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Zum Tod von Ruth Klüger
Die große Humanistin

Ruth Klüger (1931-2020).
Ruth Klüger (1931-2020). | Foto (Ausschnitt): © Paul Zsolnay Verlag/Margit Marnul

In der Nacht auf Dienstag (06. Oktober 2020) verstarb Ruth Klüger in Irvine, Kalifornien, im Alter von 88 Jahren. 2005 erhielt die Autorin und Literaturwissenschaftlerin die Goethe-Medaille. Ein Nachruf.

Von Wolf Iro, Abteilungsleiter Kultur des Goethe-Instituts

Man kommt kaum umhin, den Nachruf auf Ruth Klüger mit einem Hinweis auf die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz zu beginnen, in denen sie als Jugendliche von 1942 bis zu ihrer Flucht kurz vor Ende des Krieges inhaftiert war und die sie in ihrem so verstörenden wie bewegenden Buch „Weiter leben“ beschreibt. Man kommt nicht umhin, und doch fühlt es sich zugleich inadäquat und nachgerade falsch an, heißt dies doch auch, die Person Ruth Klügers zu reduzieren auf ein Opferdasein und das nachfolgende Zeugnis darüber. Nichts aber lag ihr ferner als das. Schon die jugendliche Ruth scheint dies so empfunden zu haben, als ihr, dem mit einem Judenstern gezeichneten Mädchen, jemand in der Straßenbahn in Wien eine Orange zusteckt. „Meine Gefühle waren aber gemischt, wie beim Zuckerl vom Weihnachtsbaum, und ich gefiel mir nicht in dieser Rolle. Ich wollte mich als oppositionell statt als Opfer sehen.“ Und an anderer Stelle, diesmal in dem Buch „Gelesene Wirklichkeit“, konstatiert sie mit jener analytischen Lakonie, die ihr gesamtes Werk charakterisiert: „Erinnern ist kein besonderes Verdienst, wie ja auch das Weiterleben kein besonderes Verdienst ist.“

„Erinnern ist kein besonderes Verdienst"

Wie Ruth Klüger nachweist, schützen auch weniger gewalttätige Umstände als der Nationalsozialismus nicht vor Zuschreibungen und Objektivierungen, und deren Abwehr scheint mir ein Grundimpuls ihrer Persönlichkeit insgesamt gewesen zu sein. So verteidigte die Feministin Klüger in ihrem Buch „Anwältin der Unterdrückten“ die österreichische Autorin Marie von Ebner-Eschenbach gegen das zähe Image einer moralisierenden Provinzschriftstellerin und Idyllendichterin. À propos Idylle: Es war mir nicht vergönnt, Ruth Klüger persönlich zu treffen, doch wir hatten zumindest einen faszinierenden Austausch per Mail. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass mit Ausnahme der wenigstens hier und da noch nicht vollständig vergessenen Bertha von Suttner alle, wirklich alle Verfasser berühmter Antikriegsromane – von E. M. Remarque bis Norman Mailer oder Kurt Vonnegut – männlich sind. Und dass ein spezifisch weiblicher Blick auf das Sujet womöglich weniger in der Darstellung der Grausamkeit und Absurdität von Krieg als solchem liegen könnte als darin, was bei einem Krieg alles auf dem Spiel steht. So gelesen wäre beispielsweise Astrid Lindgrens „Wir Kinder aus Bullerbü“ (das, wie in einer Nebenbemerkung einer Figur deutlich wird, zu Kriegszeiten spielt) eben keine reine Kinderidylle, sondern vielmehr ein vollwertiges Werk der Antikriegsliteratur! Nur eben auf eine andere, weibliche und deutlich menschlichere Art.

„Ich traue Deutschland und der deutschen Literatur nicht so richtig.“

2005 wurde Ruth Klüger mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. Sie nahm diese wie auch andere Auszeichnungen aus Deutschland nicht ohne Rührung, doch auch mit einer gewissen Skepsis an: „Ich traue Deutschland und der deutschen Literatur nicht so richtig.“ Zugleich hob sie 2016 in ihrer Rede vor dem Bundestag die Aufnahme syrischer Geflüchteter im Land hervor: „Das Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen.“

Wir gedenken einer großen Humanistin. Durch Wachsamkeit und entschiedenes Eintreten gegen jede Art von rechtsextremer, antisemitischer oder rassistischer Tendenz im Land bleibt es uns überlassen, ihr dauerhaft Ehre zu erweisen.

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