Ausstellung „Die Macht der Vervielfältigung“
Wir brauchen eine andere Welt
Im Zuge der Digitalisierung scheinen Prozesse der Reproduktion alltäglich geworden zu sein. Doch welche Auswirkungen haben sie auf Kunst, Politik und Gesellschaft? Dieser Frage gehen 14 brasilianische und deutsche Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung „Die Macht der Vervielfältigung“ nach, die am 28. Februar vom Präsidenten des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann in der Leipziger Baumwollspinnerei eröffnet wurde.
„Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe“. So nannte sich die 1764 gegründete Leipziger Kunsthochschule seit dem Jahr 1900. Heute heißt sie „Hochschule für Grafik und Buchkunst“. Buch und Druckgewerbe prägten die alte Handelsmetropole. Der ideale Ort also für das Projekt des Goethe-Instituts „Die Macht der Vervielfältigung“. Begonnen hatte alles in Porto Alegre. Inspiriert durch die lebendige Druckkunst-Szene mit ihren Clubs und Werkstätten in der südbrasilianischen Provinzhauptstadt, hatte das dortige Goethe-Institut einen Austausch von brasilianischen und deutschen Künstlerinnen und Künstlern zum Thema Druckgrafik initiiert. „Uns reizte, die alte Frage von Walter Benjamin nach dem Zusammenhang von Aura und Kunstwerk und die Zukunft der künstlerischen Reproduktion unter den Bedingungen der Digitalisierung neu zu diskutieren“, erklärt Marina Ludemann, Leiterin des Goethe-Instituts Porto Alegre, die Motivation hinter ihrem Langzeitprojekt.
„Die Macht der Vervielfältigung“ zeigt lebendige Druckkunst
| Foto: Walther Le Kon
Die Renaissance der Druckgrafik
„The Power of Printmaking“ hieß die erste Station des Projekts 2016. In einer Ausstellung konnten damals historische Positionen der brasilianischen Druckkunst von 1960-2015 präsentiert werden. Unter dem Titel „O Poder da Multiplicação - Die Macht der Vervielfältigung“ schloss dieser Diskurs dann zur Gegenwart auf. Im September 2018, kurz vor den brasilianischen Präsidentschaftswahlen, wurde die zweite Schau im Museo Arte do Rio Grande do Sul in Porto Alegre eröffnet. Mit der legendären „Spinnerei“, einem Kreativcluster aus alten Werkstätten und Galerien in Leipzig, war schnell die passende Location für die Präsentation in Deutschland gefunden. „In der Druckgrafik lässt sich wie in keiner anderen Kunstsparte der Einfluss der politischen Ereignisse und der sozialen Verhältnisse ablesen. Dies war in der brasilianischen Militärdiktatur so. Aber auch und gerade in der DDR“, betonte zur Eröffnung der Präsident des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann vor gut zweihundert Gästen. Aktuell erlebe die Druckgrafik sowohl bei den etablierten als auch bei den jungen Künstlerinnen und Künstlern weltweit eine Renaissance, so Lehmann weiter: „Kunstschaffende erfinden die uralte Technik neu, experimentieren mit digitalen Medien und neuen Materialien. Viele Künstler nutzen den Prozess des Druckens im weitesten Sinne, um politisch und ästhetisch neue Räume zu erschließen.“„Kunstschaffende erfinden die uralte Technik neu", so Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts | Foto: Walther Le Kon
Politisch und ästhetisch neue Räume erschließen
14 brasilianische und deutsche Künstlerinnen und Künstler hatte Gregor Jansen, Direktor der Kunsthalle Düsseldorf und Kurator der Schau, ausgewählt. Sie führen vor Augen, dass die – im Zeitalter der Digitalisierung - scheinbar altertümliche Technik nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat. Ob sie nun im klassisch aufklärerischen Sinn benutzt wird, wie der Berliner Künstler Thomas Kilpper zeigt. In seiner Arbeit „Another World is necessary“ hat er ein Panorama der brasilianischen Gewaltgeschichte mit Füßen auf eine Leinwand „gedruckt“, deren Motive er zuvor in den Parkettfußboden der brasilianischen Künstlervilla „Flores“ geschnitzt hatte. Oder ob sie im Sinne der Post-Digital-Generation angewandt wird, wie dies der Aachener Künstler Tim Berresheim tut. In seiner Arbeit „The Early Birds (Sigh) Traces“ überführt er grafische Werke in den dreidimensionalen und illusionistischen Raum, die man über eine App ansteuern kann.„The Early Birds (Sigh) Traces“ des Aachener Künstlers Tim Berresheim | Foto: Walther Le Kon
Interventionen im Stadtraum
Zur Eröffnungsschau in Leipzig erschienen war selbst Regina Silveira, die 80 Jahre alte Grande Dame der brasilianischen Gegenwartskunst. Sie kreuzt traditionelle Grafik-Techniken mit neueren, industriellen Druckverfahren wie Offset, Heliografie oder Mikrofilm, um Fragen von Licht und Schatten, Anwesenheit und Abwesenheit, Macht und Herrschaft zu thematisieren. In einem zusammen mit Wissenschaftlern der Universität des Bundesstaates Rio Grande do Sul entwickelten Computerspiel „Aura remastered“ können Interessierte sogar in die Rolle eines Straßenkünstlers schlüpfen, der mit Hilfe von Collage- und Drucktechniken Hindernisse in einem Gefahrenparcours überwindet. Wie sehr der antiautoritäre und demokratische Impuls der Druckgrafik heute noch wirkt, ließ sich in Leipzig daran ermessen, dass zwei Interventionen im Stadtraum des Künstlers Xadalu, der mit Graffiti und Wandmalerei auf das Schicksal der Guarani aufmerksam macht, kurz nach ihrer Anbringung von Ordnungshütern entfernt worden waren.Wandmalerei als städtische Intervention von Xadalu | Foto: Walther Le Kon