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Jahrbuch-Leitartikel
Kultur und Sicherheit

Eine Gruppe von Menschen sitzt um einen gedeckten Tisch bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2024.
Unter dem Titel „A war on identity: How to build post-war society in Ukraine“ diskutierten die Gastgeber Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, und Scott McDonald, Geschäftsführer des British Council, die Rolle von Kultur und Bildung bei der Bewältigung der unmittelbaren Herausforderungen des Krieges, aber auch beim Wiederaufbau der Ukraine. An dem „Side Event“ der Münchner Sicherheitskonferenz im Bayerischen Hof nahmen Abgeordnete des Europarlaments, Vertreterinnen und Vertreter des Auswärtigen Amts und der Bundeswehr sowie ukrainische Parlamentarierinnen und Parlamentarier und Olesia Ostrovska-Liuta, Leiterin des Mystetskyi Arsenals in Kyjiw, teil. | Münchner Sicherheitskonferenz © Stephan Goerlich

Kultur und Bildung prägen das Selbstverständnis von Gesellschaften. Sie schaffen
Freiräume und können den Zusammenhalt stärken und stabilisieren. Damit kommt
ihnen in der internationalen Politik auch eine sicherheitspolitische Funktion zu.

Von Johannes Ebert

München im Februar 2024. Mit Olesia Ostrovska-Liuta, der Leiterin des ukrainischen Ausstellungskomplexes Mystetskyi Arsenal, passiere ich frühmorgens die Polizeikontrollen auf dem Weg zum Hotel Bayerischer Hof. Der erste Tag der Münchner Sicherheitskonferenz. Wir treffen Scott McDonald, den CEO des British Council. Gemeinsam organisieren wir ein Frühstück als „Side-Event“ der Konferenz. Thema: „A war on identity: How to build post-war society in Ukraine“. Scott und ich sind nervös, ob alle kommen werden zu dieser frühen Stunde. Doch pünktlich um 7.30 Uhr sind die zwanzig Gäste da: Abgeordnete des Ukrainischen und des Europäischen Parlaments, Angehörige der Münchner Sicherheitskonferenz, des Auswärtigen Amts und der Bundeswehr und Vertreterinnen und Vertreter von Unterstützungsorganisationen. Alicia Kearns, die Vorsitzende des Außenausschusses im britischen Unterhaus, moderiert. Das Thema trifft den Nerv der Zeit.

Das Goethe-Institut bei der Münchner Sicherheitskonferenz? Die Goethe-Institute haben in den vergangenen Jahren immer wieder von ihrer Erfahrung berichtet, dass sich gesellschaftliche Gräben vertiefen, dass Illiberalität zunimmt, dass neue Machtzentren entstehen, die freiheitliche Werte infrage stellen. Gleichzeitig setzen populistische Strömungen und deren politische Repräsentantinnen und Repräsentanten auf gefährliche nationalistische, man könnte auch sagen rückwärtsgewandte Abgrenzungen. In eine ganz andere Richtung wiederum zielen emanzipatorische Bewegungen, die eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und mit gewachsenen Machtstrukturen, die Diversität und Gerechtigkeit entgegenstehen, fordern – ein wichtiges Anliegen.
Unsere Arbeit ergibt sich auch aus diesen Spannungsfeldern. Goethe-Institute schaffen Frei- und Begegnungsräume, in denen Akteure der Kulturszene und der Zivilgesellschaft kreativ und ohne Zensur arbeiten und sich mit ihren deutschen und internationalen Counterparts vernetzen können. Sie bieten – so in den Projekten „New Stages South East“ oder „Geschichten vom Schwarzen Meer“ – Plattformen des Austausches, um über Gemeinsames und Trennendes zu reflektieren und Vertrauen zu fördern. Sie beschäftigen sich mit der Aufarbeitung des Kolonialismus, wie beispielsweise in dem deutsch-afrikanischen Comic-Projekt „Africomics“. Mit dem neuen panafrikanischen Deutschlehrwerk „Und jetzt WIR“ ermöglichen sie jungen Menschen eine stereotypenarme und partnerschaftliche Wahrnehmung deutsch-afrikanischer Beziehungen. Es gibt unzählige Beispiele, wie die Goethe-Institute mit diesen Themen umgehen. Aber Kultur und Bildung alsTeil von Sicherheitspolitik?
Doch ja, es ist so: Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik hat eine wichtige sicherheitspolitische Komponente. „Das Erste, was die russischen Truppen machen, wenn sie eine ukrainische Ortschaft eingenommen haben: Sie montieren das ukrainische
Ortsschild ab und ersetzen es durch ein russischsprachiges“, berichtet ein Teilnehmer in München. Es geht in diesem Angriffskrieg um Sprache, um Identität, um einen russischen Imperialismus, der einer eigenen zukunftsgerichteten ukrainischen Kultur in Europa keinen Raum lassen will. Es ist unerlässlich, dass wir die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine sichern. Es ist aber auch notwendig, die Kultur- und Bildungsszene und die Zivilgesellschaft zu unterstützen. „Kultur ist der Bereich, in dem eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis formt und ihre Zukunft projiziert. Und in diesem Sinne ist sie entscheidend für den Fortbestand dieser Gesellschaft“, sagt Olesia Ostrovska-Liuta.

