Gastbloggerin Helen
Der Blick zurück: Berlin in den 90er-Jahren
Seit ich an meiner australischen Highschool die ‚Beatles‘ in der Deutschstunde zum ersten Mal ‚Komm Gib Mir Deine Hand‘ singen hörte, wollte ich unbedingt in Berlin leben. Es wirkte so cool und künstlerisch, mit seiner Lage mitten in der ehemaligen DDR. Da ich einen Hamburger geheiratet hatte, durfte ich sogar arbeiten, als ich – etwas später als geplant – im Januar 1991 endlich dort eintraf.
Ich war vor dem Fall der Mauer nie in Berlin gewesen, und so erkundete ich in meinen Artikeln wissbegierig die Vergangenheit und die Verwandlung so vieler ikonischer Ost-Wahrzeichen und -Stätten in Kunstwerke. In den frühen 90er-Jahren schrieb ich einen Artikel über Berliner Bars im ehemaligen Osten, und da gab es Faszinierendes zu berichten.
Das Friseur, ein ehemaliger Friseursalon mit den konischen Trockenhauben der 50er-Jahre, wurde nicht nur als Bar betrieben, sondern fungierte auch als Kulturzentrum mit Filmvorführungen und Live-Vorstellungen. Aber die eigentliche Drehscheibe war die Oranienburger Straße, das zwischen Friedrichstraße und Alexanderplatz gelegene Zentrum des jüdischen Viertels von Berlin. Das prominenteste Gebäude der Straße war das baufällige alternative Kunstzentrum Tacheles, ein prunkvolles ehemaliges Kaufhaus, das vom sozialistischen Regime teilweise zerstört worden war. Von seinen jungen Bewohnern mit kreativem Graffiti versehen, bot es ein postapokalyptisches Café mit Metalltresen und -stühlen; des Nachts wurde es zu einem Veranstaltungsort mit Musik, Theater und Kino.
Der Trabi wird zur Faszination
Die Graffitikunst setzte sich auf der anderen Straßenseite in leerstehenden Gebäuden und kreativen Bars an der Auguststraße fort. Selbstverständlich gehört die Straße heute zu den trendigsten in ganz Berlin. Meine damalige Lieblingsbar, die Verkehrsberuhigte Ost-Zone, war auf Verkehrsmemorabilien spezialisiert. Das Highlight war ein Trabi, der aus der Wand zu kommen schien. Das defekte Auto war mit einem Pflanzenarrangement geschmückt; seine Sitze dienten als Mobiliar, und der Tresen wurde von einer alten Tanksäule geschmückt. Die riesige Uhr über der Bar hatte man der ostdeutschen Reichsbahn für einen Spottpreis abgekauft.Der Trabi wurde für mich zur Faszination – nicht zuletzt deshalb, weil er aus Kunststoff bestand und einen blechern klingenden Zweitaktmotor hatte. Er war zudem ein Wahrzeichen des ehemaligen Ostens, und damit des Underdogs. 1991 wurde der Film Go Trabi Go ein riesiger kommerzieller Erfolg und bekam sogar eine Fortsetzung, obwohl er nicht gerade ein Film für internationales Publikum war. Eine Zeitlang lebte ich mit Freunden in einem großen zweistöckigen Haus in einer ehemaligen Nordberliner Stasi-Enklave. Sie hatten nicht nur einen Trabi, sodass ich das blechern klingende Auto, die so genannte „überdachte Zündkerze“, aus erster Hand erleben konnte, sondern zudem eine Kohleheizung – ein weiteres (stinkendes) Novum.
Als ausgebildete Lehrerin war es mir möglich, im ehemaligen Osten an einer Schule an der Schönhauser Allee, der Hauptstraße des Prenzlauer Berg, Englisch auf Deutsch zu unterrichten. Meine Gabe, junge Menschen in den Bann zu ziehen, erwies sich als äußert nützlich, denn die Ostberliner Schülerinnen und Schüler, eine Mischung aus Teenagern und jungen Erwachsenen, legten kein übermäßiges Interesse an den Tag.
