Collecting Europe
Auf den Straßen schwindet die Zuversicht

Die schottisch-indische Künstlerin Jasleen Kaur hat neben elf anderen Kunstschaffenden aus der Zukunft auf das heutige Europa geschaut.
Die schottisch-indische Künstlerin Jasleen Kaur hat neben elf anderen Kunstschaffenden aus der Zukunft auf das heutige Europa geschaut. | Foto: Jenny Lewis

London war immer eine weltoffene Stadt. Heute schotten mehr und mehr Briten sich ab. Von einem grenzenlosen Europa und Vielfalt wird fast nur noch im Museum geträumt.

Nanu, zwischen erlesenen Kunstgegenständen aus dem 14. Jahrhundert liegt eine junge Frau auf dem Teppich. Ein Bild, das nicht ganz zu den aufgeräumten Vitrinen und Museumswärtern im Victoria and Albert Museum passen will. Die Frau trägt Sneaker und Jogginghose, hat alle Viere von sich gestreckt und schaut mit konzentriertem Blick an die Decke des viktorianischen Prunkgebäudes.
 
In Endlosschleife flimmern dort Schnipsel aus alten Bollywood-Filmen über Jasleen Kaurs Kopf hinweg. Darunter Videos aus der Sammlung ihres Vaters, auch der Teppich stammt aus seinem Laden. Persönliche Dinge aus ihrem Elternhaus sind Kaurs Beitrag zu Collecting Europe. Einer Ausstellung, von deren Thema sie sich zunächst gar nicht recht angesprochen fühlte. Europas Gegenwart und Zukunft wird zwar derzeit rauf und runter diskutiert. Doch der Alltag einer indisch-stämmigen Schottin mit Wohnsitz in London sprengt zuweilen die Grenzen des europäischen Gedankens.
 
„Ich bin indisch, Punjabi, Schottin und Sikh“, sagt Kaur. Ihr Urgroßvater kam mit reichlich Kolonialvergangenheit im Gepäck nach Glasgow. Mit Schiebermütze und geschliffenem Akzent versuchte er sich anzupassen, fühlte sich aber nie heimisch. Kaurs Eltern zelebrieren ihr indisches Erbe heute und sind damit noch immer nicht selbstverständlicher Teil des schottischen Alltags. Sie selbst fühlt sich in Glasgow zu Hause, das sie mit ihrer Jugend verbindet, und auch in London, wo sie als Künstlerin arbeitet.
 
Europa ohne gute Currys
 
Zum politischen Europa aber hat sie wenig Bezug. Dieses Europa hat ein Weltbild geprägt, das Kaur problematisch findet: das Bild vom übermächtigen Westen und den postkolonialen Nachzüglern. Ganz bewusst spielt Kaur im V&A deshalb mit den Perspektiven auf die gemeinsame Vergangenheit. Sie zeigt Inder, die vor Alpenkulisse und unterm Big Ben tanzen und die verklärte Darstellung eines Europas, in das sich so viele sehnen. Und am Ende dreht sie den Spieß um: Durch den Bollywood-Blick wird Europa selbst zur exotischen Kulisse.
 
Ein paar Räume weiter hat der taiwanesische Künstler Tu-Wei Cheng Eiffelturm-Schlüsselanhänger und englische Custard-Keks-Formen in Ton gewalzt und freut sich über Besucher, die seine Kulturklischees entdecken. Ein Stockwerk höher gruselt sich das indische Medienkollektiv Raqs vorm „faraging, lepenning und erdoganing“-Alptraum, einer politischen Blase voller „brexit wholes“ und „grexit perforations“ und einem Europa ohne gute Currys.
 
Klopfzeichen zur jüdisch-orthodoxen Bäckerei
 

Zwischen Tonplatten, Wandteppichen und Europa versuche ich mich zu orientieren. Doch ich erinnere mich kaum. Jeder Winkel und Schaukasten scheint verschoben, seitdem ich zu Studienzeiten im V&A gearbeitet habe. Auf den Straßen ist vieles wie gehabt: Indian neben Chinese neben Lebanese, rote Busse, volle Undergrounds und Menschen, die mich an der Kasse im Supermarkt mit „Sweetheart“ begrüßen.

