Alumni Katerina Poladjan und Tanja Ostojić im Interview
In weiter Ferne, so nah!
Residenzprogramme ermöglichen Kunst- und Kulturschaffenden, eine Zeit lang in einem anderen Land zu leben und zu arbeiten. Damit fördert das Goethe-Institut nachhaltigen internationalen Kulturaustausch – oft sogar über den Aufenthalt hinaus.
Katerina Poladjan und Tanja Ostojić waren Stipendiatinnen der Kulturakademie Tarabya und wurden über ihre Stipendiendauer hinaus durch den Alumni-Fonds unterstützt. Im Interview berichten sie von ihren Erfahrungen in Istanbul und den Projekten, an denen sie gearbeitet haben.
Tanja Ostojić, von 2009 bis 2022 haben Sie an dem Kunstprojekt „Mis(s)placed Women?“ gearbeitet. Worum geht es dabei?
„Mis(s)placed Women?“ besteht aus Performances, Workshops und einer Online-Plattform, die Beiträge von über 170 Personen aus sechs Kontinenten umfasst - Personen, die sich größtenteils als Frauen identifizieren. Die Projektteilnehmer*innen inszenieren dabei Alltagsaktivitäten rund um das Thema Vertreibung und befassen sich mit Fragen von Migration, Klimawandel, Feminismus, Queerness, Gentrifizierung, Inklusion, Zugänglichkeit, Machtverhältnisse und Verletzlichkeit, insbesondere in Bezug auf weibliche und Transgender-Körper.
Welche Rolle hat die Stadt Istanbul für Ihr Projekt gespielt?
Istanbul war ein wahrer Katalysator und eine herausfordernde Spielwiese für dieses Projekt. Gemeinsam mit der internationalen Performance-Kunst-Plattform Performistanbul und der Kulturakademie Tarabya produzierten wir ein einstündiges Video, das kollektive und individuelle Performances, Reflexionen und den Prozess des Workshops „Mis(s)placed Women?" (2021) dokumentiert. Der Istanbuler Verlauf des Projekts war geprägt von massiver Polizeipräsenz, aber auch von anerkennenden Reaktionen des Publikums auf der Straße und den neun lokalen Teilnehmer*innen, die sich auf erstaunliche Weise gegenseitig unterstützten.
Welche Performances und Workshops haben Sie in Istanbul umgesetzt?
Der Workshop „Mis(s)placed Women?” nutzte die Prinzipien der Kunst als soziale Praxis, indem Möglichkeiten für temporäre Interventionen in verschiedenen öffentlichen Räumen erforscht wurden und die Teilnehmer*innen durch ein Blockseminar ermächtigt wurden.
Ein Jahr später, im September 2022, fand im Rahmen der Retrospektive-Ausstellung des Projekts ein öffentliches Programm mit Live-Diskussionen, Performances und einem internationalen Gemeinschaftstreffen der Teilnehmer*innen aus Deutschland, Großbritannien und der Türkei im Kulturzentrum Depo und in der Innenstadt Istanbuls statt. Diese Workshop- und Performance-Reihe war geprägt von kollektiven Aktionen und Improvisationen, insbesondere aber auch von Aktionen, die in Solidarität mit den Frauen durchgeführt wurden, die die feministische Revolution im Iran anführen.
Sie waren 2021 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya. Was ist die schönste Erinnerung an Ihren Aufenthalt?
Die Erinnerungen sind noch sehr frisch und ich hoffe, dass ich bald wiederkommen kann. Wunderbare Menschen, denen ich begegnen und mit denen ich ins Gespräch kommen konnte, atemberaubende Ausblicke von dem historischen Residenzhaus in Richtung Bosporus und in den Garten, die Stadt Istanbul selbst mit all ihren Widersprüchen und Vielschichtigkeiten, Treffen und Gartenfeste, Aufführungen, großartige Arbeitsbedingungen, interessante Exkursionen und Forschungsreisen...
Wie hat der Alumni-Fonds Sie in Ihrer Arbeit unterstützt?
Mit wertvollen Kontakten zu unterschiedlichen Akteuren der Kunstszene Istanbuls und mit Unterstützung des Koproduktionsstipendiums, für das ich sehr dankbar bin, arbeitete ich an der Herausgabe der Ausstellungslektüre auf Englisch und Türkisch und an der Produktion der retrospektiven Projektausstellung mit dem Titel „Tanja Ostojić: Mis(s)placed Women? 2009-2022, A collaborative Art Project“, die im Herbst 2022 im Depo Istanbul stattfand. Die Ausstellung war eine Begleitveranstaltung der 17. Istanbul Biennale.
