Zum Tod von Ágnes Heller
Eine streitbare Stimme, die fehlen wird
Ágnes Heller, die ungarische Philosophin und Soziologin, starb am vergangenen Freitag im Alter von 90 Jahren. Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, nennt die Trägerin der Goethe-Medaille 2010 „eine mutige Kämpferin für eine freiheitliche Gesellschaft“. Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, hebt hervor, dass sie bis zuletzt die Freiheit verteidigte. Ein Nachruf von Michael Zichy und Jonas Lüscher.
„Es gibt keine Demokratie ohne eine kulturelle Elite, die sich essentiell von der politischen und ökonomischen Elite unterscheidet. Damit meine ich Menschen, die respektiert werden und als Vorbild dienen, sowohl aufgrund ihrer geistigen Leistungen als auch ihres sozialen Verantwortungsbewusstseins. […] Nicht durch die Anzahl der Universitätsabschlüsse oder Massenpublikationen wird jemand Teil der kulturellen Elite, sondern durch geistiges Niveau, den Einsatz für die Menschenwürde und Verständnis“, schrieb Ágnes Heller vor wenigen Wochen in einem Beitrag für unseren transnationalen Dialog zum weltweiten Erstarken des Populismus. Ihre Bescheidenheit hätte ihr kaum erlaubt, diese Sätze auf sich zu beziehen, aber nun, da sie von uns gegangen ist, ist es ganz offensichtlich, dass sie selbst, im Leben und Denken, ein leuchtendes Beispiel war für ein Mitglied einer solchen kulturellen Elite, deren Existenz sie für das Bestehen demokratischer Gemeinschaften für vital hielt.
Unermüdlicher Einsatz für den politischen Diskurs
Ihr unbestreitbares geistiges Niveau und ihre bewegende Lebensgeschichte, die sie nicht nur in den Rang einer wichtigen Philosophin, sondern eben auch in den einer Zeitzeugin für die Gräuel und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erhoben hat, wurde in den letzten Tagen in zahllosen Nachrufen geschildert. Für uns war es aber in der persönlichen Begegnung auch immer wieder erstaunlich, wie unermüdlich sie, bis ins hohe Alter, bereit war, sich für den politischen Diskurs einzusetzen und Einladungen zu Tagungen, zu Dialogen und selbst zu politischen Interventionen bereitwillig annahm. Als wir im letzten Sommer prominente Erstunterzeichner*innen für einen Aufruf zu einem europäischen Demonstrationstag gegen Nationalismus und für ein solidarisches Europa suchten, war sie eine der Ersten, die unterschrieb. Und es ist bezeichnend, dass es mit einer Unterschrift für sie nicht getan war – persönlich setzte sie sich für das Zustandekommen einer Kundgebung in Budapest ein. Und als wir sie baten, an besagtem Diskurs zum Thema Populismus teilzunehmen, sagte sie ohne Zögern zu, schrieb, mit beinahe jugendlich anmutender Ungeduld den ersten Beitrag und bewies eine unaufhörliche Neugierde auf ihre Gesprächspartner, auf deren Argumente und Erfahrungen. Es war dieser unermüdliche Einsatz für die Menschenrechte – das hieß in ihrem Fall zuallererst den ständigen Kampf um die eigene Freiheit und die der anderen – und der Wille, verstehen zu wollen, also sowohl die Erfahrungen ihrer Gesprächspartner*innen ernst zu nehmen, wie auch eine scharfe, unbestechliche Analyse zu betreiben, die im Diskurs und in der Begegnung mit ihr so beeindruckten. Ágnes Heller wird uns fehlen, als Mensch, als Denkerin, als Dialogpartnerin, als Kämpferin für politische Rechte, als vorbildliche Exponentin einer kulturellen Elite, ohne die die Demokratie in ihrer Existenz gefährdet ist, denn - lassen wir es Ágnes Heller noch einmal in ihren eigenen Worten sagen: „Eine stabile Demokratie braucht eine kulturelle Elite mehr als das politische Establishment, denn Letzteres neigt häufig dazu, Quantität den Vorrang vor Qualität zu geben. Wenn Ideale und Rollenmodelle jedoch nur anhand der Quantität bemessen werden, degeneriert die Gesellschaft, und Demagogen und Tyrannen übernehmen die Kontrolle.“Eine mutige Kämpferin für eine freiheitliche Gesellschaft
„Ágnes Heller, die Trägerin der Goethe-Medaille 2010, war eine beeindruckende Persönlichkeit und eine mutige Kämpferin für eine freiheitliche Gesellschaft“, sagt Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts. „Leben in Freiheit war für Ágnes Heller entscheidend für das Zusammenleben der Menschen. Politik, Geschichte, Kunst und Wissenschaft waren ihre Themen. Ágnes Heller hat in ihren Büchern die Kultur Europas vermittelt als Einladung zum Dialog, voller Kreativität, politischer Weisheit, moralischer Energie und intellektueller Integrität. Ihre kritische und streitbare Stimme wird fehlen. Sie war ein Vorbild“, so Lehmann weiter.Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, betont: „Mit Ágnes Heller verlieren wir nicht allein eine der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts und eine wichtige Unterstützerin der deutsch-ungarischen Kulturbeziehungen. Bis zuletzt verteidigte sie die Freiheit, indem sie als Kritikerin von autoritären oder populistischen Systemen ihre Stimme erhob. Diese streitbare Stimme wird uns fehlen.“