Jazz 2023
Kreativ, selbstorganisiert, politisch, international
Die deutsche Jazzszene wird internationaler. Gerade in der Hauptstadt mischen sich Sprachen und Stile, Off-Spaces ermöglichen Laborsituationen für Experimente und trotz prekärer Verhältnisse trotzen die Musiker*innen der Krise.
Von Maxi Broecking
Über seine Faszination für Free Jazz gab Anfang November der deutsche Künstler Daniel Richter Auskunft. Anlässlich seiner Ausstellung in London berichtete er der Financial Times, dass der Free Jazz ihm geholfen habe herauszufinden, was das Versprechen nicht-narrativer Kunst sei: „Es gab eine gewisse Radikalität darin - und ich war interessiert an Chaos, wenn eine Struktur so überladen ist, dass sie ihre Lesbarkeit verliert.“ Richter, als bekennender Jazzfan, hatte 2011 die Nachtigall-Skulptur als Preis der Deutschen Schallplattenkritik (PdSK) entworfen, die seitdem für „herausragende musikalische Leistungen“ überreicht wird. In diesem Jahr ging der nicht dotierte Ehrenpreis der PdSK an den 1932 geborenen Saxofonisten Heinz Sauer für sein Lebenswerk.
Sauer gehörte noch nicht zur Generation der „Gründerväter“ des Mitte der 1960er Jahre entstandenen deutschen Free Jazz, wie der sechs Jahre jüngere, jetzt 85-jährige Pianist Alexander von Schlippenbach sowie der in diesem Jahr verstorbene Saxofonist Peter Brötzmann, die gleichzeitig als Impulsgeber des gesamteuropäischen Free Jazz gelten. Von Schlippenbach hatte für die Berliner Jazztage 1966 das bis heute bestehende Globe Unity Orchestra gegründet, ein international besetztes Free Jazz Orchester. Wie die Gruppe agierte und von Schlippenbach mit einem Holzbrett die gesamte Klaviatur unisono bearbeitete, wie die Gleichzeitigkeit von Geräusch und Intensität die von Richter beschriebene „überladene Struktur“ zu einem physisch erlebbaren Höhepunkt führte, ist sehr gut nachzuerleben in dem in diesem Jahr auf dem Berliner Jazzfest uraufgeführten Film Tastenarbeiter, einem sensiblen Portrait von Schlippenbachs von Regisseur Tilmann Urbach. Von Schlippenbach selbst zeigte beim Eröffnungskonzert des diesjährigen Berliner Jazzfests gemeinsam mit seiner Frau, der Pianistin Aki Takase, dass er noch immer die Virtuosität und Spielfreude verkörpert, wie damals.
Tod von Peter Brötzmann
Peter Brötzmann (1941 - 2023) war nicht nur prägend für den deutschen und europäischen Free Jazz, sondern ab 1997 mit seinem Chicago Tentet auch für die Szene der Freien Improvisatoren in den USA. Er selbst hatte nach seinem ersten Auftritt beim Deutschen Jazzfestival in Frankfurt 1966 gesagt, es sei ihm nicht um eine „zaghafte Ausweitung traditioneller Gestaltungsprinzipien gegangen, sondern um deren Auflösung“. Sein Album Machine Gun von 1968, benannt nach dem Spitznamen, den Brötzmann von dem US-Trompeter Don Cherry bekommen hatte, veränderte die Jazz-Wahrnehmung grundlegend und spiegelte den politischen Aufruhr vor dem Hintergrund der Nichtaufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland, dem Vietnamkrieg und der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. 1969 gab Brötzmann dem SPIEGEL zu Protokoll, „eine brutale Gesellschaft, die Biafra und Vietnam zulässt, provoziert natürlich auch eine brutale Musik“. 