Deutsch-Israelische Literaturtage 2018
Abschied von den Idealen der Eltern
Was ist gerecht? Der israelische Autor Yiftach Ashkenazy beobachtet den Wandel der israelischen Identität, in die er hineingeboren wurde. Er ist zu Gast bei den deutsch-israelischen Literaturtagen, die das Goethe-Institut gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet.
Viele Angehörige der Generation meiner Eltern, die immer noch von der guten unschuldigen Zeit sprachen, erreichten zunehmenden Wohlstand und hoben zu Erklärungen an, warum es logisch sei, dass es Reich und Arm gab. Vielleicht hatte ich einfach mit vielen Leuten zu tun, die in einer anderen Realität als ich aufgewachsen waren, als der Ausspruch: „Wir alle sind Israelis“ die in der israelischen Gesellschaft vorhandene Benachteiligung und Ungerechtigkeit unter den Teppich kehrte.
Bis heute besteht in Israel eine nicht zu leugnende Kluft zwischen Misrachim und Aschkenasim, zwischen alteingesessenen Einwohnern und Neueinwanderern, zwischen Juden und Arabern. Durch diese Einsichten ging ich auf Abstand zu der Identität, in die ich hineingeboren worden war. Ich begriff, dass die Ideale, an die meine Eltern glaubten, zuweilen naiv waren oder andere Male Naivität vorgaben, wodurch sie zuließen, dass vor unserer aller Augen äußerst schwerwiegende Dinge passierten.
In einer bestimmten Hinsicht widerspiegelt der von mir durchlebte Prozess, der mich zu der Identität meiner Eltern auf Abstand gehen ließ, einen tiefgreifenden Prozess, den die gesamte israelische Gesellschaft durchlebte. 1977 setzte mit der Machtergreifung der Rechten eine dramatische politische Wende ein. Von jenem Moment an begann die Elite, in die ich hineingeboren worden war, ihren Einfluss einzubüßen und die israelische, zionistische, linke und sozialistische Identität, die mich geprägt hatte, wurde zermürbt. Die Kritik, die hinsichtlich jener Identität aufkam (sie wurde von der religiösen Rechten geäußert), unterschied sich nur geringfügig von meiner, aber das Prinzip war wesensgleich. Die meisten erblickten in dieser Identität, die israelisch sein wollte, eine verlogene Sache, die viele von ihrer Tradition distanzierte und noch dazu viel Unrecht zuließ.
Eine Frage der Identität
In den letzten Jahren hat diese Entfernung von der all-israelischen, sozialistisch-zionistischen Identität ihren Höhepunkt erreicht. Viele Politiker gossen Öl ins Feuer. Premierminister Netanyahu speiste seine Macht stets daraus, dass er zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Reibung erzeugte. Diese Politiker nutzen die Wut aus, die echt und sogar gerechtfertigt ist, um einen Keil zu treiben zwischen Misrachim und Aschkenasim, Zentrum und Peripherie, Säkularen und Religiösen, Neueinwanderern und Alteingesessenen, Reichen und Armen, arabischen Einwohnern und jüdischer Mehrheit. Bedauerlicherweise ergibt sich in der israelischen Gesellschaft heutzutage nur eine gemeinsame Identität im Zuge des vereinten Hasses auf eine andere Gruppe wie die Araber oder die Arbeitsimmigranten, die aus Afrika nach Israel geflüchtet sind.In den letzten Jahren habe ich jedoch parallel zu der Kritik, die ich anbrachte, einen Prozess durchlebt, der meine Einstellung hinsichtlich der Identität, in die ich hineingeboren wurde, leicht verändert hat. Diese Kritik steht im Kontext meines letzten Buches: „Auf zur Verwirklichung.“ Es beschäftigt sich mit meinem Vater, seligen Andenkens, seinen Kameraden und dem Prozess, den sie in ihrem Leben durchliefen. Ihre Geschichte begann als die einer Gruppe idealistischer junger Leute, die in der Tat sowohl an den Zionismus als auch an politische und ökonomische Gerechtigkeit glaubten und den Prozess widerspiegelten, den das Land durchlebte.
Der Glaube an Gerechtigkeit
Würde es mir gelingen, diesen Prozess zu beschreiben, so spürte ich, würde es mir auch gelingen, ein gewisses Verständnis zu erlangen. Immerhin gehörten sie der Linken an, die gleichwohl ihren Militärdienst in den besetzten Gebieten geleistet hatte und Teil von etwas war, das über ein anderes Volk herrschte. Sie waren diejenigen, die als Sozialisten begonnen hatten, dann den Glauben daran aufgaben und Teil des kapitalistischen Spiels wurden.Die Arbeit an dem Roman setzte in mir etwas in Gang. Ich wurde mir über Folgendes klar: Obwohl ich diese Leute kritisierte, die für viele der schlechten Dinge, die sich im Land ereignet hatten, die Verantwortung trugen, liebte und schätze ich sie. Sie hatten jede Menge Fehler begangen und ihr Wertesystem entpuppte sich als durchaus problematisch, doch letztendlich enthielt ihr Glaube etwas sehr Bedeutsames. Sie glaubten, dass Israel etwas Neues und Gutes darstellen könne, glaubten an einen gerechten und moralischen Staat. Zudem glaubten sie, dass die israelische Identität die Türöffnung zu etwas Neuem und Gutem darstellen könne. Diese Einsicht führte nicht dazu, dass ich meine Kritik einstellte, aber daneben entwickelte ich eine Liebe zu der Identität, die mich geprägt hatte.
Trotz allem hatte die israelische, säkulare, sozialistische Identität, in die ich hineingeboren worden war, etwas Gutes. Unter Umständen mochte sie naiv sein, aber sie glaubte an soziale Gerechtigkeit und dass Israeli zu sein bedeutet, Teil von etwas Richtigem und Gerechtem zu sein. In diesen Tagen, in denen diese Einigkeit und der Glaube an das Gute in weiter Ferne scheint, weckt diese Identität in mir einen Anflug von Sehnsucht.
Der Text ist eine gekürzte Fassung. Erschienen ist er am 5. April 2018 in der Berliner Zeitung.