Transit Beben
Kein Duett mit David Hasselhoff
Das Endzeitstück „Beben“ von Maria Milisavljevic feiert am Goethe-Institut Porto Alegre in gleich zwei Inszenierungen Premiere. Den Anfang macht Patricia Fagundes mit ihrer Theatergruppe, darauf folgt die Version von Lucca Simas. Im Interview spricht Milisavljevic über ihr Stück, das von der Verfasstheit der Welt in unseren Tagen sowie von Migration, Krieg und Realitätsflucht handelt.
Woher kam die Inspiration für das Schreiben von „Beben“?
Die Inspirationen für meine Stücke sind meist emotional stark aufgeladene Momente oder Ereignisse. „Beben“ entstand im Sommer 2015. Es war Mittag, als ich aus dem Fenster sah und unter unserem Walnussbaum, vorn an der Straße, eine Gruppe Jugendliche sitzen sah. Ich dachte es seien Schüler und ging hinaus, um ihnen etwas zu trinken anzubieten. Als ich näher kam, sah ich, dass es Geflüchtete waren. Ein Schlepper musste sie in der Nähe abgesetzt haben und sie hatten sich verlaufen. „Policia“, sagte der eine. Der andere zeigte auf sein Handy. Die Wasserflaschen, die sie dabei hatten, waren leer und hatten ungarische Etiketten. Sie hatten seit Ungarn nicht mehr gegessen oder getrunken.
Die Proben zur Inszenierung von Lucca Simas
| Foto: Alexandre Dill
„Was die Regisseure mit meinem Text machen, ist ihre Sache.“
Sie haben „Ein Volksfeind“ von Ibsen fürs Tarragon Theater in Toronto übersetzt. In einem Interview sagten Sie, dass der Text während der Proben verschiedene Veränderungen erfahren habe. Inwieweit darf ein Übersetzer oder auch die Regisseurin in den Originaltext eingreifen?Wenn ich meine Texte selbst übersetze, greife ich sehr stark ein. Meine Texte sind oft orts- und zeitspezifisch, daher passe ich sie gern für jede Produktion an. Theaterkulturen, die im Regietheater verankert sind, wie auf dem europäischen Kontinent oder in Südamerika, nehmen die Texte lieber, wie sie sind und überlassen es den Regisseuren, den Text zu verändern. Hier bleiben die Übersetzer dann auch sehr nahe am Originaltext. Was die Regisseure dann mit meinem Text machen, ist ihre Sache. Eine Einmischung von Seiten des Dramatikers kann da viel Spannendes verhindern.
Die Inszenierungen in Porto Alegre werden die ersten sein, in denen ich „Beben“ in einer Sprache erlebe, die ich nicht spreche. Das ist spannend, weil ich mich mehr auf meine Intuition verlassen muss, Mimik und Gestik entziffern muss. Figuren und ihre Konstellationen bekommen plötzlich neue Bedeutungen, da die Dynamik sich anders erschließt. Darauf freue ich mich.
Frage der Regisseurin Patricia Fagundes: Welche Dialoge stellen Sie sich im brasilianischen Kontext vor?
„Beben“ beinhalten viele Verweise auf konkrete Alltagsmomente – Computerspiele, Süßigkeiten aus der Kindheit, Lebensumstände in der Kindheit, konkretes Weltgeschehen, wie Erdbeben, oder politische Situationen, wie etwa Reaktionen von Angela Merkel auf einen Flugzeugabsturz in der Ukraine. Dies sind alles sehr subjektive Sichten. Aus brasilianischer Sicht ist der verpackungsfreie Supermarkt am Görlitzer Park in Berlin nicht wichtig. Der Dialog würde Fragen umschließen, wie: Was sind die Narrationen, die unsere Zeit, unser Hier und Jetztvorgibt. Was sind die Sehnsüchte? Manches ist vielleicht universell, anderes wird durch die Spezifität spannender und relevanter: Nicht jeder in Brasilien wünscht sich ein Duett mit David Hasselhoff.
Eine Schauspielerin der Inszenierung von Lucca Simas | Foto: Julio Appel
„Fake und Realität sind im Virtuellen ein und dasselbe“
Frage des Regisseurs Lucca Simas: Wie sehen Sie die Beziehung zwischen dem Realen und dem Virtuellen?Beängstigend. Das Virtuelle, ist nicht nur Rückzugsraum, sondern auch ein rechtefreier, gleichmachender, willkürlicher, wahrheitsfreier Raum. Fake und Realität sind im Virtuellen ein und dasselbe. Das Individuum nimmt alles gleichwertig wahr. Eine Auslotung von ‚echt‘ und ‚wahr‘ – wie wir sie im Alltag oft durch Gefühl, Intuition oder Erfahrungswerte ausloten können – ist uns nicht mehr möglich. Wir sind lenkbar. Ausgeliefert. Steuerbar. Durch Algorithmen, die uns glauben lassen, dass wir ihnen vertrauen können, weil sie uns besser kennen als unsere Eltern oder wir uns selbst. Wieso sonst taucht diese dumme Werbung auf Facebook immer genau in dem Moment auf, in dem ich an eben dieses Produkt denke?). Ich denke auch, dass die tatsächliche Brisanz sich hier tatsächlich auf geopolitischer Ebene äußert. Nicht nur in Bezug auf Recht und Verantwortung und rechtsfreie Räume, sondern auch in Bezug auf konkrete politische Einflussnahmen). Ich hoffe, dass wir anfangen, in dieser globalen Gleichschaltung auch Chancen zu sehen. Wie bei der #MeToo-Debatte, die ihre Macht zuerst im Virtuellen finden konnte und von dort aus in die Welt getragen wurde.
Das Interview führten Michele Rolim und Renato Mendonça, mit Fragen der Regisseure Patricia Fagundes und Lucca Simas.
Das vollständige Interview erschien auf der Online-Plattform AGORA.