Bicultural Urbanite Luke
Er ist immer noch weit, der Himmel über Berlin
Es ist ein Dilemma so alt wie die Menschheit: Jeder möchte ein Stück vom besten Kuchen abhaben. Und je mehr sich herumspricht, wo dieser Kuchen zu finden ist, desto mehr Leute strömen natürlich dorthin, um ihn selbst mal zu probieren. Die Frage, die momentan in Berlin – seit Jahrzehnten in puncto Lebenshaltungskosten und kulturelle Dynamik einer der weltweit besten Kuchen – jedem auf der Zunge zu liegen scheint, ist, ob noch genug für alle da ist von dem süßen Zeug. Ist Berlin nach wie vor eine zukunftsfähige, günstige Option für Leute mit Hang zum Kreativen?
Von Luke Troynar
Für die in Großbritannien geborene Musikerin und Interpretin Milly James, die zwanzig Jahre lang in Western Australia gelebt hat, fällt die Antwort klar positiv aus: Berlin ist und bleibt ein kreativer Nährboden und nach wie vor einer der attraktivsten Orte für künstlerische Jobs. Trotz des sich wandelnden Gesichts der Stadt sind Milly und ihr Partner Patrick zwei hart arbeitende Kreative, die immer noch hoch hinauswollen in den Himmel über der deutschen Hauptstadt.
Es ist kein großes Geheimnis: Berlin durchläuft derzeit eine Periode rasanter Gentrifizierung. Die Wirtschaft boomt. Und indem die Berliner Startup-Szene aufblüht, neues Geld hereinkommt und weitere Tech-Arbeitsplätze entstehen, steigen Mieten und Lebenshaltungskosten immer schneller. Einer Studie des Online-Immobilienportals immowelt.de zufolge haben sich die Mietpreise in Berlin seit 2008 verdoppelt; und selbst in den letzten zwei Jahren, seit ich angefangen habe, für dieses Dossier zu schreiben, ist in der ganzen Stadt eine deutliche Verschiebung zu spüren.
Die vielfach prophezeite Ankunft eines unternehmerischen Kerns in Berlin hat einen Gang höher geschaltet. In der Folge fragt sich so mancher, wie schlimm die Kollateralschäden beim wirtschaftlichen und kulturellen Urgestein der Stadt sein werden – denjenigen, die konsequent dafür gesorgt haben, dass Berlin KünstlerInnen und Studierenden aller Art ein nachhaltiges und attraktives Zuhause bot.
Interessanterweise findet es Milly diesmal, bei ihrem zweiten Berlin-Aufenthalt, einfacher, künstlerische Jobs zu bekommen als 2014, als sie zum erste Mal nach Berlin ging – einer Zeit, in der sie sich in „allen möglichen Kundenbetreuungs-Jobs in Startups“ wiederfand statt bei ihrer geliebten Arbeit in Museen, Galerien und Theatern. „Ich bin froh, dass ich dieses Mal etwas mit künstlerischem Bezug machen kann“, erklärt sie. „Ich gebe Führungen in zeitgenössischen Museen und arbeite zudem als Kleindarstellerin und Statistin für Film und Fernsehen.“
In der Tat fühlen sich Milly und ihr Partner Patrick Nadoll, ein Berliner DJ mit dem Spitznamen Raw Sugar, auch weiterhin in eine inspirierende und solidarische Szene Gleichgesinnter eingebettet und hegen keinerlei Pläne, ihre Berliner Zelte in näherer Zukunft abzubrechen. Zusammen kreieren Milly und Patrick eine unverwechselbare Sorte Future Soul, und Patrick leitet ein Indie-Label namens Love Sexy Records, bei dem er mit verschiedenen DJs und Produzenten in der ganzen Stadt zusammenarbeitet. „Es gibt in dieser Stadt so viele kreative Leute aus so vielen unterschiedlichen Sparten“, findet Milly. „Und wir sind schon an so vielen Orten in Berlin aufgetreten, wo unsere Musik einen Platz hat und akzeptiert wird.“
Milly kontrastiert diese Art positiver Resonanz und kreativer Freiheit mit ihrer Zeit in Nürnberg – wo sie es nur „unter massivem Protest“ aushielt. Sie beharrt felsenfest darauf, dass sich Nürnberg im Gegensatz zu Berlin klein und konservativ anfühlte und „sehr wenig von Berlins Diversität und kreativer Kultur“ zur Schau stellte, Dinge, die sie schätzen gelernt hat und von denen sie überzeugt ist, dass sie hier nach wie vor weit verbreitet sind. „Ich sehe Fortschritte bei meinen Projekten, ich fühle mich inspiriert, dranzubleiben und mehr zu machen, ich schreibe sogar eine Webserie, die hier spielt und von meiner Zeit in Berlin inspiriert wurde.“
Millys Einstellung ist ein erfrischendes Gegengift zu der eskalierenden Metastory, Berlin sei ‚over‘. Die Musikerin erinnert sich, dass „kreative Höhenflüge“ ihr ursprüngliches Motiv für den Wechsel nach Berlin waren. Fünf Jahre später ist sie sicher, dass ihre Entscheidung richtig war. „Ich habe mir immer gesagt, dass ich mir hier die Zeit nehmen möchte, meine Kreativität ernst zu nehmen und mich auf sie zu konzentrieren, selbst wenn das finanzielle Schwierigkeiten zur Folge hat … Wenn ich nicht hierhergekommen wäre, hätte ich mir diese Pause, um mich auf meine eigentlichen Ziele zu konzentrieren, womöglich nicht gegönnt.“
Auch wenn sie häufig die „Unkompliziertheit“ der Australier in Perth vermisst und regelmäßige Anflüge von Nostalgie für „die urbritische Wesensart“ verspürt, ist Milly überzeugt, dass Berlin immer noch genau das Richtige für ihre musikalischen Bestrebungen ist – und für weitere Höhenflüge in den Himmel über Berlin. Zugegeben, Berlin mag weit von dem entfernt sein, was es vor zehn Jahren war, und die globale Immobilienkrise zu spüren bekommen, aber es gibt weltweit nach wie vor nur sehr wenige Städte, die Leuten, die versuchen, ihr eigenes Ding zu machen, einen vergleichbaren Lebensstandard bieten. Für Milly hat die Stadt etwas ganz Besonderes, das ihr schon bei ihrem ersten Berlinurlaub das starke Gefühl gab, hier aufgehoben zu sein. Dieses Gefühl ist nach wie vor sehr lebendig und macht die Stadt für sie zumindest für jetzt zu einer echten Heimat.