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„Freiraum Festival“
Freiheit unter dem Regime von Corona

Verschiedene Reflexionen, z. B. freedom of speech, opinion and art; respect towards earth, people and diversity
Reflexionen im Krisenmodus | Foto (Detail): © Goethe-Institut 2020

Der Biologe und Philosoph Andreas Weber, Teilnehmer des „Freiraum Festivals“ des Goethe-Instituts, über die Frage, wieviel Freiraum einzelne in einer Gemeinschaft haben können – unter dem Diktat des Corona-Virus.

Von Andreas Weber

Das Denken überschlägt sich, wenn die Wirklichkeit die Theorie überholt. Was eine biopolitische Krise ist, beginnen die Menschen auf der Erde erst in diesen Monaten zu ermessen, denn eine solche Krise findet gerade in Echtzeit statt. Die Fragen, die das vom Goethe-Institut organisierte „Freiraum Festival“ stellte, waren für alle Teilnehmenden ganz persönlich und konkret: Wen darf ich noch treffen? Wen besuchen? Wo mich ohne Maske zeigen? Was ist der Stand der Freiheit in Europa, jetzt, heute, unter dem Regime von Covid-19?

Das Virus als Freiheitsthema

Nicht wenige Progressive mögen die Pandemie als Störung ihrer politischen Agenda wahrnehmen. Wer sich für Gleichstellung engagierte oder für die Rettung des Klimas kämpfte, hat mit sich nun wieder verschärfenden sozialen Einschränkungen zu kämpfen. Die Aktualität der Corona-Folgen stellt alle anderen Missstände in den Schatten. Doch das Virus ist nur scheinbar eine Ablenkung von den wichtigen Themen unserer Zeit. Es ist im Gegenteil eine unvergleichliche Fokussierung unserer drängendsten Probleme.

Corona bringt das zum Sprechen, was trotz zahlloser Mobilisierungen stets stumm geblieben ist. Das Virus ist das Freiheitsthema, mit dem sich unsere Gesellschaften abquälen, aber es ist es nicht als Theorie, sondern als Geschehen in der Welt. Corona stellt die Frage, wieviel Freiraum einzelne in einer Gemeinschaft haben können und wieviel sie haben dürfen. Es stellt diese, als ein Agent des Lebens, nicht im Diskurs, sondern durch die Fakten, die es schafft. Am deutlichsten wird das, wenn wir uns vor Augen führen, dass ein schwer kranker Covid-Patient, der mit Sauerstoff am Leben gehalten werden muss, dasselbe ausdrückt wie George Floyd 2020 und Eric Garner 2014 und noch eine Reihe anderer von der US-Polizei im Würgegriff getöteter Afroamerikaner: „I can’t breathe.“

Biopolitik im Frühstücksfernsehen

Biopolitik ist unter Corona von einer Obsession weniger zum Thema des Frühstücksfernsehens geworden. Ähnlich brechen auch der Klimawandel und das restliche ökologische Desaster in die Gesellschaft ein. Die Krise ist nicht länger Unterstellung einer kritischen Minderheit, sondern ein Monster, das den Alltag umklammert. Diskurs wird unmittelbar zu einer Frage des Handelns. Der Stand der Freiheit in Europa ist eine Überlebensfrage geworden. Ob wir atmen können, ob wir – die Teilhabenden der Gesellschaft, aber letztlich alle Wesen, mit denen wir unseren Atem in einer gemeinsamen Atmosphäre teilen – genug Freiraum zum Existieren haben, ist politisches Tagesthema.

Hellsichtig hatte der einflussreiche marxistische Philosoph Franco „Bifo“ Berardi aus Bologna, der lange in Paris mit dem Deleuze-Vertrauten Félix Guattari arbeitete, schon 2019 sein neuestes Werk „Breathing“ genannt. Heute steht es als Schlüsselbegriff in einer Welt, in der Zusammenleben ganz physisch und konkret eine Frage des geteilten Atems ist. Hier liegt der Ort, wo sich – was kaum möglich scheint – der Covid-Patient Trump und seine Opfer begegnen. Und wo wir Menschen uns mit allen anderen Lebewesen, ja sogar der Atmosphäre, den Ozeanen und der Geologie treffen: Atem – der Tausch von CO2 und Sauerstoff – ist der Stoffwechselprozess, durch den alles Leben Teil aneinander hat und untrennbar voneinander abhängt.

