Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys
Das bleibende Geheimnis
Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys entsteht die Ausstellung „Beuys verstehen“ der Goethe-Institute Warschau und Prag. Die Kurator*innen Catherine Nichols und Eugen Blume wie auch der Tech-Entwickler Stefan Marx von Zaubar sprechen über die Bedeutung von Beuys und gewähren einen Blick hinter die Kulissen einer virtuellen Galerie.
Pünktlich zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys eröffnet die virtuelle Galerie „Beuys verstehen“. Was erwartet das Publikum dort?
Die Kuratorin Catherine Nichols gehört zu dem Kurator*innenteam von „beuys2021“.
| Foto (Ausschnitt): © Catherine Nichols
Viele Menschen empfinden den Kosmos, den Joseph Beuys in seinem Werk entstehen ließ, als ebenso faszinierend wie schwer zu durchdringen. Die virtuelle Galerie bietet daher einen zugänglichen Einstieg in diese komplexe Gedankenwelt, einen Entdeckungsrundgang im virtuellen Raum, der über die Form- und Bildsprache, über die Materialität und den Transformationswillen des Künstlers reflektiert. Sie präsentiert acht Schlüsselwerke von Beuys, darunter die Aktion „DER CHEF THE CHIEF“, die „Capri-Batterie“ und „7000 Eichen“, die jeweils einen wichtigen Aspekt des erweiterten Kunstbegriffs veranschaulichen. Dabei erkundet die Ausstellung die Zusammenhänge zwischen den Werken, die Beuys alle als Teil eines Gesamtkunstwerks verstand. Sie bindet Schlüsselzitate des Künstlers ein, die die Bedeutung von Sprache und Denken für seinen „utopischen Plan“ erfahrbar machen – und die allemal davon zeugen, dass die von Beuys ausgehenden Impulse für eine freiere, demokratischere Gesellschaft nichts an Aktualität und Brisanz verloren haben. Einen wichtigen Platz nimmt die Debatte um die Person Beuys und seinen Umgang mit Mythen ein, in die gleich zum Auftakt eingeführt wird. Die Betrachter*innen werden dazu eingeladen, sich selbst eine Meinung zur Bedeutung und Relevanz des Künstlers zu bilden.
Was reizt Sie an der Kunst von Joseph Beuys – bis heute?
Seine Grenzüberschreitung, die aus dem herkömmlichen Kunstbegriff in die Gesellschaft hinein agiert, ohne die Kunst im engeren Sinne aufzugeben.
Der Kurator Eugen Blume gehört zu dem Kurator*innenteam von „beuys2021“.
| Foto (Ausschnitt): © Eugen Blume
Seine Werke hat er als Vehikel verstanden, als Transportmittel, die etwas Geistiges bewegen und dabei den rationalen, rein verstandesmäßigen Raum überschreiten. Sein Vorschlag, von der Kunst her die Gesellschaften neu zu denken und das Offene gegen jede Form von autoritärem Führertum oder ideologische Gewissheiten zu stellen, ist ein lohnenswerter Ansatz, der anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von zahlreichen Partner*innen weltweit beleuchtet und hinterfragt wird. Es ist ein Ansatz, der zunehmend an Bedeutung zu gewinnen scheint, wenn man die Gefahr des rechten, engen und autoritären Populismus sieht, der sich auch in Europa gegen die Demokratie stellt.
Die Ausstellung trägt den Titel „Beuys verstehen“. Haben Sie seine Kunst verstanden?
Es geht nicht um das Verstehen seiner Kunst – oder von Kunst überhaupt – im herkömmlichen Sinn eines rein rationalen Begreifens der Zusammenhänge, sondern darum, einen vielschichtigen, auch emotionalen Einstieg in sein Werk zu finden, das zum Nachdenken über Trauma, Transformation, Krankheit und Heilung anregt. Beuys ging es in seinen Werken um das Rätselhafte, das Geheimnisvolle. Auf eine seiner Tafeln schrieb er den Satz „make the secrets productive“. Das bleibende Geheimnis und die Ahnung von Zusammenhängen sind unter Umständen viel ertragreicher für das Denken als die restlose Auflösung. Das von Beuys vorangebrachte bildnerische Denken, das sich auch auf physikalische Prozesse ausweitet und Modelle sozialen Handelns entwirft, bleibt offen und schließt Gegensätze ein, statt sie aufzulösen. Insofern steht das Verstehen an sich zur Diskussion.
Gerade in politischer Hinsicht wird weiterhin kontrovers über Beuys diskutiert. Was denken Sie, wäre Beuys heute Querdenker, „Fridays for Future“-Aktivist oder etwas ganz anderes?
Im guten Sinne war Beuys immer ein Querdenker, hatte aber nichts mit Verschwörungstheorien oder reaktionären Denkweisen zu tun, sondern wollte der Freiheit des Einzelnen zum Durchbruch verhelfen. Sicher würde er „#Fridays for Future“ unterstützen, denn in seiner Kunst ging es wesentlich um Monumente für die Zukunft, wie er seine „Straßenbahnhaltestelle“ 1976 in Venedig genannt hat. Dabei spielte eine Weiche die Hauptrolle. Die Weichen müssen neu gestellt werden, wenn wir als Menschheit überleben wollen. Das war seine Botschaft. Seine Kunst ist ein Hilferuf an alle, der zugleich Vorschläge unterbreitet, wie wir unter den Menschen Gemeinsamkeiten herstellen können, eine Solidarität, die uns handlungsfähig macht. Diese nannte er soziale Plastik.
Herr Marx, war es schwierig, die Kunst von Joseph Beuys ins 21. Jahrhundert und in den digitalen Raum zu versetzen?
Stefan Marx, CO-FOUNDER (CEO) bei „ZAUBAR“
| Foto (Ausschnitt): © „ZAUBAR“ / Stefan Marx
„Beuys verstehen“ ist als immersive Webtour im Browser für Desktop und Mobilgeräte sowie als Augmented-Reality-App für iOS und Android verfügbar. Damit bedienen wir uns der neuesten interaktiven Formate, haben aber sehr darauf geachtet, dass diese nicht die Kunstwerke und deren Sinn entstellen. Wir verstehen die Formate der Webtour und der Augmented-Reality-Tour als Plattform, um Joseph Beuys neuen Generationen in neuen Lebenswirklichkeiten näher zu bringen. Wir sind dabei so vorgegangen, dass wir historisches Bildmaterial der Kunstwerke und des Künstlers räumlich und gedanklich in einer virtuellen Galerie verortet haben. Im Webrundgang von „Beuys verstehen“ bewegt sich das Publikum schwebend in einer minimalistischen virtuellen Galerie durch das Schaffen und Leben von Joseph Beuys.
Haben Sie ein persönliches Lieblingskunstwerk in der virtuellen Galerie?
Mein persönliches Lieblingskunstwerk ist gleich zu Anfang zu erleben. Dabei handelt es sich eher um einen Lebensmoment Beuys’, der ganz tief in sein Schaffen und seine Hintergründe blicken lässt - und somit eine besondere Einstimmung bringt in das, was folgt. Was folgt, ist die einmalige Digitalisierung eines Ausschnitts der wohl wichtigsten deutschen Kunstwerke der letzten 100 Jahre.
Die Fragen stellten Carla Jamatte und Alexander Behrmann.