie viel das ist, weiß ich nicht. Und wie lange es dauern würde, war auch nicht bekannt. Der Chefarzt unseres Krankenhauses in Iwankiw hat mir aber dann gesagt, dass viele Menschen ins Ausland gehen, um sich Prothesen anfertigen zu lassen, und zwar vermittelt über das Gesundheitsministerium. Sie lassen Prothesen der Firma Ottobock herstellen. Die Finanzierung übernehme Deutschland, so hieß es. Ich dachte, dass es sich um eine hochwertige Prothese handeln würde, und beschloss, das in Anspruch zu nehmen. Am 18. August sind wir nach Deutschland gereist, und zwei Wochen später erhielten wir einen Anruf und erfuhren, dass man in der Ukraine bereits einen Fuß für mich angefertigt hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich einen provisorischen Fuß aus Plastik. Der war mir sofort angefertigt worden.“

Früher bin ich jeden Tag mit einer Freundin joggen gegangen. Wir waren glückliche Menschen.“

Olena Viter

In Deutschland wurde Olena in ein Krankenhaus in Bitterfeld-Wolfen eingeliefert. „Dort war alles in Ordnung, bis auf eine Sache – sie hatten es nicht eilig. Zwei Wochen lang machten sie nur Tests.“ Olena musste sechs Monate auf eine Prothese in Deutschland warten. Man sagte ihr, sie müsse warten, bis der Knochen endgültig verwachsen sei. Bis dahin musste sie im Bett bleiben. „In unserem Krankenhaus in der Ukraine hat man mir am zweiten Tag nach der Operation einen Rollator gegeben und gesagt, ich solle aufstehen und ständig üben. Aber die Deutschen sind sehr vorsichtig: das Bein fünfmal in eine Richtung bewegen, das gleiche in die andere Richtung, dann hoch und runter. Sonst keine Übungen. Erst am 22. Dezember hieß es: ‚Wir haben die Entscheidung getroffen: Sie bekommen ihre Prothese‘, und im Februar war es endlich soweit. Um ehrlich zu sein, habe ich es bereut, nach Deutschland gegangen zu sein. Ich habe viel Zeit verloren. Ich dachte, ich würde das in zwei Monaten schaffen.“

„Alle Ukrainer, die nach Deutschland kommen, beantragen zuerst eine Aufenthaltsgenehmigung“, erklärt Olenas Ehemann Wolodymyr. „Sie bekommen sofort eine Versicherung. Olena musste bis zum 22. Dezember auf die Entscheidung der Versicherung warten. Dann erhielt sie einen Brief, in dem stand, dass die Versicherung 11.000 Euro für ihre Prothese zur Verfügung stellen würde. Und erst dann haben sich die Zuständigen gemeldet, die sich damit beschäftigen.“

Die mechanische Prothese der isländischen Firma Össur musste für Olena in Deutschland dreimal geändert werden, weil sie unbequem war. „Ich habe immer noch mein Knie, also brauche ich keine bionische Prothese, um mein Bein durch Sensoren zu beugen. Die wäre schwerer. Es gibt noch aktive bionische Prothesen, aber die sind eher für Sport gedacht. Ich habe die einfachste Prothese. Prothesen unterscheiden sich voneinander durch Qualität und Funktionalität. Die durchschnittliche ‚Side by Side‘-Prothese von Össur, die wir gerne hätten, ist besser, weil der Fuß nicht nur gerade stehen, sondern auch schwenken kann, je nachdem, auf welchen Untergrund man tritt.“

Am 6. März 2023 verließ Olena Deutschland, um ihre Tochter in der Türkei zu besuchen, wo ihr auch ein Monat kostenlose Rehabilitation angeboten wurde. Erneut beschloss sie, die Prothesenhülse umgestalten zu lassen, um sie bequemer zu machen. In der Türkei tat sie dies jedoch auf eigene Kosten. „Ich kann nicht akzeptieren, dass der Krieg andauert, und kann mich nicht damit abfinden, dass mein Sohn nicht mehr lebt“, gibt sie zu. „Mein Outfit – das ist ein Kleid und Schuhe mit Absätzen. Früher ging ich jeden Tag zum Sport. Mit einer Freundin bin ich ins Stadion joggen gegangen. Wir waren glückliche Menschen. Die Gewöhnung an die Prothese ist schwierig, weil mein Knie schmerzt und mein anderes Bein anschwillt. Ich kann nicht lange stehen. Aber ich konnte schon ohne Stock zur Wohnung meiner Freundin gehen – etwa 300 Meter. In Zukunft möchte ich mir eine aktive mechanische Prothese anfertigen lassen. Ich werde arbeiten, Geld ansparen und sie bestellen. Der Staat wird das nicht tun, weil es mehr kostet. In der Türkei kann sie für etwa 8000 US-Dollar (etwa 7300 Euro) hergestellt werden. Generell braucht nicht jeder eine bionische Prothese. Das müssen die Spezialisten entscheiden. Es gibt viele Nuancen. Es kommt auf den Zustand des Beines an.“