Und dennoch. Das London, in dem ich Ende der neunziger Jahre wohnte, schien zuversichtlicher. Zum ersten Mal saß ich damals im Bus neben anderen schwarzen Menschen, neben Muslimen, Juden und Leuten mit Cockney-Dialekt. Zum ersten Mal fragte – trotz meines deutschen Akzents – niemand, wo ich herkam. Die Nachbarn waren sich nie zu schade, mit uns Pool im Pub zu spielen. Sie verrieten uns das geheime Klopfzeichen zur jüdisch-orthodoxen Bäckerei und plauderten im Kiosk über Hanif Kureishis letztes Buch.

Unsere Studentenprivilegien hatten wenig mit ihrem Alltag zu tun, und doch kamen sie mit uns und einander aus. Denn zwischen Enoch Powell, Anti-Terror-Allianzen und dem Brexit gab es Zeiten, in denen das möglich schien. Die Welt war auch damals schon unübersichtlich. Doch vielleicht beharrten noch nicht ganz so viele darauf, stets anderen die Schuld dafür zuzuschieben.
 
Während Anti-Trump-Demonstranten mit ihren Transparenten im Finsbury Park an mir vorbeiströmen, frage ich mich, was von diesem London in Zukunft übrig bleiben wird. Diesem London, das jetzt mit Sadiq Khan gegen den populistischen Trend schwimmt, in dem Abschottungsreflexe und Parolen gegen „das Andere“ trotzdem immer lauter werden.

Kurz nach dem Brexit-Referendum wird Jasleen Kaur in London wegen ihrer Hautfarbe angepöbelt. „Ich komme aus einem ziemlich weißen schottischen Arbeiterviertel“, sagt sie, während über uns lachende Inder auf der Tower Bridge tanzen. „Da ist mir so was nie passiert.“ Auch eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts, das die Ausstellung im V&A ausrichtet, hat die Briten bislang meist freundlich erlebt. Bis ihr neulich jemand entgegenbrüllte, sie fahre auf der falschen Seite Fahrrad und solle sich – mit ihrem deutschen Akzent – am besten gleich ganz verpissen.

Aus solchen Aufzählungen lässt sich vielleicht kein verlässliches Stimmungsbild ableiten. Aber man sollte nicht ignorieren, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft sich mittlerweile vielerorts in Europa unwohl fühlen. Hinter den Sicherheitsschranken des Museums rennen die Kinder indischer Performer und italienischer Filmemacher herum, um europäische Pässe für ihre Kuscheltiere auszustellen. Künstler träumen von einer Metro zwischen Kalkutta und Köln mit Zwischenstopp in Kabul und von einem virtuellen Europa ohne Grenzen. Verspielte, naive Träumereien? Kann sein. Doch in solchen Visionen liegt nicht weniger als der Wunsch nach Alternativen zur Abschottung. Gerade Arbeiten wie die von Kaur demonstrieren doch, wie wenig die immer engeren Definitionen von Zugehörigkeit tatsächlich greifen.
 
Beten und mit Whiskey versacken

Gerne würde sie die Installation ihren Eltern zeigen, doch die verirren sich selten in die Kunstwelt der Tochter. Zur Abschlussfeier am Royal College of Art kamen sie widerwillig, freuten sich aber über den mobilen indischen Teewagen, den ihre Tochter aufgebaut und darauf Getränke nach Großmutters Rezept verteilt hatte. „Ich weiß, dass meine Eltern sich im klassischen Galeriesetting nicht wohl fühlen“, sagt Kaur. Trotzdem will sie die beiden mit ihrer Arbeit erreichen. Der Bezug zwischen Elternhaus und geografischer Heimat bestimmt ihre Kunst sehr. Die Liebe zu schottischen Cèilidh-Tänzen und zu indischen Raqs-Gesängen. Die Tatsache, dass sie dreimal täglich betet und trotzdem mit Whiskey im Pub versackt.  
 
Den Teppich aus ihrer jüngsten Installation kennt Kaur noch aus Kindertagen. Sie hat oft darauf gesessen, im Tempel. Es ist ein sogenanntes Axminster-Modell: englische Produktion mit türkischen Mustern. „Wir haben Stunden darauf verbracht, gebetet und gegessen. Unheimlich praktisch die Dinger. Weil das Kurkuma aus unseren Currys sich so perfekt mit ihren bunten Mustern mischt.“
 
Also, wenn das kein Bild für ein modernes Europa ist, dann weiß ich auch nicht.
 
Von Elisabeth Wellershaus
 
Dieser Artikel erschien am 22. Februar auf ZEIT Online.