Kulturakademie Tarabya: Künstlerische Leiterinnen Pia Entenmann und Lena Alpozan im Interview
"Ein geschützter Raum für individuelle künstlerische Arbeit, Dialog und Meinungsfreiheit"
Die Kulturakademie Tarabya in Istanbul ist eine Einrichtung der Bundesregierung und Teil der Kulturarbeit der Deutschen Botschaft in der Türkei, die kuratorische Verantwortung trägt das Goethe-Institut. Die Kulturakademie ist ein Residenzprogramm für Künstler*innen aller Sparten und soll zum deutsch-türkischen kulturellen Austausch beitragen. Heute sind wir im Gespräch mit Pia Entenmann, der künstlerischen Leiterin der Kulturakademie Tarabya von 2017 bis 2023, und Lena Alpozan, der neuen künstlerischen Leiterin der Kulturakademie Tarabya.
Frau Entenmann, Frau Alpozan was genau ist die Kulturakademie Tarabya?
PE: Das Residenzprogramm am Bosporus wurde 2011 auf Initiative des Deutschen Bundestages ins Leben gerufen. Die Kulturakademie Tarabya ermöglicht jährlich rund 20 Stipendiat*innen mit Arbeits- und Lebensmittelpunkt in Deutschland sowie deutsch-türkischen Künstlertandems im Rahmen von Koproduktionsstipendien, die in Kooperation mit der Allianz Kulturstiftung vergeben werden, die Vernetzung mit der türkischen Kulturszene.
Lena Alpozan ist die neue kuratorische Leiterin der Kulturakademie Tarabya.
| Foto: Enis Yücel © Goethe-Institut Istanbul
LA: Sie ist eine deutsch-türkische Begegnungsstätte, ein geschützter Raum fernab vom Trubel der 18-Millionen-Stadt Istanbul – und zugleich ein idealer Ausgangspunkt, um dorthin aufzubrechen: zur Inspiration für die eigene künstlerische Arbeit, aber auch zu Begegnungen mit der ungemein lebendigen Kulturszene Istanbuls, die ein großes Interesse am gegenseitigen Austausch hat.
Wer kann sich für ein Residenzprogramm bewerben?
PE: Die Kulturakademie Tarabya vergibt jährlich Stipendien an Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Disziplinen für vier- bis achtmonatige Aufenthalte in Istanbul im Rahmen eines Open Call-Verfahrens. Außergewöhnlich qualifizierte Künstler*innen und Kulturschaffende, die mit ihren Werken oder Publikationen bereits öffentliche Anerkennung gefunden haben und ihren Schaffensmittelpunkt und Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben, können sich bewerben sowie Tandems von Kulturschaffenden mit Wohnsitz in Deutschland und der Türkei im Rahmen von türkisch-deutschen Koproduktionsstipendien.
Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie Künstler*innen für das Residenzprogramm aus?
LA: Eine unabhängige Jury, bestehend aus fünf fachkundigen Mitgliedern, bewertet die künstlerische Qualität der Bewerbungen. Die Jury sucht nach starken künstlerischen Stimmen, deren kreatives Anliegen zwingend erscheinen. Das ist immer eine Mischung, die von etablierten Künstler*innen bis hin zu neuen Talenten reicht.
Was zeichnet ein Stipendium an der Kulturakademie Tarabya aus?
Pia Entenmann war von 2017 bis 2023 kuratorische Leiterin der Kulturakademie Tarabya und ist nun Institutsleiterin in Mexiko.
| Foto: Enis Yücel © Goethe-Institut Istanbul
PE: Die Kulturakademie ist für ihre Stipendiat*innen nicht nur ein Ort, der zum kontemplativen künstlerischen Arbeiten einlädt, sondern ein Ort für Austausch und für Perspektivenwechsel. Dem Team der Kulturakademie ist es besonders wichtig, eine Plattform zur Vernetzung zwischen Stipendiat*innen und lokaler Szene zu sein – so bei unseren „Creative Talks“, einem Speeddating im Garten der Kulturakademie. Gleichzeitig ist es die Ergebnisoffenheit des Stipendiums, die Raum für Kreativität öffnet. Das wird an den Projekten sichtbar, ob lyrischer, tänzerischer, filmischer oder bildnerischer Art, die die Künstler*innen jährlich bei unserem Sommerfestival zeigen.
LA: Ein weiteres, fast Alleinstellungsmerkmal ist die Familienfreundlichkeit der Kulturakademie. Die Stipendiat*innen können mit ihrer Familie, Partnern und Kindern anreisen, alleinerziehende Stipendiat*innen mit minderjährigen Kindern können zusätzlich einen Antrag auf Bezuschussung der notwendigen Kinderbetreuungs- und Schulkosten stellen.
Sie schreiben zweimal jährlich einen Alumni-Fonds aus. Was ist ein Alumni-Fonds genau und welches Ziel verfolgt er?