Damals war auch die Telekommunikation im Prenzlauer Berg so schlecht, dass ich grundsätzlich immer dann, wenn die vielreisenden Westberliner in Urlaub fuhren, im ehemaligen Westen lebte, wo ich über die Mitwohnzentrale (über die ich ebenfalls schrieb) günstige Wohnungen fand. Die Mieten waren sehr niedrig, und die Kosten für Ortsansässige reduzierten sich durch die Berlinzulage der Bundesregierung sogar noch weiter, die noch lange nach dem Fall der Mauer beibehalten wurde.
Es war spannend, von Ort zu Ort zu ziehen. Ich fing in Kreuzberg 36 in einem Studio am Schlesischen Tor an, das einst versteckt in einer isolierten Ecke direkt an der Mauer lag und heute interessanterweise eine alternative Gegend für Studierende und junge Menschen unter dreißig ist.
Charlottenburg: Zu viel Mittelklasse für meinen jugendlichen Geschmack
Mein kurzer Aufenthalt in Charlottenburg war eher langweilig und zu viel Mittelklasse für meinen jugendlichen Geschmack. Die Wohnung eines Freundes am Nollendorfplatz, wo ich zunächst gewohnt hatte, lag mir da schon eher. Später pflegte ich dann, egal, wo ich gerade wohnte, mit dem Fahrrad zum dortigen Copyshop zu fahren, um meine Artikel zu faxen, da es in Berlin nur sehr wenige Copyshops mit Faxservice gab. Wenn es mit einer Deadline eng wurde, wagte ich mich auch in die zwielichtige mitternächtliche Umgebung des Westberliner Hauptbahnhofs, wo bemerkenswerterweise nachts eine Postfiliale offen hatte.Statt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, nutzte ich das städtische Netzwerk an Fahrradwegen. Im ehemaligen Osten war es, als würde man durch ein Museum fahren, denn die Stadt konnte nicht mit dem Wiederaufbau beginnen, solange die Gebäude nicht ihren rechtmäßigen jüdischen Besitzerinnen und Besitzern zurückgegeben worden waren. In der Folge wurde die Stadt zu einer Art Baustelle, und es war Zeit zu gehen.
In meinen drei Jahren in Berlin schrieb ich außerdem über den Abriss der riesigen Leninstatue, der zwei Millionen D-Mark kostete. (Unglaublich aber wahr: Lenins 1,70 Meter großer Kopf wurde im Jahr 2015 für eine Ausstellung exhumiert.) Hässliche Ost-Monumente wurden schnell beseitigt, während manche Nazi-Bauten wie der Flughafen Tempelhof schön genug waren, um stehen bleiben zu dürfen.
Der Fernsehturm am Alexanderplatz, zwischen 1965 und 1969 als Symbol Berlins ebenso wie der kommunistischen Macht erbaut, steht ebenfalls noch. Mit seiner bräunlichen Ästhetik und den vergilbten weißen Spitzengardinen sieht er zwar ziemlich altbacken aus, aber als Anhängerin eines Zimmers mit Aussicht war ich von seinem Panorama-Drehrestaurant fasziniert. Anfangs war das Essen schauderhaft, aber die Qualität verbesserte sich mit der Zeit – ebenso wie die Drehgeschwindigkeit, sodass mir dann leicht schwindlig wurde.
Ich fing an, für ein englischsprachiges Wochenmagazin zu schreiben, das sich mit der lebendigen Kultur der Stadt, insbesondere dem Theater, befasste. Aufgrund der Doppelung an Veranstaltungsorten im Osten und Westen war die Auswahl gigantisch, auch wenn ich in der Regel zu eher avantgardistischen Veranstaltungsorten wie dem Hebbel-Theater neigte, wo ich Fassbinders Muse Hanna Schygulla in Robert Wilsons großartiger Version von Gertrude Steins Dr. Faustus Lights the Lights sah. Die Initiative der Bundesregierung, internationale Künstler wie Wilson oder die New Yorker Wooster Group zu finanzieren, zu der auch Willem Dafoe gehörte, machte sich bezahlt. Zu meiner Zeit herrschte eine gesunde Reziprozität zwischen Berlin und New York.
In einem meiner Artikel verglich ich damals die deutsche und französische Kulturförderung. Beide Länder steckten große Summen in die schönen Künste, aber während Frankreich die hohe Kultur förderte und stark in die Oper investierte, setzte Deutschland mit der Finanzierung von Straßenkünstlern und Ausländern eher an der Basis an. Das machte das Leben auf den Straßen aufregend. Alles konnte überall passieren. Und das tat es auch.