Am 7. Oktober ermordet die Hamas 1.200 Menschen – Bewohnerinnen und Bewohner der Kibbuzim oder Gäste eines in der Nähe stattfindenden Musikfestivals. Ein brutaler Angriff auf Israel, der das Land im Kern erschüttert und zu einer Zäsur im Nahen Osten führt. Der Schock sitzt tief. In den Tagen danach geht es neben Empathie für die Opfer bei uns auch um konkretes Krisenmanagement: Das Goethe-Institut hat Niederlassungen in Tel Aviv, Jerusalem und Ramallah und beschäftigt drei Deutschlehrkräfte in Gaza. Die Institute werden zunächst geschlossen, sind inzwischen aber wieder aktiv. Das Auswärtige Amt unterstützt schnell und professionell. Mit seiner Hilfe können zwei der drei Mitarbeiter in Gaza in Sicherheit gebracht werden. Einer will bleiben. Das Goethe-Institut veröffentlicht eine Solidaritätsadresse für Israel, verurteilt den Angriff der Hamas und spricht sich für die Freilassung der israelischen Geiseln und den Schutz der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten aus. Als Reaktion auf den Terrorangriff ordnet die israelische Regierung eine verschärfte Blockade des Gazastreifens an. In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 2023 beginnt die Bodenoffensive im Norden des Gazastreifens, ihr sind seither über 35.000 Menschen zum Opfer gefallen. Israelische Geiseln sind weiterhin in Haft. Der Krieg fordert zu viele Opfer. Beides ist nicht akzeptabel. Das vorrangige Ziel muss sein, dass die Waffen schweigen. Und es braucht eine Zukunftsvision für Gaza, für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten.
Die kriegerische Auseinandersetzung reißt in der ganzen Welt tiefe Gräben. Deutschland steht aufgrund seiner Unterstützung für Israel, insbesondere wegen seiner Waffenlieferungen, in der Kritik und verliert – so berichten es unsere Institute – in manchen Ländern an Ansehen. Die Initiative „Strike Germany“ ruft zum Boykott deutscher Einrichtungen auf. Die südafrikanische Schriftstellerin Zukiswa Wanner und der ägyptische Künstler Mohamed Abla geben ihre Goethe-Medaillen als offizielle Ehrenzeichen der Bundesrepublik Deutschland zurück. Dass es in Deutschland Fälle gibt, in denen Intellektuelle unter dem Vorwurf des Antisemitismus ausgeladen werden, wird im Ausland genau beobachtet. Denn hier geht es um nicht weniger als die Verhandlung der Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit.

Jetzt geht es für das Goethe-Institut darum, Brücken zu bauen. Kulturdialog ist keine Schönwetterveranstaltung. Gerade wenn es so schwierig ist wie heute, müssen wir zuhören und reden und nochmals zuhören und reden. Und zwar in beide Richtungen: Im Ausland gilt es zu erklären, dass sich die besondere Solidarität Deutschlands mit Israel aus den Verbrechen des Holocaust ableitet. Dass das Existenzrecht Israels unantastbar und Antisemitismus nicht zu tolerieren ist. Und um zu betonen, dass in Deutschland Positionen, die von der offiziellen Haltung der Bundesregierung abweichen, natürlich in der offenen Debatte geäußert und vertreten werden können. Hierzulande wiederum müssen wir lernen, Meinungen anzuhören, die in unseren Ohren hart und ungewohnt klingen. „Mir ist klar geworden, wie isoliert wir mit unserer Sichtweise auf den Nahostkonflikt inzwischen sind“, sagt Navid Kermani in einem Interview im Deutschlandfunk. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels hat am Goethe- Institut Johannesburg mit dem südafrikanischen Booker-Preisträger Damon Galgut und dem Publikum über die Situation in Gaza diskutiert. Es sei eine gute und kontroverse Diskussion gewesen. Manche Sprecher hätten Positionen geäußert, die beim Stand der aktuellen Debatte in Deutschland sehr kritisch gesehen würden, berichtet Kermani. „Welches Recht hätten wir aber“, fragt er, „diese Menschen nicht zu Wort kommen zu lassen? Die Folge kann doch gar nicht sein, dass wir nicht mehr miteinander reden!“