PE: Als Kulturakademie Tarabya ist es uns sehr wichtig, dass der Kontakt mit den Stipendiat*innen nicht mit dem Ende des Stipendiums endet, sondern die Verbindung zur Türkei und zur türkischen Szene auch über die Stipendiendauern hinaus nachhaltig gesichert wird. Deswegen schreibt die Kulturakademie Tarabya seit September 2019 zwei Mal jährlich einen Alumni-Fonds zur Förderung von Projekten aus, auf den sich ehemalige Stipendiat*innen bewerben können.
Was wird vom Alumni-Fonds gefördert?
LA: Gefördert werden Folgeprojekte von Alumni, die während des Stipendiums an der Kulturakademie Tarabya entstanden sind. Darüber hinaus können auch Projekte, die nach der Stipendiumszeit entstanden sind, gefördert werden, wenn sie einen Türkei-Bezug haben. Bei der Auswahl liegt unser Augenmerk neben der inhaltlichen Qualität des Projekts und dem Innovationspotential bei Ko-Produktionsförderung besonders auf einer ausgewogenen Projektpartnerschaft mit dem türkischen Koproduktionspartner.
PE: Aktuell umfasst der Alumni-Fonds fünf Förderlinien: Die Rechercheförderung, eine Übersetzungsförderung für Autor*innen, die (Ko-)Produktionsförderung, die Förderung von digital darstellbaren Projekten und die Förderung von der Beteiligung an von türkischen Partnern initiierten Projekten.
LA: Im Hinblick auf das verheerende Erdbeben im Südosten der Türkei haben wir uns dieses Jahr entschlossen, unseren Alumni-Fonds in den nächsten Monaten gezielt und ausschließlich für Projekte zur Verfügung zu stellen, die ganz konkret mit unseren Partnern in der Südosttürkei entwickelt werden, um die kulturelle Infrastruktur wieder mitaufzubauen und betroffene Kunstschaffende und Institutionen unterstützen zu können.
Welche Projekte wurden bisher gefördert?
PE: Der 2019 ins Leben gerufene Alumni-Fonds hat bisher insgesamt 43 Projekte gefördert. Das Ausstellungsprojekt "Mis(s)placed Women?" von Tanja Ostojić ist eines der Projekte, das 2022 unterstützt vom Alumni-Fonds erfolgreich realisiert wurde. In Performances, Workshops und einer Online-Plattform werden u. a. Themen wie Vertreibung, Klimawandel, Feminismus, Inklusion und Machtverhältnisse bearbeitet. Während der Pandemie von den Künstler*innen Asli Serbset und Mona Mahall entwickelt, reagiert das interaktive, online zugängliche Modell "Digital Twin" der Botschaftsresidenz in Tarabya auf die Situation in der Isolation der Pandemie und versucht einen virtuellen Ausweg. Die Medieninstallation, gefördert durch die Linie "Digitale Projekte" des Alumni-Fonds, wurde erstmals im Rahmen der Ausstellung des gleichnamigen Festivals Studio Bosporus 2021 im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien gezeigt.
LA: Ein weiteres Beispiel des Alumni-Fonds ist das interdisziplinäre Kunstprojekt "Sandstorm – And Then There Was Dust", kuratiert von Tarabya-Alumnus Ayat Najafi und Kuratorin Sarah Maske, das zuerst in Istanbul, dann 2021 in Berlin im Rahmen des Festivals "Studio Bosporus. 10 Jahre Kulturakademie Tarabya" gezeigt wurde. Die Ausstellung untersucht mit künstlerischen und wissenschaftlichen Ansätzen die Wurzeln und Konsequenzen von Sandstürmen in der Türkei, Irak und Iran und deren Ausläufern. Im Dokumentarfilm "Die Wächterin" zeichnet Tarabya-Alumna Martina Priessner das Porträt einer syrisch-orthodoxen Nonne im Süden der Türkei. Der Film feierte 2020 auf dem DOK Leipzig seine Premiere und wurde mit dem Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts ausgezeichnet. Katerina Poladjans berührender Roman "Hier sind Löwen", nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019, wurde 2020 im Rahmen des Übersetzungsfonds des Alumni-Fonds ins Türkische übersetzt und bei Nebula Kitap veröffentlicht.
Welche Entwicklungen sehen Sie in der Zukunft für die Kulturakademie Tarabya?
PE: Die Kulturakademie ist ein geschützter Raum für individuelle künstlerische Arbeit, Dialog und Meinungsfreiheit – für Künstler*innen aus Deutschland und der Türkei gleichermaßen. Gerade in der politisch angespannten Situation und nun durch das verheerende Erdbeben im Südosten der Türkei werden diese geschützten Räume immer wichtiger.
LA: Aktuelle Entwicklungen muss die Kulturakademie aufnehmen und entsprechend ihr Profil immer wieder neu justieren. Die Suche nach Netzwerken, Zugehörigkeiten, nach globalen Themen, Geschichte und Geschichten wird auch in Zukunft das Thema der Künstler*innen aus Deutschland und der Türkei sein und somit der auch der Kulturakademie Tarabya.