1969 gründeten Brötzmann, Kowald und von Schlippenbach gemeinsam mit dem, ebenfalls in diesem Jahr verstorbenen, FMP-Mitgründer Jost Gebers das für den europäischen und internationalen Free Jazz einflussreiche Label FMP (Free Music Production). Noch bis Anfang 2023 spielte Brötzmann Konzerte, zuletzt im Februar als „Artist in Residence“ im Londoner Cafe OTO und kurz davor in einem letzten eindrucksvollen und berührenden Solokonzert im Club Manufaktur in Schorndorf. Energetisches freies Spiel und das Hinterfragen von Strukturen charakterisiert auch die Musik des 1944 in Leipzig geborenen Pianisten Joachim Kühn, der, gemeinsam mit seinem im letzten Jahr gestorbenen Bruder Rolf Kühn, mit dem Deutschen Jazzpreis 2023 für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Eine weitere Ehrung ging in diesem Jahr an den jetzt 80-jährigen Free Jazz-Posaunisten Konrad „Conny“ Bauer mit dem alle zwei Jahre von der GEMA gemeinsam mit der Deutschen Jazzunion vergebenen und mit 15.000 Euro dotierten Albert-Mangelsdorff-Preis. Dennoch komme für ihn diese Würdigung sehr spät: „Ich habe viel für den Jazz getan“, so Bauer im Gespräch mit der Autorin. Als Musiker und Teil der bekanntesten DDR-Jazzband „Zentralquartett“, aber auch organisatorisch, um in der ehemaligen DDR Konzerte zu ermöglichen. Auch jetzt, 34 Jahre nach der Maueröffnung, seien die ostdeutsche und die westdeutsche Jazzszene aus seiner Sicht noch nicht zusammengewachsen.Der Jazz in Deutschland ist noch immer patriarchal.
Die Älteren als Wegbereiter der jungen Szene würdigen, dies könnte einer der Leitsätze des Jazzjahres in Deutschland 2023 sein, auch wenn die Ehrungen in diesem Jahr ausschließlich männlichen Musikern zugutekamen. Noch immer sind die Strukturen im deutschen Jazz patriarchal, wie auch die Ende 2022 veröffentlichte Jazzstudie der Deutschen Jazzunion ergab, gerade in öffentlich-rechtlichen Institutionen. An den Musikhochschulen in Deutschland gibt es nur drei Professorinnen, in den großen Rundfunk-Bigbands so gut wie keine Instrumentalistin. Und das, obwohl es seit einigen Jahren ein wachsendes Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit gibt. Gerade in der Programmierung großer Festivals, wie dem Berliner Jazzfest oder dem Enjoy Jazz Festival. In Berlin geht die künstlerische Leiterin Nadin Deventer, die erste Frau an der Spitze des 1964 gegründeten Berliner Jazzfests, noch einen Schritt weiter. Im Interview mit der Autorin erklärt sie: „Neben Genderfragen beschäftigen mich auch Diversitätsfragen, gerade was das Verhältnis vom globalen Norden zum globalen Süden betrifft, die Infragestellung gewohnter Privilegien, das Heraustreten aus der persönlichen Komfortzone und das Hinterfragen der eigenen Verortung. Das verändert die Musik, das verändert Programme sowie die eigene Wahrnehmung und Selbstverständlichkeit. Da hat eine so große und vom Bund finanzierte Plattform wie das Jazzfest eine Verantwortung.“ Dazu hat sie auf der Festival-Homepage ein digitales Magazin mit dem Titel (Un)Learning Jazz initiiert.Für Deventer sind auch kollaborative Ansätze eine zentrale Festivalschiene. „Mir ist es sehr wichtig, die lokale Szene zu vernetzen, sei es mit eigenen Projekten oder gemeinsam mit internationalen Künstler*innen.“ So entstand in diesem Jahr die Zusammenarbeit mit dem Chicagoer Saxofonisten, Flötisten und Komponisten Henry Threadgill, dem nach Wynton Marsalis und Ornette Coleman erst dritten Träger des Pulitzer-Musikpreises aus dem Jazzbereich. Der 79-jährige Threadgill komponierte für sein eigenes Ensemble Zooid, im Zusammenspiel mit dem Ensemble Potsa Lotsa XL der in Berlin lebenden Saxofonistin Silke Eberhard, das Auftragswerk Simply Existing Surface, das beim diesjährigen Jazzfest uraufgeführt wurde. Deventer sieht die lokale Szene als kosmopolitisch und