Osteuropa und der Nahe Osten. Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie sich die globalen Rahmenbedingungen verschärft haben. Diese volatile Weltlage und die Haushaltskürzungen des Bundes erfordern Veränderungen und mutige Schritte in die Zukunft. Bereits Anfang 2022 hat das Goethe-Institut deshalb ein Transformationsprogramm eingeleitet und im Herbst 2023 – auch in Absprache mit dem Deutschen Bundestag und dem Auswärtigen Amt – ein Zukunftskonzept vorgelegt. Ziel ist es, Strukturkosten zu senken und operative Handlungsspielräume für den internationalen Kultur- und Bildungsaustausch und die Förderung der deutschen Sprache zu gewinnen.
Transformation bedeutet immer auch Neues: Noch dieses Jahr sollen ein Goethe-Institut in Eriwan in Armenien und ein Deutsch-Französisches Institut „Kultur Ensemble“ in Bischkek in Kirgisistan gegründet werden. Gleichzeitig mussten in einigen Ländern mit mehreren Goethe-Instituten, wie beispielsweise in Frankreich, Italien oder Brasilien, Häuser geschlossen werden. Ein schmerzhafter Prozess. In den kommenden Monaten sind weitere Schritte der Transformation geplant: Die regionale Gliederung der Goethe-Institute wird verändert, die Zentrale neu strukturiert und die Wirtschaftlichkeit der Sprachkurs- und Prüfungsbetriebe verbessert. All dies dient dem Ziel, trotz der finanziellen Engpässe den internationalen Kulturaustausch und die Förderung der deutschen Sprache weiterhin gehaltvoll und mit hoher Intensität zu leisten.

Wie wichtig das ist, zeigt ein erneuter Blick in die Ukraine: Im April habe ich mich auf die Reise nach Kyjiw gemacht. Wie immer bin ich beeindruckt von der Schönheit und vom Stolz dieser Stadt. In der Ukraine lernen 700.000 Schülerinnen und Schüler Deutsch. Das ist sehr viel. Ich treffe Schülerinnen und Lehrkräfte aus Kyjiw, Butscha und Mariupol. Einige sind zunächst nach Deutschland geflüchtet und jetzt wieder zurückgekehrt. Viele Väter sind im Krieg. Drei Minuten dauert es, so Rektorin Iryna Stashevska, bis die 900 Schüler bei Alarm in den Schutzräumen sind. Die Lehrerinnen sind äußerst engagiert und sehen guten Deutschunterricht, gute Bildung als ihren Beitrag zur Zukunft des Landes. Ich habe riesigen Respekt vor diesen Kindern, Frauen und Männern.

Kultur schweißt in diesen Zeiten die Gesellschaft zusammen. An den Theaterkassen stehen lange Schlangen, bestätigt Dima Bogomasow, der künstlerische Leiter des Ivan-Franko-Theaters. Im Ukrainischen Haus ist eine gut besuchte Ausstellung der Malerin Alla Horska zu sehen, die sich früh zur Ukraine bekannte und 1970 unter mysteriösen Umständen verstarb. „Die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur schafft einen unsichtbaren, aber äußerst wirksamen Schild gegen Ignoranz und russische Propaganda“, sagt Anna Novosad, die ehemalige ukrainische Bildungsministerin, die wir in Kyjiw treffen.
Im Khanenko Museum sprechen wir mit Direktorin Yulia Vaganova. Das Museum mit seiner hervorragenden Sammlung ist fast leer. Yulia erzählt von ihren Bemühungen, die Werke in Sicherheit zu bringen und mit Sonderveranstaltungen Besucherinnen und Besucher anzuziehen. Sie kommen in Scharen. Im Schewtschenko-Park beim Museum schlug zu Beginn des Krieges eine Rakete ein. Ein Überwachungsvideo zeigt die Wucht der Druckwelle, die splitternden Fenster, den Staub in den Museumsräumen.
Ob ich Angst hatte, in die Ukraine zu reisen, fragt mich morgens Yura, ein Schüler vom Lyzeum Nr. 5 in Butscha. „Ein bisschen schon“, gebe ich zu. Am Abend beim Essen mit Freunden blinkt plötzlich die Warn-App: Air Alert! Die Freunde winken ab. Das sei noch nicht gefährlich. Das Leben scheint normal, aber es gibt dieses Restrisiko, es gibt die Momente in denen Bomben fallen und Schutzräume Zuflucht bieten.

Diese Reise bestärkt mich: Nicht nur in Kyjiw, sondern auf der ganzen Welt sind Kultur und Bildung ein wichtiger Kitt, der die Gesellschaften zusammenhalten kann. Der Austausch in diesen Bereichen ermöglicht es, über Grenzen hinweg Verständigung herbeizuführen und auch zwischen kontroversen Positionen Annäherung zu schaffen. Diesen Dialog, diese Annäherung, so schwierig sie auch sein mag, brauchen wir heute mehr denn je. Dafür treten wir als Goethe-Institut mit aller Kraft ein.

Vier Personen stehen im Ukrainischen Haus, im Hintergrund ist eine Ausstellung zu sehen.

Bei seiner Reise nach Kyjiw besuchte Johannes Ebert im Ukrainischen Haus die Ausstellung „Alla Horska. Boryviter“ der Künstlerin und Menschenrechtsaktivistin Alla Horska im Beisein von Olga Vieru, Leiterin des Ukrainischen Hauses (rechts), sowie der Mitarbeiterinnen des Goethe-Instituts in der Ukraine Mariia Shubchyk (links) und Yelyzaveta Sirenko. | © Nastya Telikowa, Bernhard Ludewig

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