Gastbloggerin Claudia
Deutsch lernen und Mary Poppins: Eine Ode an das Berliner Auswandererleben
Es ist 18 Uhr an einem Donnerstag und ich bin rasend. Ich wurde gerade kontrolliert und habe einen Strafzettel bekommen, weil ich (angeblich) ohne Ticket U-Bahn gefahren bin. Ich bin so richtig sauer denn eigentlich hatte ich ein Ticket gehabt, konnte nur nicht darauf zugreifen. Mein langwieriger Protest auf Deutsch (Level A2-B1) wurde mit Unverständnis honoriert.
Es ist also Zeit, in der großen Stadt, nach Hause zu gehen. „Deutsche und ihre Regeln“ könnte hier eine gute Überschrift sein. Als ich einen deutschen Freund anrufe, um mich zu beschweren, ist: „Willkommen in Berlin, Baby“ alles, was er zu sagen hat. „Uns ging es allen schon mal so“, meint er, was es nicht weniger nervig macht. Geldeintreiber, murmele ich, es ist überall das Gleiche.
Ich bin seit weniger als einem Jahr hier. Ich kannte niemanden, bevor ich nach Berlin gezogen bin. Ich dachte, das würde so am besten für mich funktionieren und das hat es auch. Ich habe viel über Berlin und die Deutschen gelesen, aber dann meistens die Warnungen ignoriert. Ich habe mich so viel vorbereitet wie es ging, bin dann einfach ins kalte Wasser gesprungen, und lebe seitdem einfach so in den Tag hinein. Es war eine radikale Kehrtwendung für mich, und mein jetziges Leben hat kaum noch etwas mit meinem alten gemeinsam. Deshalb ist es so schwer genau zu benennen, was es eigentlich ist, das mich an Berlin so glücklich macht.
Fortschritte in Zentimetern messen
Mein Berlin ist eine warmherzige Geschichte von improvisierten Abenden mit den tollsten Freunden. Davon, mit gleichgesinnten Fremden über Projekte und Träume zu sprechen; vom Stressen und manchmal Zweifeln; vom sich selbst zu motivieren, Deutsch zu lernen und davon, jegliche Fortschritte in Zentimetern zu messen, nicht in Metern; eine Geschichte darüber, zu tanzen, ohne sich zu schämen, ehrliche Gespräche zu führen und lange, nährende Umarmungen zu teilen; zu lieben, in seiner einfachsten Form und so viel Lachen; vom Schlafverlust; vom Mangel an Urteilsvermögen und ein Überfluss an Akzeptanz und Unterstützung. All dies wurde mit Fahrrädern, Musik und einer großen Portion Unberechenbarkeit möglich gemacht.Ich habe gelernt, Entsorgungsgüter neben öffentlichen Mülltonnen liegen zu lassen, um Sammler zu unterstützen. Einmal ließ ich eine Schüssel Spaghetti Bolognese für zwei Tage auf meinem Balkon stehen, weil es keinen Platz mehr in meinem kleinen Kühlschrank gab, und weil es draußen sowieso kälter war. Jetzt weiß ich, dass, wenn mir heiß ist, man nicht sagt „Ich bin heiß“. Ich bin fast nie ohne mein Fahrradwerkzeug und von Fastfood-Ketten gestohlenen Feuchtigkeitsstüchern unterwegs, da die Fahrradkette natürlich immer dann abspringt, wenn ich meine besten Sonntagsklamotten trage.
Es macht mich glücklich, dass Hunde hier neonfarbene Disco-Halsbänder tragen, und das nicht nur, weil ich sie auf meinem Nachhauseweg besser sehen kann. Ich freue mich auf sonntags, wenn meine Freunde und ich zusammen tanzen gehen und auch auf die faulen Sonntage, an denen wir zusammen kochen. Ich habe das beste Brot in Berlin probiert und ich arbeite mich ununterbrochen durch die große Käsesauswahl.
Ich habe gelernt, dass wenn man „Ja“ antwortet, obwohl man die Frage nicht wirklich verstanden hat, es zu einem ganzen Gebäude voller Päckchen führen kann. Du legst mich nur einmal rein, DHL-Mann.
Im Sommer treffen wir uns abends am Kanal mit Altbier oder Apfelschorle in der Hand. An Wochenenden nehmen wir den Zug zu einem See, oder radeln viele Kilometer zu vergessenen Orten. Ich fahre an der Karl-Marx-Allee entlang und denke über den sowjetischen Traum nach. An Mittwochabenden spiele ich stundenlang Beachvolleyball auf den innerstädtischen Plätzen, die einst der Todesstreifen waren. Ich habe versucht, die Nuancen der Geschichte dieser Stadt zu verstehen und ich höre mit gespitzten Ohren zu, was deutsche Freunde erzählen oder auch unausgesprochen lassen.
Mein Plan für den Winter umfaßt Dinner-Partys am Samstagabend und jede Menge Ingwertee, für einen gesunden Geist und Körper. Ich versuche regelmäßig Ausstellungen zu besuchen, wurde zu Blues-Abenden mitgenommen, und ich erzähle noch immer von der Aufführung „Marat/Sade“, die zu sehen, ich vor kurzem das Vergnügen hatte. Ich habe (viel zu) viele Projekte und glücklicherweise so einige schlaue Köpfe, deren Wissen ich entlocken kann.
Lady Berlin die Wegbereiterin?
Es ist nachlässig von mir nicht die Architektur hier zu erwähnen. Sie hat die Menschen zusammengebracht, die ich so liebe und mir die Möglichkeiten geschenkt, die mich so nähren. Lady Berlin die Wegbereiterin? Sie ist eben, groß und brutal. Ich finde sie beruhigend und besänftigend. Und - frag mich vielleicht nochmal in ein paar Monaten - aber ich denke, ihr steht selbst der nahende graue Winter sehr gut.Komme ich euch ein bisschen zu sehr wie Mary Poppins vor? „Oh, sie ist einfach neu und liebt noch alles“, denkt bestimmt so manch einer. Naja, ja und nein. Es gab schon gewisse Tage, an denen ich Berlin in diesem Jahr den Sieg überlies.
Aber nicht heute. Es ist ein weiterer Morgen im Paradies und ich benutze so ganz selbstzufrieden, meinen Strafzettel als Untersetzer für meinen Kaffee, jetzt zeig ich´s ihnen....