Mit Unterstützung des Tarabya-Zuschusses konnten wir Ausstellungsfotos drucken, die Übersetzung aller Ausstellungsvideos ins Türkische finanzieren und erfolgreich mit Depo zusammenarbeiten, das aufgrund seines herausragenden politischen Profils und seines Engagements in der Zivilgesellschaft ein idealer Veranstaltungsort für dieses feministische, sozial engagierte Projekt war.
Am Anfang meines Schreibens steht ein Gefühl, eine Idee, eine Skizze, ein Thema, ein Klang, hier ein Ort, dort die vagen Umrisse einer Figur. Ich skizziere, recherchiere, experimentiere, verwerfe. Ich wusste aber schon früh, dass ein wichtiger Teil des Romans in der Türkei spielen wird. So saß ich in der historischen Sommerresidenz des deutschen Botschafters und schrieb und wusste, dass während des Ersten Weltkrieges ein deutscher Diplomat an gleicher Stelle saß und von den Verbrechen an den Armenier*innen nach Berlin berichtete. In dem Roman geht es ja nicht nur um die Buchrestaurierung von alten armenischen Handschriften, sondern auch um den Genozid an den Armenier*innen im Jahre 1915. Es war für mich wichtig, gerade in der Türkei zu diesem Thema zu recherchieren. Ich konnte so eine emotionale Distanz aufbauen, die sehr wichtig war, damit ich von meinen eigenen Gefühlen nicht überrollt werde. In Armenien hätte ich diesen Roman nicht schreiben können.
Welche Recherchereisen konnten Sie in der Türkei unternehmen?
Ich habe zwei Reisen unternommen. Die erste Reise nach Ordu, an den Ort, wo mein Großvater geboren wurde. Der Roman spielt in Teilen dort. Ich habe in Ordu nach den „übriggebliebenen“ Armenierinnen und Armeniern gesucht, mit vielen Menschen gesprochen und die Atmosphäre des Ortes aufgesogen. Ich konnte sogar die Schule finden, die mein Großvater besucht hat.
Die zweite Reise habe ich nach Kars unternommen und an die georgische Grenze. Auch diese Erfahrungen sind in das Buch geflossen.
Ich habe bei beiden Reisen große Unterstützung erlebt. Allein hätte ich diese Reisen nicht unternehmen können. Allein schon wegen meiner sprachlichen Barriere. In Ordu war Çiğdem İkiışık, eine Programmkoordinatorin der Kulturakademie, mit dabei. Sie hat mit mir zusammen die Gespräche geführt und parallel für mich übersetzt. Ich konnte sofort alles mitschreiben und am Abend haben wir gemeinsam das Erlebte besprochen und analysiert. Das war eine große Hilfe.
Nach Kars bin ich mit dem Fotografen Erhan Arik gereist. Auch er hat für mich übersetzt. Außerdem stammt er aus dieser Grenzregion und durch ihn konnte ich das Dorf kennenlernen, das nur durch einen schmalen Fluss die Türkei und Armenien trennt. In meinem Roman spielt dieses Dorf eine entscheidende Rolle. Auch diese Reise hätte ich allein niemals unternehmen können. Es ist ein großer Unterschied, ob man als Touristin hinfährt, oder mit Menschen, die mit dem Land und der Region, in der man recherchiert, verbunden sind.
Mein Roman wäre ein anderer geworden, hätte ich diese Reisen nicht gemacht.
Die Kulturakademie Tarabya in Istanbul ist ein Residenzprogramm für Künstlerinnen und Künstler verschiedener Sparten. Sie ist eine Einrichtung der Bundesregierung und Teil der Kulturarbeit der Deutschen Botschaft in der Türkei, die kuratorische Verantwortung trägt das Goethe-Institut. Ziel ist es, einen Beitrag zum deutsch-türkischen Kulturaustausch zu leisten. Um diesen Kulturaustausch auch über die Stipendiendauer hinaus zu sichern, schreibt die Kulturakademie Tarabya seit September 2019 zwei Mal jährlich einen Alumni-Fonds zur Förderung von Projekten aus, auf den sich ehemalige Stipendiat*innen aller Sparten bewerben können.