Bicultural Urbanite Brianna
Palaver und Plackerei
Einmal im Jahr werde ich zur Eigentümerversammlung meines Hauses eingeladen. Genau wie ich sind viele der Teilnehmer Eigennutzer. Anders als ich sind viele von ihnen jedoch (ehemalige) Ostdeutsche über 60. Dieses jährlich wiederkehrende Ritual bietet einen interessanten Schnappschuss der Menschen, die hinter der Betonfassade unseres Plattenbaus leben, und die Gelegenheit, deutsche Mikrobürokratie in Aktion zu erleben.
Von Brianna Summers
Wir nehmen unsere Plätze um im Rechteck angeordnete Tische im Büro der Hausverwaltungsfirma ein, werfen uns schweigend prüfende Blicke zu und bereiten uns innerlich auf zwei Stunden Amtsdeutsch vor. Der Vorsitzende verliest die offizielle Begrüßung und verkündet, dass wir beschlussfähig sind. Das ist eine gute Nachricht – wir müssen den Termin nicht neu ansetzen. Dann beginnen die Abstimmungen...
Wir stimmen über die Genehmigung der Jahresabrechnung des Wirtschaftsplanes 2018 ab. Wir stimmen über die Annahme des Wirtschaftsplans für 2020 ab. Wir stimmen über die Entlastung des Verwaltungsbeirats von seinen Pflichten ab. Und wir stimmen darüber ab, genau dieselben drei Leute wieder einzusetzen. Dies scheint so etwas wie eine jährliche Tradition zu sein und erinnert mich an Miss Sophies unsterbliche Worte in Dinner for One: „The same procedure as every year, James!“
Jeder kennt das Drehbuch: Der Beirat wird offiziell entlastet, dann folgt ein Moment der Verlegenheit und der Versuche, jeden Blickkontakt mit dem Vorsitzenden zu vermeiden, der halbherzig nach potenziellen Kandidaten Ausschau hält, bevor er anregt, ob der letztjährige Beirat nicht vielleicht doch noch ein Jahr lang weitermachen möchte. Die betreffenden drei Senioren legen keinerlei sichtbaren Enthusiasmus an den Tag, beschweren sich aber auch nicht weiter. Die bisherigen Amtsinhaber werden in einem Erdrutschsieg wiedergewählt.
Dann, weitere Abstimmungen. Wir stimmen über eine von der Hausverwaltung vorgelegte Änderung der Regelung zu den Notarkosten für die Unterschriftsbeglaubigung bei Verkauf einer Wohnung ab. Augen werden glasig. Jemand hustet.
Und schon geht es weiter. Jetzt stimmen wir über Rauchmelder ab. Ein bevorstehendes Landesgesetz schreibt vor, dass in den Wohnungen aller Wohngebäude ein aufeinander abgestimmtes System von Rauchmeldern installiert werden muss. (Moment, das war bisher nicht so?) Der Vorsitzende legt drei verschiedene Kostenvoranschläge vor und plädiert für den Anbieter, den die Hausverwaltung ausgewählt hat. Ein Hostel-Besitzer, der sich mit den Brandschutzbestimmungen auskennt, meldet sich mit der Ansicht zu Wort, dass es einfachere und günstigere Alternativen gebe. Zwar stößt sein Vorschlag auf einiges Interesse, aber der Abstimmung einen vierten Kostenvoranschlag hinzuzufügen würde bedeuten, dass eine weitere Hauseigentümerversammlung abgehalten werden müsste, und das will niemand. Der Antrag wird angenommen.
So richtig losgehen tut es aber erst, als es Zeit für Sonstiges ist. Eine Frau Mitte 40 mit stacheligen lila Haaren setzt zu einer Tirade über Bohrlärm an, der sie in „unregelmäßigen Abständen“ stört. Sie ist besonders konsterniert, dass die Schuldigen die Einhaltung der Mittagsruhe missachten, was ihre Möglichkeiten für ein Mittagsschläfen einschränkt. (Die „Ruhezeit“ in unserem Gebäude untersagt laute Aktivitäten von 13 – 15 Uhr und von 22 – 7 Uhr.) In der Folge ihres metaphorischen Mic Drops gibt sich ein junges Paar als die rücksichtslosen Renovierer zu erkennen, entschuldigt sich bei der aufgebrachten Schläferin und erklärt diplomatisch, dass sie ihr Bestes tun, zu den am wenigsten nervigen Zeiten zu bohren. Diese peinliche Konfrontation ist irgendwie faszinierend, führt bei mir aber auch zu einem Anfall von Fremdschämen (Fremdschämen ist eines meiner deutschen Lieblingswörter, die es so im Englischen nicht gibt).
Aber das eigentliche heiße Thema dieses Jahres sind nicht Bohrer, sondern Hunde. Anscheinend haben skrupellose ausländische Mieter ihre riesigen Hunde unangeleint herumlaufen lassen, die dann den Hof hinter unserem Gebäude nach Lust und Laune mit ihren unansehnlichen Hundehaufen verunstaltet haben. Dies ist durch ein offizielles Schreiben, das an der gemeinschaftlichen Anschlagtafel aushängt, ausdrücklich verboten, aber wie eine besonders entrüstete Eigentümerin hervorhebt, können manche Anwohner ja nicht einmal Deutsch! Sie hatte versucht, den Besitzer eines unangeleinten Hundes zu ermahnen, und war sehr erzürnt, als dieser nur auf Englisch zu antworten in der Lage war.
„Ich glaube, es wäre eine gute Idee, das Schild auch auf Englisch anzubringen“, schlägt ein Mietglied des Verwaltungsbeirats vor.
„Oder vielleicht einfach nur Zeichen ohne Sprache, also zum Beispiel ein Bild mit einem Hundehaufen mit einer Linie durch?“ schlägt jemand anders vor.
„Ich möchte meinen Hauseingang aber nicht mit Hundehaufen-Piktogrammen voll haben“, meldet sich der Hostel-Besitzer zu Wort.
Schnell wird deutlich, dass mehrere Eigentümer diesen nicht Deutsch sprechenden Hundebesitzer durch Ritzen in ihren Vorhängen erspäht oder ihm und seinem Hund auf der Treppe begegnet sind. Die Versammlung versinkt in einem Chor aus Beschwerden und zweifelhaften Behauptungen:
„Ich glaube, er hat mindestens vier Hunde!“
„Der Hund, den ich gesehen habe, war riesig, ungefähr so groß!“
„Das geht einfach nicht, manche der älteren Frauen fühlen sich im Hinterhof einfach nicht mehr sicher.“
„Vielleicht betreibt er ja eine Art Hundesitter-Dienst?“
„Na, also das ist auf keinen Fall erlaubt.“
Die Kakophonie aus Stimmen verliert sich letztendlich, als den Teilnehmern klar wird, dass sie jetzt eigentlich ganz gerne nachhause gehen würden. In Bezug auf den Ausländer und seine Horde kolossaler Köter wird kein Beschluss verabschiedet. Vermutlich wird Hundescheiße bei der nächstjährigen Versammlung ganz oben auf der Tagesordnung stehen.