Helen und Kurt Wolff Übersetzungspreis
Der Kaspische Tiger, die Verse der Sappho
Was ist der Welt nicht alles abhandengekommen. Jackie Smith wird für ihre Übersetzung von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ mit dem Helen und Kurt Wolff Übersetzungspreis ausgezeichnet. Im Interview mit „Goethe aktuell“ spricht sie über ihre Arbeit an „An Inventory of Losses“.
Sie werden 2021 für Ihre Übersetzung von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ mit dem Helen und Kurt Wolff Übersetzungspreis ausgezeichnet. Wie sind Sie zu diesem Buch gekommen?
Jackie Smith:
Jackie Smith, Preisträgerin des Helen und Kurt Wolff Übersetzungspreises 2021.
| Foto (Ausschnitt): © Patrick Bennett
Ende 2018 lud der Lektor und Herausgeber Bill Swainson Übersetzer*innen dazu ein, Probeübersetzungen zu Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ einzureichen. Glücklicherweise wurde meine Probeübersetzung ausgewählt und ich wurde mit der Übersetzung des Buches beauftragt. Zuvor hatte ich von Judith Schalansky noch nie gehört, doch ich entdeckte bald, dass sie eine außerordentlich begabte und einfallsreiche Autorin ist, und mir wurde klar, dass die Übersetzung ihres Buches zwar anspruchsvoll, aber auch äußerst unterhaltsam und bereichernd sein würde. Das Buch war anders als alles, was ich bisher gesehen hatte. Es setzt sich aus zwölf Geschichten oder Essays zusammen, die jeweils einen Erzählfaden rund um eine Sache weben, die der Welt verloren gegangen ist: der ausgestorbene Kaspische Tiger, eine Insel, die im Meer versunken ist, ein abgerissenes Wahrzeichen der DDR, die verlorenen Liebesverse von Sappho ... Es ist ein Buch, das sich jeder Klassifizierung widersetzt und autobiografische und fiktive Elemente sowie akademische und historische Erkundungen, naturkundliche Passagen, philosophische Meditationen und mehr umfasst. Es fühlte sich fast so an, als würde ich zwölf einzelne Bücher übersetzen.
Das Buch als schönes Objekt
Jackie Smith: Nicht nur die schriftstellerische Qualität beeindruckte mich. Mir gefiel auch die Tatsache, dass das Buch ein schönes Objekt an sich ist. Judith Schalansky ist nicht nur Autorin, sondern auch Buchgestalterin und legt neben dem Inhalt viel Wert auf die Form. Die zwölf Texte sind jeweils exakt sechzehn Seiten lang und werden durch eine graue Seite voneinander getrennt, auf der ein „Sombre“ abgebildet ist: ein schattenhaftes Bild einer verlorenen Sache, die als Inspiration für die jeweilige Geschichte dient.
„An Inventory of Losses“ ist Ihre erste literarische Übersetzung. Was waren für Sie die besonderen Herausforderungen dabei?
Jackie Smith: Die größte Herausforderung war es, Judith Schalanskys wunderbar dichte, präzise und komplexe Prosa ins Englische zu übertragen. Die Sätze waren oft so vollgepackt, dass es schwer war, alles unterzubringen, doch ich wollte den Text nicht vereinfachen oder lange Sätze aufspalten, da dies den Textfluss verändern und den Leser*innen der englischen Version ein ganz anderes Leseerlebnis vermitteln würde.
Die richtige Erzählstimme für jede Geschichte
Jackie Smith: Eine weitere Herausforderung war es, die richtige Erzählstimme für jede Geschichte zu finden. Jede Geschichte hat ihren ganz eigenen Stil und Tonfall und es war mir wichtig, diesen auch im Englischen wiederzugeben. So besteht zum Beispiel eine Geschichte aus dem imaginären inneren Monolog einer mürrischen Greta Garbo, die durch die Straßen von Manhattan streift und dabei ihrer verlorenen Jugend nachtrauert. Einige der eher essayistischen Texte erforderten dann wieder einen akademischeren Erzählstil.
Eine weitere Besonderheit des Buches ist der phänomenale Umfang der sorgfältigen Recherchen, die darin eingeflossen sind. Als Übersetzerin musste ich alle möglichen Dinge recherchieren, um den Kontext besser zu verstehen und das richtige Vokabular zu treffen: von den Namen der antiken Stadttore von Rom über Blumenarten in Feuchtbiotopen bis hin zu den Kupferstechtechniken von Piranesi. Das nahm viel Zeit in Anspruch, aber ich habe dabei auch viel gelernt!
Wie sind Sie zur Übersetzungsarbeit gekommen?
Jackie Smith: Meine Eltern lehrten beide Französisch, weshalb ich in meiner Jugend oft in Frankreich war. Ich vermute, dass ich dadurch erkannt habe, dass das Erlernen einer Fremdsprache eine ganz neue, aufregende Welt eröffnen kann. Es hat mir schon immer Spaß gemacht, mit Sprache zu spielen, und nach meinem Abschluss in modernen Sprachen entschied ich mich für eine Karriere als Übersetzerin. Bei meiner ersten Stelle übersetzte ich Reparaturanleitungen für Autos! Anschließend verbrachte ich mehrere Jahre als Übersetzerin bei einer deutschen Bank, bevor ich schließlich den Schritt zur literarischen Übersetzung wagte.
Die Fragen stellten Alexander Behrmann und Carla Jamatte.