Writers-in-Residence in Brasilien
Und der Müllmann trank
Goethe-Institut Rio | Foto: Clarisse Neri
Mit dem Projekt Writers-in-Residence ermöglichen das Goethe-Institut, der Deutsche Literaturfonds und die Universidade Federal Fluminense deutschen Autorinnen und Autoren einen vierwöchigen Aufenthalt in Rio de Janeiro, um sich mit der Literaturszene vor Ort zu vernetzen. Exklusiv für „Goethe aktuell“ hält die Residentin Anne Weber ihre Eindrücke fest.
Von Anne Weber
Verkehrte Welt
In Brasilien ist alles verkehrt herum, der Norden ist im Süden — es wird heißer, je mehr man nach Norden kommt —, im November werden die Tage wieder länger, und wenn ich versuchen würde, Deutsch zu sprechen, käme das Verb wahrscheinlich nicht mehr am Ende, sondern am Anfang. Das erste Gefühl ist das der Überwältigung. Rio schlängelt sich wollüstig an der Küste entlang, die Skyscraper sind nicht die Finger, die den Himmel, sondern die Stadt selbst träge am Bauch kratzen. Bäume hüllen Bäume ein, legen sich um die fremde Rinde wie eine zweite Haut, spinnen sie ein. Orchideen wachsen einfach an, wo man sie hinhängt, irgendwo auf der Straße an einem Baumstamm. Die Fregattvögel brauchen die Erde nicht, sie schweben und schweben, riesige leichtgewichtige Drachen, monatelang. Unweit der Wohnung in Urca, einem ruhigen Viertel von Rio, führt ein schattiger Spazierweg von der Praia Vermelha weg, die Küste entlang. Am Wegesrand stehen, wie bei uns auf Vogel- oder sonstigen Waldpfaden, ein paar Schilder, auf denen einige der Tiere und Pflanzen aufgeführt sind, denen man hier begegnen kann. Unter anderem ist dort angegeben: die Boa constrictor. Auf dieses Schild stieß ich am zweiten Tag meines Aufenthalts. Was für ein Land! Hier, mitten in der Stadt, kaum ein paar Schritte von diesem Pfad entfernt, ist die Boa constrictor zu Hause. Später, in Belém, an der Amazonas-Mündung, beschrieb mir einer der Studierenden, die an meiner Veranstaltung an der Universität teilgenommen hatten, wie Krokodilfleisch schmeckt. Der junge Mann war groß und sah ungeheuer kraftvoll und gesund und sportlich aus, mit vielen weißen Zähnen in seinem dichten Bart. Er sagte, er sei eigentlich Journalist und habe noch ein Studium der Wirtschaftswissenschaften aufgenommen. Hier essen Journalisten Krokodil! Was für Artikel und Romane kämen dabei heraus, wenn unsere Journalisten und Schriftsteller Krokodilfleisch zu sich nähmen? Leider musste ich schon wieder abreisen, bevor ich die Gelegenheit bekam, selbst welches probieren zu können.Copacabana bei Nacht | Foto: Anne Weber
Meine persönliche Angstskala
Angst hatte ich schon. Ehrlich gesagt hatte ich sogar ziemlich große Angst vor der Abreise. Sie war geschürt worden durch Berichte von Bekannten, Websites unter anderem der Botschaft und des Institut Pasteur. Es waren hauptsächlich dreierlei Ängste, die hier ehrlicherweise in meiner persönlichen Angstskala, also in der Reihenfolge ihres Gefährlichkeitsgrades für meine Person aufgeführt sein sollen: Raubüberfälle, Moskitos (Viren aller Art + Malaria), eine vordiktatorische politische Lage. Zu den Raubüberfällen: Bis auf das, was ich selbst irgendwo vergessen habe, ist mir nichts abhandengekommen. Zu den Moskitos: Dem einen oder anderen bin ich begegnet, wurde sogar gestochen, aber anders als bei europäischen Stechmücken juckten die brasilianischen Moskitostiche noch nicht mal. Mit drei vollen Insektenspraydosen kehre ich zurück. Zu den politischen Ängsten: Am ersten Dezember 2018 zurück in Paris habe ich das seltsame Gefühl, aus einem friedlichen Land in ein Frankreich zurückzukehren, in dem bürgerkriegsartige Zustände herrschen. Natürlich entsprechen diese Eindrücke keiner zeitungsberichttauglichen Wirklichkeit. Die vielen Toten jeden Tag in Brasilien gibt es. Es gibt die politische Lage. Es gibt Dengue- und Gelbfieber. Aber was ich gesehen und erfahren habe, gibt es doch auch?Der reichste Mann Brasiliens
Im Flugzeug von Brasília nach Belém wurde als Computerspiel die brasilianische Fassung von „Wer wird Millionär?“ angeboten. Eine der Fragen war: Wer ist zurzeit (2012) der reichste Mann Brasiliens? Mögliche Antworten: Sílvio Santos, Roberto Marinho, Eike Batista und — Lula, der weit davon entfernt ist, je einer der reichsten Männer Brasiliens gewesen zu sein. Aber indem sein Name zur Wahl steht, bekommen die Menschen diesen Verdacht eingeimpft, der anderen sehr gelegen kommt.Wer wird Millionär? | Foto: Anne Weber In Salvador, in einem Viertel namens Rio Vermelho, saßen vor einer etwas abgelegenen, ruhigen Kneipe nur ein paar Stammgäste und zwei Musiker, die versuchten, Stimmung zu machen. Viele der Kunden kannten sich und redeten miteinander. Dann kam ein Müllwagen vorbei und hielt vor der Kneipe an, ein durstiger Müllmann sprang herunter. Einer der Kunden bot an, ihm ein Bier zu spendieren, aber obwohl das Einsammeln des Mülls im Vergleich zum Eiltempo der Pariser éboueurs eher langsam vonstattenging, war dafür keine Zeit. Also reichte ihm der Kunde sein eigenes volles Glas hin, und der Müllmann trank, dankte und fuhr weiter. In einem Land, in dem Derartiges möglich ist, ist noch Hoffnung erlaubt, scheint mir. In Frankreich, in Deutschland sind wir sehr stolz auf unsere demokratischen Verhältnisse, aber wer von uns hat schon einmal einen Müllmann aus seinem Glas trinken lassen? Wer hat schon einmal einer ähnlichen Szene beigewohnt? Ob es wirklich um Brasilien so viel schlechter steht als um Europa?
Mundo às avessas | Foto: Anne Weber