Ich muss laufen. Man hat mir die Prothese nicht gemacht, damit ich sie in einen Schrank stelle.“

Vadym Fox

Vadym Fox kommt aus Kyjiw. Der Soldat der 53. Separaten Mechanisierten Wolodymyr-Monomach-Brigade wurde am 4. April 2023 im Dorf Tonenke in der Oblast Donezk verwundet. Sein rechter Arm und sein linkes Bein wurden amputiert. Bereits einen Monat nachdem ihm die Fäden gezogen waren, hat das Nationale Rehabilitationszentrum Unbroken ihm bereits eine Beinprothese angepasst. Im Moment trägt er eine Übungsprothese, und die endgültige Prothese soll nach einem weiteren Monat angepasst werden, wenn der Stumpf vollständig ausgebildet ist.

Vadym Fox sagte, er habe selbstständig gelernt mit der Prothese zu gehen, nachdem er sie erhalten hatte. Ohne die Hilfe von Spezialisten. Mittlerweile geht er bereits zwei Kilometer am Tag. Vadym Fox sagte, er habe selbstständig gelernt mit der Prothese zu gehen, nachdem er sie erhalten hatte. Ohne die Hilfe von Spezialisten. Mittlerweile geht er bereits zwei Kilometer am Tag. | Foto: © Serhiy Demchuk „Am 14. Juli wurde ein Abdruck des Stumpfes gemacht. Es hieß, ich solle ein oder zwei Wochen warten. Aber bereits nach vier Tagen bekam ich die Prothese. Und heute [am 21. Juli | Anm. d. Red.] bin ich schon zwei Kilometer damit gelaufen“, sagt der Soldat. „Ich muss laufen. Man hat mir die Prothese nicht gemacht, damit ich sie in einen Schrank stelle. In diesem Rehabilitationszentrum gibt es keine lange Wartezeit. Es kommt auf den Zustand des Stumpfes an. Meiner ist schnell verheilt, wie bei einem Hund. Viele Jungs warten immer noch darauf, dass es heilt. Ich plane, meinen Arm im Stetsenko-Zentrum in Kyjiw (Orthotech-Service GmbH) mit einer Prothese reparieren zu lassen. Dort wird es im Rahmen des staatlichen Programms gemacht.“

Heorhiy Raskaley, ein 21-jähriger Kämpfer der 95. Separaten Luftangriffsbrigade, wird ebenfalls im Rehabilitationszentrum Unbroken behandelt. Er wurde am 12. Mai 2023 verwundet. Sein rechter Arm musste amputiert werden. Er hatte eine schwere Kopfverletzung und ein Teil seines Körpers war gelähmt. Aber er erholte sich schnell und kann jetzt selbständig gehen. Von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends ist er bei den Reha-Therapeut*innen in Behandlung.

„Man kann sich hier 14 Tage lang kostenlos behandeln lassen. Wenn es sich um einen schwierigen Fall handelt, sind es 21 Tage“, erklärt Heorhiys Mutter Maryna. „Danach werden wir in das Reha-Zentrum in Irpin gehen, wo wir wohnen. Dann können wir wieder hierher zurückkommen. Die Rehabilitation ist hier gut. Jetzt werden wir eine Sitzung mit einem Psychologen haben. Und dann gehen wir Fußball spielen – er muss den Ball mit dem Fuß treffen und ihn ins Tor rollen lassen. Das gelingt ihm noch nicht immer. Das ist eine Übung, um die Koordination wiederherzustellen. Wir gehen ins Fitnessstudio, zur Kunsttherapie und arbeiten mit Ärzten. Morgen werden die Jungs zum Angeln gebracht, damit sie sich seelisch erholen können.“