Corona verkörpert die Krise der Gegenseitigkeit

Corona zeigt, was geschieht, wenn die Tonangebenden der Weltlebensgemeinschaft anderen Freiraum verweigern. Wir können daher sagen: Corona verkörpert die Krise der Gegenseitigkeit. Es ist aus einem Tier übergesprungen, weil Menschen den anderen Wesen, wie wir Mitspieler im gemeinsamen Atemraum der Atmosphäre, keinen Freiraum erlauben. Corona ist eine Ökokatastrophe, die aus der Ablehnung der Menschen resultiert, den nichtmenschlichen Teilhabern des Lebens zu ermöglichen, genug Luft zu bekommen, um nicht zu ersticken. „I can’t breathe“ ist schon lange der stille Schrei der Biosphäre, der sich durch Corona jetzt auf unseren Lippen artikuliert.

Es zeigt sich somit, dass die politische und die  ökologische Krise ein und dieselbe sind, nämlich der Zusammenbruch von Beziehungen. Ökologische Desaster wie Corona sind Folgen der Weigerung der Menschen, nichtmenschlichen Wesen Gleichheit zuzugestehen und sie nach den Grundsätzen der Gegenseitigkeit zu behandeln. Eine soziale Reform der Gesellschaft scheint so unmöglich ohne eine Emanzipation der Nichtmenschen zu gleichwertigen Beteiligten. Hier erfordern sowohl Politik als auch Ökologie beide eine Praxis bedingungsloser Gegenseitigkeit. Diese Gegenseitigkeit heißt nichts anderes, als uns wechselseitig das Atmen zu erlauben – in einem geteilten atmosphärischen Raum, in dem sich alle lebenden Subjekte im Stoffwechsel durchdringen.

Das Virus ist der sprichwörtliche anthropozänische Agent

Corona ist kein Ereignis, das sich einer politischen Argumentationslinie zuschlagen lässt. Es ist ein Zivilisationsthema, nämlich das der fair geführten Beziehung. Das ökopolitische Desaster zeigt die Versklavung der unsichtbaren Vielen (nämlich der gesamten nichtmenschlichen Biosphäre), welche nur so die Expansion des Humanen tragen. Diese Versklavung explodiert jetzt in einer subjektlosen Revolte der nichtmenschlichen Anderen. Das Virus ist der sprichwörtliche anthropozänische Agent – ohne Bewusstein, aber nicht ohne Handlungsraison.

Es ist bemerkenswert, dass sich dieses Gemeinschaftsthema in der unmittelbaren Reaktion vieler Menschen auf die exponentiell expandierende Seuche in den ersten Märztagen zeigte: Sie schränkten ihren Bewegungsraum ein, um sich selbst und eben auch die Gemeinschaft, das Kollektiv, zu schützen. Das Thema „Freiraum durch Gegenseitigkeit“ trat, nachdem es Menschen so lange verweigert hatten, von allein auf die Weltbühne. Und schnell wurde klar, dass sich die einen (bei der Zoom-Konferenz auf dem Sofa in ihrer Altbauwohnung) solche Großzügigkeit auch dauerhaft leisten können, andere aber um den Preis ihres Lebens nicht.

Corona zielt damit, ohne zu planen, ohne zu predigen, auf die Wiederherstellung der Gegenseitigkeit. Es zielt auf eine Korrektur des „Semio-Kapitalismus“ (Berardi), nämlich der alle Menschen beherrschenden abstrakten Semiosen, die Code, Daten, Effizienz vor das Konkrete, also vor Ausdruck, Erfahrung, Poesie und Beziehung stellen. Corona aber ist konkret, so konkret, dass es keine Worte braucht. Es rückt Beziehung ins Zentrum, die, in der ich unmittelbar stehe, die meine Existenz bedingt, die mein Leben ist. Die Seuche legt den Finger darauf, dass alles, was wir von der Welt und voneinander halten und daraus machen, darauf beruht, dass wir beziehungsfähig bleiben.

Wo ich bin, kannst du nicht sein

Der Kapitalismus ist die organisierte und systematisierte Ablehnung von Beziehung. Sein theoretischer Keim liegt in der falschen Behauptung, dass der Erfolg voraussetze, Beziehungen zu kappen, andere aus dem Felde zu schlagen. Der Freiraum des Kapitalismus ist exklusiv: Wo ich bin, kannst du nicht sein. Der Freiraum des Lebens schließt im Gegenteil dazu alle ein: Er beruht auf radikalem Teilen. Interessanterweise ergibt sich diese Lektion nicht aus unserem Denken oder unserer Moral. Sondern die Ökologie selbst erteilt sie uns, zum Akteur ermächtigt.

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