divers, mit Musiker*innen aus der ganzen Welt, die teilweise ganz oder temporär in Berlin leben und arbeiten und deren Projekte sie auf der Festivalbühne präsentiert, wie die argentinische Saxofonistin Camila Nebbia, die slowenische Pianistin Kaja Draksler oder die schwedische Trompeterin, Sängerin und Klangkünstlerin Ellen Arkbro. Selbst aus der freien Szene kommend, kennt Deventer den permanenten Überlebenskampf und die prekären Verhältnisse der Künstler*innen und plädiert im Interview mit der Autorin für ein bedingungsloses Grundeinkommen. „Ich glaube, das würde in vielerlei Hinsicht ein unglaubliches Potenzial freisetzen.“ Und Urs Johnen, Bassist und Geschäftsführer der Deutschen Jazzunion, ergänzt: „Wir müssen uns als Gesellschaft insgesamt fragen, wie es mit der Kultur weitergehen kann. Das betrifft ja nicht nur den Jazz. Durch Corona mussten viele zusätzlich ihre persönlichen Reserven verbrauchen, die Situation ist alarmierend.“
Me too im Jazz
Für SWR2-Jazzredakteurin Julia Neupert war in diesem Jahr die Me-Too-Debatte über Sexismus an deutschen Jazzhochschulen und im Veranstaltungsbereich ein wichtiges Thema, das von einem Blogeintrag der Musikerin Friede Merz angestoßen wurde. Da hätte sie sich gewünscht, dieses in größerem Rahmen zu diskutieren. Auf die Frage der Autorin, wie sie zu der geplanten Zusammenlegung der Jazzprogramme der ARD und der damit verbundenen Reduzierung der Inhalte stehe, sagte Neupert im Gespräch mit der Autorin, sie glaube nicht, dass dies ein Thema der näheren Zukunft sei und auch nicht sinnvoll. Für Rainer Kern, den künstlerischen Leiter des Enjoy Jazz Festivals, ist indes die Praxis der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, dass Künstler*innen für Konzertmitschnitte für lange Zeiträume und große geografische Räume Rechte abtreten müssten und dafür eine minimale Aufwandsentschädigung erhalten, „ein Skandal.“ Für ihn bedeute „Nachhaltigkeit“ neben der Minimierung von Emissionen auch faire Bezahlung bei Künstler*innen, aber auch bei Mitarbeiter*innen im Kulturbetrieb.Doch es gibt auch Positives zu berichten. In diesem Jahr stellte das Enjoy Jazz Festival mit dem Christian Broecking Award for Arts Education einen neuen, nach dem 2021 verstorbenen Journalisten benannten und mit 10.000 Euro dotierten Preis vor, der Forscher*- und Künstler*innen für gesellschaftliche Relevanz auszeichnet. In diesem Jahr ging der Preis an die US-Schlagzeugerin und Professorin Terri Lyne Carrington für die Arbeit ihres Instituts für Jazz und Gender-Gerechtigkeit in Boston.
Auch in diesem Jahr gab es eine Vielzahl spannender Veröffentlichungen. Darunter waren die Pianist*innen Aki Takase und Alexander von Schlippenbach mit ihrer Aufnahme Four Hands Piano Pieces, das Trio der Saxofonistin Angelika Niescier mit der Bassistin Tomeka Reid und der Schlagzeugerin Savannah Harris Beyond Dragons oder Chamber Works der Saxofonistin Silke Eberhard mit ihrem Ensemble Potsa Lotsa XL. Weitere wichtige Aufnahmen waren Velvet Revolution des Saxofonisten Daniel Erdmann und Umbra des Duos von Schlagzeuger Christian Lillinger und des Pianisten Elias Stemeseder. Posthum erschien zudem Catching Ghosts des Saxofonisten Peter Brötzmann, ein Konzertmitschnitt seines Konzerts mit Schlagzeuger Hamid Drake und dem Oud-Spieler Majid Bekkas vom Jazzfest 2022.
Diese und viele weitere in diesem Jahr erschienene Aufnahmen zeigen, dass trotz weiterhin bestehender prekärer Verhältnisse die Hingabe der Künstler*innen an den Jazz ungebrochen bleibt.