Heorhiy Raskaley mit seiner Mutter Maryna Heorhiy Raskaley mit seiner Mutter Maryna | Foto: © Serhiy Demchuk Heorhiys Stumpf ist noch nicht reif für eine Prothese. Der junge Mann wurde bisher nicht von Spezialist*innen getestet, daher steht es noch nicht fest, ob er eine bionische Prothese braucht. „Man sagt, dass es in der Ukraine nicht einfach ist, eine bionische Prothese zu bekommen – es gibt nur sehr wenige Fachleute dafür. Der Höchstbetrag, den der Staat für die Wiederherstellung zur Verfügung stellt, beträgt 200.000 Hrywnja [Stand Mitte August 2023 knapp 5000 Euro, Anm. d. Red.]. Das ist nicht genug für eine bionische Prothese“, sagt Maryna. „Ich habe mit einem Mann gesprochen, der bereits eine bestellt hat. Er hat 2,5 Millionen Hrywnja [knapp 62.000 Euro] ausgegeben. Sein Sponsor, ein amerikanisches Unternehmen, hat ihm geholfen. Die Prothesen werden hier nicht komplett neu hergestellt. Das Zentrum erhält Komponenten aus Deutschland. Vielleicht wäre es besser, nach Deutschland zu gehen und sie dort anfertigen zu lassen. Wenn sich Heorhiy so weit erholt hat, dass er eine bionische Prothese bedienen kann, werden wir uns vielleicht nach einer Möglichkeit im Ausland umsehen.“

Phantomschmerzen sind der schwierigste Teil der Rehabilitation für Amputierte

Die Prothese wird nur dort gewartet, wo sie hergestellt wird, sagt Roksolana Shmilo, Physiotherapeutin im Zentrum Unbroken. Ihr zufolge werden die Elemente von Össur und Ottobock in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten verwendet.

Roksolana Shmilo sagt, es gebe Patient*innen, die seit Februar auf eine Prothese warten, weil ihre Stümpfe schlecht heilen. In anderen Fällen können die Prothesen hingegen fast sofort angepasst werden. Roksolana Shmilo sagt, es gebe Patient*innen, die seit Februar auf eine Prothese warten, weil ihre Stümpfe schlecht heilen. In anderen Fällen können die Prothesen hingegen fast sofort angepasst werden. | Foto: © Serhiy Demchuk „Wir nehmen keine anderen“, sagt sie. „Unsere Prothesen unterscheiden sich also nicht von denen im Ausland. Es kommt oft vor, dass Leute, die sich im Ausland um eine Prothese bewerben, länger warten müssen. Es kam sogar mal vor, dass Menschen, die ihre Prothesen hier bekamen und schon damit gehen konnten, einen Anruf aus einem anderen Land erhielten, dass ihnen eine Prothese angefertigt werden kann. Wie ein australischer Chirurg sagte, ist die Ukraine jetzt ein Zentrum für Amputationen. Leider stimmt das. Unsere Spezialisten sind geübter, denke ich, mehr als die im Ausland. Bei uns werden sowohl mechanische als auch bionische Prothesen hergestellt. Wir haben auch mechanische Knie und hydraulische Knie. Wir berücksichtigen immer Wünsche und Möglichkeiten des Patienten. Was die Arme anbetrifft, so kommt es darauf an, ob die Muskeln des Patienten in der Lage sind, den richtigen Impuls zu geben. Die Bionik hilft etwa, die Bewegung zu begleiten, aber wenn sie entladen ist, schleppt der Mensch sie wie ein Stück Holz mit sich herum. Die Mechanik aber wird einen nicht im Stich lassen. Bei uns ist alles umsonst. Wir arbeiten auf Kosten der Spender. In naher Zukunft planen wir, staatliche Aufträge zu übernehmen, damit Menschen, die Geld vom Staat erhalten haben, zu uns kommen und sich ihre Prothese anfertigen lassen können. Jeder kann zu uns kommen. Es gibt eine Warteliste. Wenn ein Platz frei wird, rufen wir an und laden die Leute ein. Meistens müssen sie dann zwei bis drei Wochen warten. Bei Prothesen für die oberen Gliedmaßen dauert es viel länger.“

Laut Roksolana ist der schwierigste Teil der Reha für Menschen mit Amputationen der Phantomschmerz, der sie manchmal sogar daran hindert, Übungen zu machen. „Manche Menschen haben auch noch Angst, ihre Hilfsmittel abzulegen“, sagt sie. „Aber wir verfolgen einen multidisziplinären Ansatz. Alle Spezialisten arbeiten gleichzeitig mit den Verletzten. Ein Psychotherapeut ist vom ersten Tag an dabei. Deshalb kann ich mich, ehrlich gesagt, an keinen einzigen Fall erinnern, in dem jemand eine tiefe Depression bekommen hätte.“
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